Dienstag, November 11

(Getty)

Moskau verliert bei seinen Sturmangriffen monatlich mehr als hundert Panzer. Doch selbst die Arsenale des Kremls sind nicht unendlich. Wann werden die Bestände knapp? Das ist eines der zentralen Rätsel in diesem Krieg.

Ein Monster aus Stahl, erlegt durch ukrainische Widerstandskämpfer: Als am 24. Februar 2022 das erste Bild eines zerstörten russischen Panzers auftauchte, war dies noch eine Sensation. Ausgebrannt und mit zerrissener Raupenkette lag das qualmende Wrack dieses T-80 am Rand einer Strasse bei Charkiw. Mehrere Meter davon entfernt steckte der Geschützturm im Boden – er war offensichtlich hoch in die Luft geschleudert worden, als die Munition an Bord explodierte und der Koloss zerbarst.

Auf den Panzer Nr. 1 vom ersten Tag der Invasion folgten täglich weitere: Die wohl umfassendste Zählung, jene der Analysegruppe Oryx, ist inzwischen bei 3079 zerstörten, beschädigten oder anderweitig verlorenen russischen Kampfpanzern angelangt. Diese gigantische Zahl entspricht mehr als dem Vierfachen aller Kampfpanzer, die Deutschland, Frankreich und Grossbritannien zusammen in ihren Arsenalen besitzen. Weil Oryx nur jene Zerstörungen zählt, die durch Fotos belegt sind, liegen die russischen Verluste in Wirklichkeit noch höher. Nicht zu vergessen sind auch die rund 6000 zerstörten oder beschädigten Schützenpanzer, die für Truppentransporte an die Front gebraucht werden.

Trotzdem schickt Moskau immer neue Panzerkolonnen in den Kampf – und ungezählte Soldaten in den Tod. Die Verluste haben in diesem Frühling sogar noch zugenommen. Laut der Rechercheplattform Warspotting, einer weiteren Gruppe, die zerstörtes Militärmaterial dokumentiert, hat Russland von März bis Mai 327 Kampfpanzer verloren und damit mehr als in jeder anderen Dreimonatsperiode seit dem Herbst 2022. Oft sind an der Zerstörung ukrainische Kampfdrohnen beteiligt. Das untenstehende Video zeigt verschiedene Vorfälle der letzten Tage, in denen russische Panzer in Flammen aufgingen.

Vom Schrottplatz an die Front

Kann das einfach so fortdauern, oder werden Russland die Panzer irgendwann ausgehen? Und wenn ja, wäre Moskau dadurch zu einem Waffenstillstand gezwungen? Für die Beurteilung des Kriegsverlaufs sind dies zentrale Fragen. An Indizien für einen zunehmenden Mangel in Russlands Arsenalen fehlt es nicht. So hat Moskau im vergangenen Jahr begonnen, rund 70-jährige Panzer der Typen T-54/55 aus Lagern zu holen und in der Ukraine einzusetzen. Diese Gefährte waren bereits zur Verschrottung vorgesehen. Nun finden sie dank ihren immer noch brauchbaren Panzerkanonen Verwendung als Ersatz-Artillerie.

Doch hauptsächlich kämpft Russland mit – teilweise modernisierten – Panzern der sowjetischen Typen T-72 und T-80. Die untenstehende Grafik zeigt, dass auf diese beiden «Panzerfamilien» fast 90 Prozent der identifizierbaren Verluste entfallen.

Russland hat in der Ukraine mehr als 3000 Panzer verloren

Zerstörte, beschädigte oder aufgegebene Panzer, deren Verlust durch Bildquellen bestätigt ist

Zu berechnen, wann die Panzer-Vorräte auf einen kritischen Stand fallen werden, ist von verschiedenen Annahmen abhängig und entsprechend schwierig. Das gilt generell für Kriegsprognosen, die sich auf mathematische Extrapolationen stützen. So hat sich der Zürcher ETH-Dozent und Militärökonom Marcus Keupp wiederholt mit falschen Prophezeiungen in die Nesseln gesetzt, etwa mit der Aussage, Russland werde den Krieg im Oktober 2023 militärisch verloren haben, oder im darauffolgenden Dezember mit der Prognose, dass Putin bis etwa Ende März 2024 seine restlichen Panzer einbüssen werde.

