Zwei Drittel der letzten Urwälder Europas liegen in Rumänien. Dort leben Bären, Wölfe, Luchse und bald auch wieder Bisons. Ein ambitioniertes Naturschutzprojekt soll dazu beitragen. Spoiler: Die Initiatoren setzen auf sanften Tourismus.
Gulasch und Obstbrand. So startet man keine Weitwanderung. Aber so beginnt unser Abenteuer in den Karpaten, wo wir uns irgendwann auf eine unerwartete Schatzsuche begeben. Das Schicksal (und unsere Reiseplanung) wollten es wohl so, dass ausgerechnet am ersten Tag der Wanderung über das Fagaras-Gebirge ein Gulasch-Festival stattfindet.
Schon in den frühen Morgenstunden wurden in Cobor die Feuer entfacht. Das Dorf schläft noch, die Sonne kämpft gegen den Hochnebel an, legt aber bereits einen gelben Schimmer auf Häuser, Höfe und Hunde.
In acht Kesseln schmoren Rindfleisch, Zwiebeln und Speck. Acht Teams wetteifern darum, wer bis zum Mittagessen das beste Gulasch in den südlichen Karpaten kocht.
Einige verwenden Paprika, die sie extra aus dem benachbarten Ungarn über die Grenze nach Rumänien geschafft haben. Andere fügen Fenchel oder Schwarzbier hinzu. Wieder andere behaupten, sie kochten «das Original», aber mit Liebe und Leidenschaft, das würde reichen.
Und irgendwann, als die Suppen mit all den geheimen und weniger geheimen Zutaten in den Kesseln vor sich hin blubbern, machen die ersten Flaschen Palinka, der rumänische Obstbrand, die Runde. Ein gutes Gulasch braucht Zeit, und während wir warten, leeren sich die Flaschen.
Wir testen am Mittag ein paar Probierportionen Gulasch (und ein paar Gläser Palinka). Das Gulasch mit Fenchel schmeckt am besten. Die Jury rund um einen rumänischen Fernsehkoch dreht noch ihre Runde, als wir mit vollen Bäuchen und leichten Köpfen unsere Rucksäcke schultern und uns von Cobor verabschieden. Ein letzter Blick auf die mittelalterliche Kirchenburg, bei der allein der Glockenturm dem Verfall trotzt.
Land der Extreme
Ehe wir uns versehen, sind wir inmitten einer Landschaft, die uns an das Hügelland der Hobbits aus «Herr der Ringe» erinnert. Weit entfernt liegen die nächsten grösseren Orte Sibiu und Fagaras. Weil wir uns von asphaltierten Strassen fernhalten, begegnen wir mehr Pferdefuhrwerken als Autos. Wir sind in Transsilvanien, einem Land der endlosen Wiesen und Wälder, und denken an Graf Dracula und blutrünstige Legenden. Andere nennen das Gebiet Siebenbürgen und denken an deutsche Siedler, die im 12. und 13. Jahrhundert in dieser Gegend eine Heimat fanden.
Es ist auf jeden Fall ein grosser Flecken Wildnis, und Rumänien ein Land der Extreme. Wenn es um wirtschaftliche Statistiken geht, liegt das Land EU-weit sehr oft an letzter Stelle. Wann immer aber Natur und Umwelt abgefragt werden, führt Rumänien die Ranglisten an. Die höchste Biodiversität, die höchste Population grosser europäischer Raubtiere. Die Karpaten überziehen das grösste Waldgebiet Europas. Zwei Drittel der verbliebenen Urwälder des Kontinents liegen in Rumänien.
Radu Micu hat sich tief hinuntergebeugt. Mit einer Hand fährt er die Konturen eines Abdrucks im feuchten Boden nach. «Ein Bär», sagt er. «Etwa drei Stunden her.» Kurze Pause, und dann: «Und hier noch eine Spur. Eine kleinere. Vermutlich eine Bärenmutter mit ihrem Jungen.»
Micu steht auf, geht entschlossen weiter. Nur die Flasche mit dem Bärenspray trägt er nun nicht mehr in seinem Rucksack, sondern vorn an einer Schnalle seines Gürtels.
Umarmung eines Bären
Zwei Guides begleiten uns auf dieser Wanderung. Radu Micu sieht aus wie ein Mann, der entweder Ski läuft, wandert oder surft, auf jeden Fall immer in Bewegung ist. Micu arbeitete dreizehn Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff. Er hat die Welt gesehen, zumindest eine Hälfte: Hawaii, Kuba, Panama und den Ozean darum herum. Dann entschloss er sich, mit seiner Familie in die Heimat zurückzukehren. Weil es dort am schönsten ist. Micu kennt Wege über die rumänischen Berge, die sonst nur die Tiere und die Hirten mit ihren Schafen begehen.
