Die Stadt St. Gallen hat kein Geld, kein Prestige und keine Perspektiven. Ein Krisengespräch mit dem Bankier und Ur-Sankt-Galler Konrad Hummler.
St. Gallen verliert eine Institution: Die Helvetia, gegründet im Jahr 1858, älter als die HSG und die Olma, fusioniert mit der Baloise – und wird künftig von Basel aus gesteuert. Das «St. Galler Tagblatt» sprach die Ostschweizer Urangst aus: «Sind wir bald nur noch Zürichs Hinterhof?»
Der Abschied der Helvetia steht am Ende einer ganzen Reihe von Rückschlägen, Verlusten und schlechten Nachrichten, die St. Gallen in den vergangenen zwölf Monaten hinnehmen musste. Eine Übersicht:
Die Immobilienfirma Wüst & Partner veröffentlicht Zahlen zum Wohnungsmarkt in den zehn grössten Schweizer Städten. Das Fazit: In keiner Stadt sind die Mieten so tief wie in St. Gallen. Sogar Biel ist mittlerweile teurer. Der internationale Reitsportverband streicht den St. Galler CSIO aus dem Programm, St. Gallen verliert den Nationenpreis an St-Tropez. Die Universität Zürich stoppt den gemeinsamen Medizin-Lehrgang mit der HSG, die Zürcher sahen keinen Sinn mehr in der Zusammenarbeit mit den Ostschweizern. Für die Olma wird die Luft immer dünner. In der Kasse fehlen Millionen, das Unternehmen muss Stellen streichen. Und die Stadt vermeldet wieder einmal ein Millionendefizit.
Sind das Zufälle? Oder haben diese Dinge miteinander zu tun? Und wenn ja, was? In St. Gallen kann man mit vielen Leuten über die Probleme der Stadt reden. Oder man kann mit Konrad Hummler reden.
Hummler ist ein personifiziertes St. Galler Paradox. Ein weltläufiger Lokalpatriot, ein Ur-Sankt-Galler, der die Stadt mehrfach verlassen hat. Ein global agierender Bankier, der in St. Gallen seine grössten Erfolge und seine brutalsten Niederlagen erlebte. Hummler, 72, kennt die Stadt, und sie kennt ihn.
Ein Gespräch über die Stadt also. Über Blockaden und Missverständnisse, über gegenwärtige Versäumnisse und historische Fehler. Hummler sagt: «In St. Gallen herrscht eine Stimmung des Mittelmasses. Es gibt keine Dynamik, keine Begeisterung. Man ist sich selbst genug. Das färbt ab. Das Interesse an St. Gallen sinkt.»
Hummler ist mitten in der Stadt aufgewachsen, zwischen dem kleingewerblichen Linsenbühlquartier und dem Kantonsspital. Sein Vater ist in den 1960er und 1970er Jahren freisinniger Stadtpräsident und Nationalrat. Die Stadt zehrt noch von ihrem Selbstverständnis als Stickereimetropole. Dem Sohn Konrad ist St. Gallen zu klein. Er geht nicht an die HSG, sondern nach Zürich, nach New York.
Zurück in der Heimat, sucht er nach Grösse, wie es in St. Gallen nicht üblich ist. Er übernimmt zusammen mit einem weiteren Teilhaber die kleine, traditionsreiche Privatbank Wegelin. Die Bank wächst von 25 auf 700 Mitarbeiter und wird zu einer der grössten Arbeitgeberinnen der Stadt. Hummler wird Präsident der Industrie- und Handelskammer, Bankrat der Nationalbank, Publizist, ein Wirtschaftsliberaler mit Sendungsbewusstsein.
Fluchtpunkt der Unentschlossenheit
Seither ist viel Zeit vergangen. Die Bank Wegelin existiert nicht mehr, Hummler musste sie 2012 über Nacht verkaufen, weil ihm im Steuerstreit mit den USA eine Anklage drohte. Seinen Wohnsitz hat er nach Teufen verlegt, eine Nachbargemeinde am südlichen Stadtrand. Dort sind die Berge näher und die Steuern tiefer.
Für seine neue Firma, über die er seine diversen Mandate verwaltet, hat er ein Haus aus dem Wegelin-Bestand im Museumsquartier erworben. Von dort sind es nur wenige Schritte zum Marktplatz, dem Fluchtpunkt der St. Galler Unentschlossenheit. Könnte Hummler in der Stadt etwas ändern, der Marktplatz käme an erster Stelle. «Dieser Platz ist ein Symbol. Hier müsste sich die Stadt neu erfinden.»
Seit einer halben Generation wird über die Neugestaltung dieses Platzes gestritten, schon zwei Anläufe sind an der Urne gescheitert. Im Februar hat die Stadt die neusten Pläne aufgelegt, über zwei Dutzend Einsprachen gingen ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich hier bald etwas ändert, bleibt gering.