Solche Irrtümer entstehen, wenn wichtige Variablen ausgeblendet oder durch überoptimistische Annahmen ersetzt werden. So reicht es beispielsweise nicht, in der Berechnung einfach den mutmasslichen Panzerbestand bei Kriegsbeginn zu nehmen und davon die Verluste abzuziehen.

Die am häufigsten zitierte Zahl zu den Anfangsbeständen stammt vom International Institute for Strategic Studies (IISS), einem angesehenen britischen Think-Tank, der jährlich in seiner Publikation «Military Balance» die weltweiten Arsenale zu quantifizieren versucht. Laut dieser verfügte das russische Heer Anfang 2022 über 2927 Kampfpanzer. Stellt man dieser Zahl die von der Oryx-Gruppe erhobenen Verluste von fast 3100 Stück gegenüber, so wird deutlich, dass Russland bereits mehr als seine gesamte ursprüngliche Panzerstreitmacht verloren hat.

Am Vorabend des Krieges hätte dies kaum jemand zu wagen gehofft, das unterstreicht die enorme militärische Leistung der Ukrainer. Doch Russland hat die Verluste zum grossen Teil ausgleichen können. Dies geschah, indem Moskau die Produktion ankurbelte und Panzer aus Lagerbeständen holte. Die Staatsmedien zeigen regelmässig Bilder aus Werkhallen, wo angeblich auf Hochtouren und mit Zusatzschichten rund um die Uhr gearbeitet wird.

Der inzwischen entlassene Verteidigungsminister Sergei Schoigu verkündete im Februar, dass Russlands Industrie die Panzerfabrikation versechsfacht habe. Auch westliche Experten gehen davon aus, dass den Streitkräften allein im vergangenen Jahr bis zu 1500 Kampfpanzer geliefert wurden. Doch diese Zahlen täuschen: Nur die wenigsten davon sind neu produzierte Panzer. Bei der grossen Mehrheit handelt es sich um alte Panzer, die nach dem Ende des Kalten Krieges eingemottet wurden und nun gewisse Modernisierungen erhalten, oft aber auch nur minimale Reparaturen.

Debakel mit dem «Wunderpanzer»

Die gewaltigen Wachstumsraten können nicht über die Krise der russischen Panzerfabrikation hinwegtäuschen. Tief blicken lässt die Geschichte des modernsten Panzers, des T-14 Armata, den Moskau einst als revolutionäres Kriegsgerät angepriesen hatte. Nach 14 Jahren Entwicklung leidet der vermeintliche Wunderpanzer noch immer an diversen Kinderkrankheiten. An eine Serienproduktion ist offenbar nicht zu denken. Dabei hätte die Armee nach ursprünglicher Planung bereits bis 2020 weitgehend auf den T-14 wechseln sollen. Der verantwortliche Rüstungskonzern Rostec rechnet nicht mehr damit, dass dieses Fahrzeug in der Ukraine je zum Kampfeinsatz kommen wird.

Hergestellt werden deshalb hauptsächlich die technologisch älteren T-90M, allerdings nur in geringen Mengen von höchstens 80 Stück pro Jahr. Ein westlicher Militärvertreter schätzt, dass Russland gesamthaft pro Jahr nur 200 neue Panzer herstellt – eine Verdoppelung gegenüber der Vorkriegszeit, aber nichts im Vergleich mit den Verlusten an der Front.