Der zweite Begleiter heisst Nico Cosdan, er ist kleiner und drahtiger als Radu Micu, und er lacht viel öfter. Als Junge umarmte er einmal einen wilden jungen Bären (er wusste nicht, was er tat, und würde es nie wieder tun). Später zog er ein Rehkitz und ein Wildschwein-Frischling mit der Flasche auf. Nico Cosdan weiss alles über Spechte, Wacholder, Hagebutten und Gottesanbeterinnen.
Die beiden Männer sind zuverlässige Wegweiser im Urwald. Und sie kochen die karpatenweit beste «Mountain-Pasta» aus allem, was sie in ihren Rucksäcken über die Berge schleppen. (Behaupten sie!)
Wo der Fuchs bei den Hühnern schläft
An einem Abend kochen die beiden nicht. Wir kehren im Dorf Sinca Noua in einem Gästehaus ein. Ein grosses Gebäude mit holzverkleideten Giebeln. Rundherum weiden Pferde oder stehen in Unterständen, die meisten von ihnen sind Shagya-Araber, Vollblüter. Ihre Vorfahren stammen aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.
Dieses Gehöft ist Gästehaus und Reitstall in einem. Auch ein bisschen Bauernhof – mit Schweinen, Kürbissen und Brombeeren. Eine Mitarbeiterin erzählt, sie habe nur ein paar Wochen zuvor eines Morgens einen Fuchs schlafend im Hühnerstall vorgefunden – und alle Tiere seien noch wohlauf. Eine wahre Geschichte. Sie hat ein Foto davon gemacht. So ein friedlicher Ort ist der Reiterhof in Sinca Noua.
Im rechten Flügel des Hauses wohnen Barbara und Christoph Promberger. Ihnen gehört der Hof. Und von ihnen stammt die Idee zum neuen Wanderweg.
Die Prombergers kamen Mitte der 1990er Jahre als Wolfsforscher in die Karpaten, untersuchten das Verhalten der Rudel, und als sie damit fertig waren, blieben sie in Rumänien.
Ambitioniertes Nationalparkprojekt
Im Jahr 2009 gründete das Paar die Stiftung Conservation Carpathia. Die Stiftung sammelt Spendengelder und kauft damit Wälder auf, um sie vor illegalem Holzeinschlag und Wilderei zu schützen. Bislang stehen mehr als 25 000 Hektaren unter Schutz. Irgendwann einmal sollen es mehr als 250 000 Hektaren sein – vom Tal des Olt-Flusses im Westen bis zur Gebirgskette Piatra Craiului im Osten.
In Europa gibt es mehr als 300 Nationalparks, aber weltweit berühmt ist keiner davon. Das möchten die Prombergers ändern. Ihr Schutzgebiet soll einmal Europas grösster Nationalpark werden, von Ansehen und Schönheit vergleichbar mit dem Yellowstone Park in den USA oder dem Krüger-Nationalpark in Südafrika. Ein ehrgeiziges Projekt, eines der ambitioniertesten europäischen Naturschutzprojekte.
Lange spielte Tourismus bei den Planungen der Stiftung keine grosse Rolle. Das ändert sich nun mehr und mehr. «Wir nehmen hochproduktive Wälder aus der Nutzung», sagt Barbara Promberger. Soll heissen: Die Bewohner der Karpaten können und sollen das Holz ihrer Wälder nicht mehr schlagen, kein Geld mehr damit verdienen. Und das heisst auch: Sie brauchen eine alternative Erwerbsquelle. «Der Tourismus ist nicht die einzige, aber eine logische Alternative», sagt die Stiftungsgründerin.
Die Prombergers planen einen sanften Tourismus, vor allem am Rand des Schutzgebietes, mit ausschliesslich geführten Touren. «Natürlich bedeutet Naturschutz, dass der lokalen Bevölkerung Restriktionen auferlegt werden», sagt Barbara Promberger. «Mit dem Tourismus bekommen die Menschen etwas zurück.»
Der neu geplante Wanderweg verbindet Seminarhäuser der Stiftung, Wildbeobachtungshütten und lokale Gasthäuser miteinander. 120 Kilometer verteilen sich auf sieben Etappen.
Wilde Tiere beobachten
Die Wildnis ist in den Karpaten nie weit entfernt. Ein paar Stunden sind wir bergauf gewandert, umgeben von Ebereschen, Bergulmen, Ahornen und Eiben. Bäumen, die in diesen Bergen schon seit Jahrtausenden ungestört wachsen. Radu Micu erzählt vom Saft der Birken, streichelt zwei Jahre alte Fichten («so gross wie mein kleiner Finger») und versucht 35 verschiedene Minzsorten aus dem Gedächtnis aufzuzählen.