Der Marktplatz ist nicht das einzige Projekt in St. Gallen, das seit Jahrzehnten blockiert ist. Seit über 20 Jahren laboriert die Stadt zusammen mit dem Kanton an einer neuen Bibliothek. Dieses Jahr soll die überarbeitete Vorlage verabschiedet werden, 2026 soll das Volk entscheiden.
Aus Hummlers Sicht ist die Bibliothek eine von vielen verpassten Chancen. «Wenn es eine Stadt gibt für eine Superbibliothek, dann St. Gallen!» Mit der Stiftsbibliothek, der Kantonsbibliothek, der Stadtbibliothek und der Universitätsbibliothek gebe es in der Stadt einen eigentlichen Cluster an hervorragenden Bibliotheken. Es läge auf der Hand, hier etwas Gemeinsames zu planen.
Hummler würde sogar noch weiter gehen. «Wieso nicht eine vernetzte Kulturinstitution, eine Art Kulturcampus mit Bibliotheken, Museen, Theater und mehr? Die Stadt hat hervorragende Institutionen. Aber sie merkt es zum Teil selbst nicht.»
Hummler hätte auch einen Ort dafür. Das ehemalige Kloster St. Katharinen, ein paar Schritte neben dem Marktplatz, würde sich dafür eignen. «Die Hälfte gehört ja eh schon der Stadt. Und die andere Hälfte könnte sie kostengünstig erwerben.» Es wäre jener Teil des Komplexes, den die Bank Wegelin kurz vor ihrem Untergang aufwendig renoviert hat.
Ein ähnliches Schicksal wie der Marktplatz und die Bibliothek teilt das sanierungsbedürftige Kunstmuseum. Seit 13 Jahren liegen die Pläne vor, zweimal wurde das Projekt schon verschoben. Jetzt ist der Baustart für 2028 angekündigt – frühestens.
Oder der Neubau für die Universität am Platztor: Seit der Jahrtausendwende gibt es Pläne, auf dem Areal in der Innenstadt Platz für die notorisch überbelegte HSG zu schaffen. Doch es wurde 2019, bis das Stimmvolk einen Baukredit über 160 Millionen Franken bewilligte. 2023 kam es zum Eklat, der Kanton stoppte das Projekt wegen eklatanter Mängel. Bis auf dem Areal die Bagger auffahren, dürften noch Jahre vergehen.
Woran liegt das? Was macht die Stadt falsch? Macht sie überhaupt etwas falsch? Als Wüst & Partner im Februar die Immobilienstudie veröffentlichte, befragte die «NZZ am Sonntag» mehrere Experten. Alle kamen zu ähnlichen Schlüssen: Die Stadt ist zu wenig dynamisch, das Steuerniveau zu hoch, die Distanz zum Wirtschaftszentrum Zürich zu gross. In der Kurzformel: St. Gallen ist zu wenig attraktiv.
Die magische Marke
«Die Stadt leidet unter Selbstzufriedenheit, Risikoaversion und Provinzialität», sagt Hummler. «Man hat Angst vor den grossen Würfen. Man stellt die grossen strategischen Fragen nicht. Und man zeigt ein ausgeprägtes Desinteresse an den eigenen Institutionen.» Die HSG zum Beispiel: Die St. Galler hätten schon immer mit ihrer grössten und erfolgreichsten Bildungseinrichtung gefremdelt. «Es gibt in der Stadt eine Imprägnierung gegen das Ausserordentliche.»
St. Gallen war einmal eine bedeutende Stadt. Die erste Telegrafenleitung der Schweiz wurde 1852 von St. Gallen nach Zürich gebaut. Vor dem Ersten Weltkrieg kam die Hälfte der weltweiten Stickereiproduktion aus St. Gallen. Man erzählte sich die Legende vom Direktzug von St. Gallen nach Paris.
St. Gallen war damals eine der grössten Schweizer Städte, knapp hinter Bern, vor Lausanne, Winterthur, Luzern, Lugano. Heute liegt St. Gallen nur noch vor Lugano. Ende der 1970er Jahre ist im städtischen Leitbild von einem Ziel von 90 000 Einwohnern die Rede. Erreicht wurde diese Zahl nie.
Manchmal scheint das selbst der Stadt peinlich zu werden. Dann versucht sie, das fehlende Wachstum mit leicht frisierten Erfolgsmeldungen zu kaschieren. 2020 meldete sie, dass man erstmals die Schwelle von 80 000 Einwohnern überschritten habe. «St. Gallen erreicht die magische Marke», titelte das «St. Galler Tagblatt» aufgeregt. Die Frohbotschaft entpuppte sich als Selbstbeschwichtigung: Das städtische Statistikamt hatte die nichtständige Wohnbevölkerung dazugerechnet.
«Die Hochblüte der Stickereiindustrie war Höhe- und gleichzeitig abrupter Endpunkt einer jahrhundertealten Textilgeschichte von europäischer Bedeutung», sagt Hummler. Danach habe sich St. Gallen daran gewöhnt, dass es auch ohne diese Exzellenz irgendwie ging. «Die Stadt wurde zu einem Regionalzentrum mit begrenzter Strahlkraft, dazu noch eines im Osten. Während des Kalten Kriegs hat sich die ganze Welt nach Westen orientiert. Was im Osten lag, war von vornherein suspekt.»
