Freitag, November 7

Präsident Selenskis fünfjährige Amtszeit läuft ab, doch wegen des Krieges können keine Wahlen stattfinden. Die Ukraine hält dies in ihrer Notlage für ein geringes Problem – das könnte sich rächen.

Zu den Opfern des russischen Krieges gegen die Ukraine zählen nicht nur die vielen Toten, Verletzten, Flüchtlinge und traumatisierten Menschen. Schaden genommen hat auch das politische Leben, das im Krieg nur noch eingeschränkt funktionieren kann. Einen düsteren Markstein erreicht die Ukraine an diesem Sonntag, jenem Termin, an dem gemäss Verfassung eigentlich eine Präsidentenwahl stattfinden sollte. Weil im Land seit der russischen Invasion das Kriegsrecht herrscht, wurde die Wahl abgesagt – wie schon die Parlamentswahl vom letzten Oktober.

Der vorläufige Verzicht auf jeglichen Urnengang ist politisch breit abgestützt. Es ist keineswegs so, dass sich Präsident Wolodimir Selenski nach fünf Jahren im Amt mit unlauteren Mitteln an der Macht halten will. Auch die Opposition und viele Vertreter der Bürgergesellschaft sprechen sich für das Wahlmoratorium aus. Trotzdem ist es notwendig, die Gefahr einer Erosion der Demokratie nicht totzuschweigen und die offiziellen Begründungen kritisch zu beleuchten. Denn die Befürworter einer Wahlverschiebung hantieren zum Teil mit wenig stichhaltigen Argumenten und manchmal sogar Falschinformationen.

So behauptet die Regierung auf einer offiziellen Website, die Verfassung enthalte ein direktes Verbot jeglicher Wahl während des Kriegsrechts. In Wirklichkeit gibt es in der Verfassung keine derartige Bestimmung über die Präsidentenwahlen. Geregelt ist die Frage nur im Gesetz über das Kriegsrecht, doch dieses Gesetz liesse sich – anders als die Verfassung – auch zu Kriegszeiten abändern. Klar äussert sich die Verfassung nur zu den Vollmachten des Parlaments: Diese verlängern sich während des Ausnahmezustandes automatisch. Dabei handelt es sich um einen Schutzmechanismus gegen das Szenario, dass ein autoritärer Präsident das Kriegsrecht ausruft und das Parlament ausbootet. Daran, dass die Ukraine in einen jahrelangen Krieg geraten könnte, haben die Verfassungsgeber kaum gedacht.

Schwierig, aber nicht unmöglich

Die Absage der Wahlen ist somit rechtskonform, aber im Grunde steht die Ukraine weniger vor einer juristischen als einer politischen Frage. Liessen sich faire Wahlen in Zeiten des Krieges überhaupt organisieren? Die überwiegende Meinung geht dahin, dass dies eine unnötige Zusatzbelastung für das Land wäre. Tatsächlich stellen sich enorme praktische Herausforderungen. In den besetzten Gebieten – 18 Prozent des Landes – wären keine Wahlen möglich, zudem ist ein Fünftel der Bevölkerung ins Ausland geflüchtet. Hunderttausende von Soldaten befinden sich im Militärdienst, oft in Frontnähe.

Restlos zu überzeugen vermögen diese Bedenken nicht. Bereits seit 2014 sind Teile der Ukraine russisch besetzt, was bis 2022 kein Hinderungsgrund war, im übrigen Land Wahlen abzuhalten. Flüchtlingen und Militärangehörigen könnte die Stimmabgabe mit dem elektronischen oder brieflichen Weg erleichtert werden. Selbst die Gefahr, dass Russland Wahllokale angreifen könnte, sollte nicht übertrieben werden: Moskau fehlt es nicht an Zielen, darunter Einkaufszentren und belebte Plätze, um die Bevölkerung aus der Luft zu terrorisieren. Es gäbe zudem organisatorische Wege, Menschenansammlungen an den Urnen zu vermeiden.

Fast schon absurd ist die Behauptung, dass es keine Wahlen brauche, weil Selenski ohnehin siegen würde. Das Wesen der Demokratie besteht darin, das Volk sprechen zu lassen und eine Regierung so auf Jahre hinaus zu legitimieren. Nicht umsonst hält die Verfassung unzweideutig fest: «Die Willensäusserung des Volkes erfolgt mittels Wahlen.»

Das Kriegsrecht kann noch Jahre dauern

All dies soll weder die organisatorischen Hürden negieren noch die in der Ukraine verwurzelte demokratische Überzeugung in Zweifel ziehen. Dem Land droht kein Absturz in eine Diktatur. Wer die Schuld an der Wahlblockade trägt, ist ebenfalls klar: Es ist Russlands kriegslüsterner Quasi-Zar, der in seinem eigenen Staat eben erst eine peinliche Wahlfarce inszeniert hat. Aber selbst für ein leidgeprüftes Land wie die Ukraine lohnt es sich, über die Not der Stunde hinauszublicken. Der Krieg kann noch bis ins nächste Jahrzehnt andauern – soll die Bevölkerung wirklich auf unabsehbare Zeit ohne den Sauerstoff der Demokratie auskommen?

Früher oder später werden es die Ukrainerinnen und Ukrainer bereuen, dass sie sich den Weg zu einer Willenskundgebung für eine unnötig lange Zeit verbaut haben. Was geschähe beispielsweise, wenn Selenski ums Leben käme? Wenn er dereinst vor kontroversen Entscheidungen stünde, aber nur noch geringe Legitimität besässe? Wenn es gälte, einen Friedensvertrag dem Volk zur Abstimmung vorzulegen? Für all diese Szenarien gibt es unter dem Kriegsrecht keine befriedigende demokratische Lösung. Eine tiefe politische Krise wäre dann programmiert.

Organisatorische und gesetzgeberische Schritte, um mittelfristig wieder Wahlen durchführen zu können, sind daher kein Luxus. Das Ziel sollte nicht lauten, einen perfekten Urnengang zu organisieren, sondern einen leidlich fairen Rahmen zu schaffen. Die Vereinigten Staaten haben im 19. Jahrhundert mitten im Horror ihres Bürgerkrieges Wahlen abgehalten. Vorrangig war das Signal, die Demokratie hochzuhalten. Das gilt heute genauso – denn Demokratie ist keine Regierungsform bloss für Schönwetterlagen. Sie zeigt ihren Wert in Zeiten der Not erst recht.

Exit mobile version