Da taucht auf einer Hochgebirgswiese ein hölzerner Bau auf, lange ist nur das begrünte Dach zu sehen. Unscheinbar schmiegt sich die Wildbeobachtungshütte Comisu an den Hang. Drinnen fühlen wir uns dennoch wie in einem gedeckten Aussichtsturm. Durch das Panoramafenster blicken wir weit ins menschenleere Land hinein, von hier oben betrachtet, sehen die Wälder aus wie ein farbenfroher Flickenteppich.
Radu Micu macht ein Feuer im Ofen, bereitet die Pasta zu, und wir sitzen still auf Hockern, starren durch die Scheiben auf die Landschaft, die langsam von bunt zu grau zu schwarz wird.
Später lesen wir im Tagebuch der Hütte von zahlreichen Beobachtungen: «20. Mai, zwei Wildschweine geniessen den letzten Tagesschimmer.» «22. Mai, ein junger männlicher Bär wanderte genau vor die Hütte, stand auf seinen Hinterbeinen und verschwand wieder im Wald.» Noch ein Bär, ein wenig Rotwild, wieder ein Bär.
Wir sehen zwei Eichelhäher – sonst nichts. Dennoch blicken wir immer noch nach draussen, als die Nudeln längst aufgegessen sind. Kerzenschein taucht das Innere der Hütte in warmes Licht. Es fühlt sich zunehmend so an, als beobachteten wir nicht nur die Natur, sondern würden ein Teil von ihr.
Die rumänische Wildnis ist bedroht. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Wälder massiv abgeholzt. Jährlich verschwinden etwa 20 Millionen Kubikmeter Holz. Das ist mehr, als legal geschlagen wird. Der Kahlschlag frisst sich tiefer und tiefer hinein in den Urwald.
Sanfte Hügel und hochalpine Steilhänge
Am Morgen glimmt noch Glut im Ofen (weil Nico Cosdan während der Nacht wiederholt Holz nachgelegt hat). Und wir sehen das erste Tier. Eine Maus zappelt in der Lebendfalle. Wir lassen sie draussen frei. Dort ist die Welt über Nacht eingefroren. Stockstarr liegt das Gras auf den Wiesen am Boden, der Frost hat es zu Boden gedrückt. Die Berggipfel entlang unserer Route verstecken sich in dicken, schweren Wolken.
Radu Micu schaut skeptisch in ihre Richtung. Es ist windig, beim Aufstieg wird der Sturm noch zulegen. Wir entscheiden uns trotzdem zum Weitergehen. Schon bald schleudert uns der Sturm Eiskristalle in die Gesichter. Wir sinken in Schneewehen, das Trinkwasser gefriert in den Flaschen, wir flüchten für eine kurze Atempause in eine Nothütte nahe dem Gipfel Berevoescu Mare.
Die Karpaten haben zwei Gesichter. Eines mit sanften Hügeln, dichten Wäldern und Dörfern, die Vergangenheit atmen. Einsamkeit, gepaart mit Geborgenheit. Das andere Gesicht zeigt hochalpine An- und Abstiege, raue und abweisende Steilhänge. Einsamkeit und Erschöpfung.
In einem grossen Bogen zieht sich die mächtige Gebirgskette durch Europa – von Österreich bis in den Osten Serbiens. Im rumänischen Teil stapfen wir einen über 2300 Meter hohen Grat entlang, äusserlich nun auch gefroren, aber innen drin voller Eifer und Begeisterung.
Nico Cosdan breitet die Arme aus und brüllt gegen den Wind an. Weit und breit keine Menschen ausser uns.
Cosdan ist schon vor einiger Zeit aus seiner Stadtwohnung ausgezogen und hat sich einen Obstgarten und einen Bauwagen gekauft. Nach Jahren der Sinnsuche in Büros und Diskotheken weiss er, was er möchte: näher an die Natur heran. Pilze züchten und Beeren ernten. Vielleicht ist das auch etwas, was die Karpaten mit den Menschen machen. Sie behalten die Ehrfurcht vor der Natur. Oder entdecken sie wieder.
Die Tiere beobachten die Beobachter
Als wir an einem anderen Tag langsam aus der Höhe absteigen, verwandelt sich die Landschaft. Zunächst verschwinden die Wolken, dann der Schnee. Irgendwann hängen nur noch dünne Eisplatten zwischen den Grashalmen. Und dann ist es plötzlich ein strahlend schöner Spätsommertag. Nur die unwirklich wirkenden weissen Gipfel in der Ferne erinnern daran, wo wir herkamen.