Zentral ist deshalb die Frage, wie viele alte Panzer Russland noch eingelagert hat und wie viele davon es instand setzen kann. Das IISS und ukrainische Experten gingen bei Kriegsbeginn von rund 10 000 Panzern der Typen T-72 und T-80 aus sowie weiteren 7000 der völlig veralteten Typen T-54 bis T-64. Die meisten von ihnen stehen unter freiem Himmel in acht grossen Lagern, sogenannten «Zentralbasen der Panzerreserve», mehrheitlich hinter dem Ural. Mit der Einlagerung erfüllte Russland nach dem Untergang der Sowjetunion seine Abrüstungsverpflichtungen, die strenge Obergrenzen für Kriegsgerät in Europa vorsahen.

Fotos aus sozialen Netzwerken geben eine Vorstellung von diesen Orten, beispielsweise die untenstehende Aufnahme aus einem Lager in Sibirien. Dicht an dicht stehen die Panzer in langen Reihen und sind dabei völlig der Witterung ausgesetzt. Nur für die wenigsten gibt es Garagen.

Die ungeschützte Lagerung hat für ausländische Rechercheure den Vorteil, dass man Veränderungen mittels Satellitenbildern entdecken kann. Ein Beispiel dafür ist das weitläufige Lager Toptschicha in der sibirischen Region Altai. Dort ist auf Bildern aus dem Spätwinter eine deutliche Abnahme der Bestände gegenüber der Vorkriegszeit erkennbar. Allein auf dem in der untenstehenden Satellitenaufnahme gezeigten Areal verschwanden gut 70 Panzer. Mittels Verschiebung des Bildreglers ist ein Vergleich zum Stand von 2021 möglich.

Panzer aus dem Lager Toptschicha entfernt

Dieselbe Entwicklung lässt sich in anderen Lagern in Sibirien feststellen, beispielsweise jenem in Ulan-Ude nahe der Mongolei. Dort sind aus einem Areal bis Mai 2023 rund 130 Panzer verschwunden:

Schrumpfende Bestände im Lager Ulan-Ude

Die Auszählung der Panzerbestände ist aufwendig und wegen des Mangels an hochauflösenden Satellitenbildern nicht immer aktuell möglich. Die derzeit umfassendste Untersuchung stammt von der ukrainischen Analysegruppe Wiskowi Wischtschun. Sie kam im April zu dem Schluss, dass in russischen Lagern und vor Reparaturwerkstätten noch rund 4500 brauchbare Panzer stehen. Nicht berücksichtigt wurden bei der Zählung offensichtlich kaputte Fahrzeuge. Die Reserven seien Anfang 2022 noch um rund 2400 Stück grösser gewesen. Das deckt sich mit der Erkenntnis des IISS und anderer Experten, wonach Russland jährlich etwa 1200 Panzer aus Lagerbeständen reaktiviert.

Zunehmende Engpässe ab 2026

Was heisst dies nun für die Zukunft der russischen Panzerstreitkräfte? Vorläufig kann Moskau die horrenden Verluste ausgleichen. Zugleich ist jedoch klar, dass die Vorräte begrenzt sind: 4500 modernisierbare und reparierbare Panzer sind zwar mehr, als in den Armeen ganz Westeuropas im Einsatz stehen. Aber solange pro Tag weiterhin drei bis vier russische Panzer in der Ukraine zerstört werden, reicht dies nicht in alle Ewigkeit.

Die untenstehende Grafik zeigt, dass Russlands Verluste in den vergangenen Monaten tendenziell zugenommen haben:

Russland verliert mehr als 100 Panzer pro Monat

Die Auswertung der Verluste nach Panzertypen macht zudem deutlich, dass Russland nun auch auf ältere Modelle wie die aufgefrischten T-62 setzen muss. Damit geht ein Verlust an Qualität einher, den die reinen Zahlen nicht zum Ausdruck bringen. Diese rund 60 Jahre alten Panzer erhalten zwar einige Verbesserungen, darunter zusätzliche Reaktivpanzerung, Schutzgitter gegen Drohnen und ein etwas neueres Zielfernrohr. Aber technologisch bleibt es völlig veraltetes Kriegsgerät.