Das Misstrauen ist mittlerweile in Desinteresse umgeschlagen und beginnt schon wenige Kilometer hinter der Kantonsgrenze. Zweimal lehnte der Thurgau die Beteiligung an einem Ostschweizer Metropolitanraum unter St. Galler Führung ab. «Wir sind unbestritten nach Zürich ausgerichtet», beschied man den konsternierten St. Gallern. Es war ein Schlag für das Selbstverständnis der Stadt: Sogar in der Region ist man nicht mehr wichtig.
Auf der Suche nach Einsamkeit
«St. Gallens Probleme haben mit der Stadtgründung angefangen», sagt Hummler. «Gallus ist nicht zufällig in dieser Wildnis geblieben. Er suchte die Abgeschiedenheit.» Dass der irische Mönch ausgerechnet in diesem abgelegenen Hochtal sein Lager aufgeschlagen habe, sei für die Stadtentwicklung kein Vorteil gewesen.
Wenn Gallus das Schicksal der Stadt vorgespurt hat, hat es Napoleon noch verschlimmert. Aus den Restposten der alten Eidgenossenschaft formte er den Kanton St. Gallen, ein ringförmiges Gebilde ohne Zentrum. Hummler sagt: «St. Gallen konnte sich wegen der Randlage gar nie richtig entfalten. Es gibt in diesem Kanton keine Hauptstadtidee. Ein Werdenberger oder ein Gasterländer interessiert sich nicht für St. Gallen.»
Das zeigt sich immer wieder in konkreten politischen Entscheiden. Als es etwa um den Standort des Rektorats für die neue Fachhochschule Ost ging, entschied sich die Regierung für Rapperswil statt für St. Gallen. Aus regionalpolitischen Gründen, wie es damals hiess.
In zwei Wochen, am 18. Mai, könnte es die Stadt wieder zu spüren bekommen, dass sie in ihrem Kanton nicht richtig akzeptiert ist. Dann stimmt das Volk über einen «Sonderlastenausgleich» für die Stadt ab. St. Gallen soll jährlich zusätzlich 12 Millionen Franken für Infrastruktur, Verkehr, Sicherheit, Kultur und Sport erhalten. Die SVP hat dagegen das Referendum ergriffen. Die Partei hat, abgesehen von der Stadt, in sämtlichen Gemeinden im Kanton die Mehrheit.
Scheitert die Vorlage an der Urne, ist das auch eine postume Niederlage für Hummlers Vater. Alfred Hummler hatte sich mit Vehemenz für eine Reduktion der Zentrumslasten der Stadt eingesetzt. Der Kanton sei, schrieb er kurz nach seinem Rücktritt 1980, «auf eine attraktive Hauptstadt angewiesen, wenn er seine wirtschaftliche, kulturelle und politische Bedeutung innerhalb der Eidgenossenschaft halten oder noch ausbauen will». Heute müsste er wohl schreiben: «. . . oder nicht ganz verlieren will».
Bürgergeld und Erdbeben
Phasen des Aufbruchs gab es durchaus. Nach der Finanzkrise von 2008 verzeichnete die Stadt einen unerwartet hohen Gewinn von 30 Millionen Franken. Die Stadt verteilte «Bürgergeld» in Form von 50-Franken-Gutscheinen, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln. Die Aktion brachte die Stadt schweizweit ins Gespräch, die Initianten wollten das Modell auf die Überschüsse der Nationalbank ausweiten.
Viel Anerkennung genoss die Stadt auch mit dem Geothermie-Projekt zu Beginn der 2010er Jahre, dem grössten seiner Art in der Schweiz. Doch nach einem überragenden Erfolg an der Urne und vielversprechenden Vorarbeiten bebte in der Stadt die Erde. Die Angst vor einem finanziellen und geologischen Desaster stieg, 2014 stoppte die Stadt das Projekt.
«Stellen wir uns vor, St. Gallen hätte nach dem Ende der Geothermie weitergemacht, wäre in den Jahren danach zu einer selbstbewussten Stadt, einer kleinen Metropole geworden, die immer wieder mit guten Ideen und überraschenden Projekten aufwartet», schrieb damals das Ostschweizer Kulturmagazin «Saiten». Hätte, wäre: die Möglichkeitsform als St. Galler Dauerzustand.
Konrad Hummler sagt: «Wir sind hier in der Peripherie. Wir müssen doppelt so schnell rennen wie die anderen. Und wir müssen aufhören, uns mit dem Mittelmass zufriedenzugeben.» Das hiesse: Abschied nehmen vom Geist Gallus’, von der Selbstgenügsamkeit. Aber wo anfangen? «Am besten am Marktplatz, bei St. Katharinen.»