Während wir über die Wiesen wandern, erzählen Radu Micu und Nico Cosdan von den Tieren und Pflanzen der Karpaten. Braunbären gibt es dort selbstverständlich, auch Wölfe, Gemsen, Wildschweine, Luchse. Bisons werden gerade wieder angesiedelt. Hier haben die kleinen, aber vor allem die grossen Tiere Europas noch genug Platz zum Leben.
Ich fühle mich inzwischen so wenig als Besucherin, dass ich fest damit rechne, hinter der nächsten Hügelkuppe eine Bärenmutter zu treffen, ein paar Bergziegen vielleicht oder einen streunenden Wolf. Ich freue mich darauf. Allein: Sie tauchen nicht auf.
Nico Cosdan dreht sich augenzwinkernd zu mir um. «Wir sehen die Tiere nicht. Aber sie sehen uns.» Bären, Luchse und Wölfe nehmen Menschen viel früher wahr als wir sie. Sie ziehen sich zurück, beobachten diejenigen, die eigentlich sie beobachten wollen. Wildnis bedeutet eben auch, dass die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Wir Wanderer sind zwar Teil der Natur, aber noch lange nicht Teil des wilden Lebens.
Am Scheideweg: Wildnis roden oder bewahren?
Als wir von einer Anhöhe in ein weiteres Tal schauen, sehen wir plötzlich Spuren der Verwüstung am Hang. Von weitem sieht es aus, als habe jemand ein riesiges Stück aus einem grünen Teppich geschnitten. Es ist ein sogenannter Kahlschlag. Eine illegale Baumrodung, der Hang ist braun statt grün.
Mehr als zehn Jahre alt ist dieser Kahlschlag. Radu Micu berichtet, über viele Monate seien jeden Tag fünfzig Lastwagen aus dem Wald gefahren, beladen mit Baumstämmen. Warum hat niemand etwas dagegen unternommen? Micu zuckt mit den Schultern. «Mafia. Es ist sehr einfach, dafür zu sorgen, dass bestimmte Stellen wegschauen. Man bezahlt sie.»
Auch dieser verwundete Teil der Karpaten gehört inzwischen der Stiftung Conservation Carpathia. Die hat mittlerweile 142 Hektaren gerodetes Land wieder aufgeforstet. Zunächst werden die tiefen Furchen, die die Fahrzeuge in den Boden gerissen haben, mit Erde und Kies aufgefüllt und befestigt, damit neue Pflanzen Halt finden können. Dann setzen Saisonarbeiter Ulmen, Bergahorne, Ebereschen und Eiben in den Boden. Es sind schmale, schwindsüchtige Setzlinge, die Jahrzehnte um ihr Überleben kämpfen werden. Die Wunden des Waldes heilen langsam.
Barbara Promberger hat bei unserem Besuch auf dem Pferdehof gesagt, dass es für Rumänien noch nicht zu spät sei. Noch sei genügend unberührter Urwald vorhanden. Andere Länder in Europa hätten ihre Wildnis vor langer Zeit verloren. Rumänien könne sich noch entscheiden, ob es wild bleiben möchte. «Das Land kann die grüne Lunge Europas sein. Es ist ein grüner Schatz.»
Fast alle Menschen (und das sind nicht viele), die wir auf dieser Wanderung treffen, sprechen von der Natur der Karpaten wie von einem legendären Schatz. Wie von einer Rarität, einer Kostbarkeit, die bislang nur von wenigen entdeckt wurde.
Die Stiftungsgründerin Promberger berichtete von uralten Buchen in dem Dorf Nucsoara und verglich sie mit «Juwelen». Ein Koch beim Gulasch-Festival blickte von seinem Kessel auf in Richtung der Hügel Siebenbürgens und sagte versonnen: «Sie leuchten golden.» Und der Wander-Guide Nico Cosdan sah in jedem durchsichtig scheinenden Pilz am Wegrand ein «Schmuckstück». In all den Worten funkelte und glitzerte die Freude über die Überfülle der Natur.
Am letzten Tag unserer Wanderung gehen wir durch ein Tal. Die Oberschenkel schmerzen von den Aufstiegen, noch stärker allerdings von den Abstiegen. Der Bach neben uns läuft viel schneller als wir. Felsen versperren den Blick in den Himmel. Nico Cosdan sagt: «Wusstet ihr, dass Eichhörnchen in Astgabeln Pilze zum Trocknen ablegen? Kleine, clevere Kerlchen.» Nun blicken wir genauer in alle Astgabeln. Vielleicht entdecken wir ihn ja auf unserer unerwarteten Suche. Den kleinen Schatz eines Eichhörnchens.
Karten und weiterführende Informationen: www.travelcarpathia.com