Wann dem Kreml die Panzer ausgehen, bleibt auch so eine knifflige Rechnung. Die 4500 gelagerten und die laut Experten schätzungsweise noch 2000 aktiven Panzer ergeben eine Gesamtmenge von 6500 Stück. Im letzten Halbjahr verlor Russland nachweislich 620 Panzer, unter Annahme einer Dunkelziffer wohl eher 650 Stück. Die vorrätigen Panzer würden somit noch fünf Jahre reichen.

Das wäre aus ukrainischer Sicht ein niederschmetternder Befund, aber er lässt eines ausser acht: Der Kreml wird nicht zusehen, wie er alle seine Panzer verliert und sein Heer zu einem Papiertiger verkommt. Er wird schon lange vorher gegensteuern müssen.

Ein kritischer Punkt dürfte erreicht sein, wenn die Gesamtzahl der verfügbaren Panzer unter den Vorkriegsstand von rund 3000 Panzern fällt. Das wäre in 2,7 Jahren der Fall. Lässt man die 800 veralteten Sowjetpanzer aus den fünfziger und sechziger Jahren beiseite, bleibt noch ein Zeitraum von 2,1 Jahren, gerechnet ab März. In dieser Spanne würde Russland zwar nochmals etwa 420 Panzer neu produzieren, aber im Sommer 2026 wäre unter diesen Annahmen der kritische Punkt erreicht. Schon vorher könnte der Vorrat an Schützenpanzern und anderen Gefechtsfahrzeugen zur Neige gehen.

Das russische Verteidigungsministerium dürfte ähnliche Szenarien wälzen. Nichts deutet darauf hin, dass die Rüstungsindustrie in so kurzer Zeit ihre Kapazitäten vervielfachen könnte. Die errechnete Zeitspanne stiege, wenn China mit der Lieferung von Panzern an Moskau begänne. Umgekehrt könnte sie unter zwei Jahre sinken, falls die Ukraine aus dem Westen mehr Artilleriegranaten oder Panzerminen erhielte. Wahrscheinlich ist ferner, dass die von Russland aufgefrischten Panzer von zunehmend schlechter Qualität sein werden. Denn zweifellos hat Moskau die besterhaltenen Stücke zuerst aus den Lagern geholt.

Folgen für den weiteren Kriegsverlauf

Welche Strategien wird der russische Generalstab dem Kreml empfehlen, im Wissen darum, dass voraussichtlich schon im übernächsten Jahr die Panzerbestände auf ein kritisches Mass schrumpfen? Darüber lässt sich nur spekulieren. Klar ist jedoch, dass vor diesem Hintergrund die angeblich geplante Grossoffensive zusätzliche Risiken birgt: Die russischen Verluste würden dabei unweigerlich in die Höhe schnellen.

Umgekehrt könnten die Generäle zu einer verringerten Intensität des Krieges raten. Damit liessen sich Panzer einsparen und der kritische Moment hinauszögern. Gut denkbar ist aber auch, dass Moskau weiter auf Angriff setzt und seine Soldaten zunehmend ohne Schutz von Panzerfahrzeugen an die Front schickt. Bilder von Infanteristen auf Fussmärschen oder von Stosstrupps auf Motorrädern deuten in diese Richtung. Hohe Opferzahlen sind damit allerdings programmiert und starke Frontverschiebungen nicht zu erwarten.

Der amerikanische Militärexperte Michael Kofman vertritt denn auch die Ansicht, dass nicht ein Mangel an Munition oder Personal dem russischen Militär Grenzen setzen wird, sondern vor allem das fehlende Kriegsgerät. Das gilt besonders für Kampfpanzer. Sie sind schon oft zu einer überholten Kriegstechnologie erklärt worden, zu Dinosauriern in einer sich rasch wandelnden militärischen Umwelt. Aber für Grossoffensiven am Boden bleiben sie unerlässlich. Russland scheint daher auf einem Kurs, sein Angriffspotenzial einzubüssen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Ukraine genügend Abwehrwaffen hat, um dem Gegner auch künftig hohe Verluste zuzufügen.

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