Montag, November 18

In dieser Folge unserer mehrteiligen Serie erklärt Dr. med. Adrian-Minh Schumacher, Neuroimmunologe und Forscher am Universitätsspital Amsterdam, wann Müdigkeit chronisch wird – und was wir alle aus den Strategien gegen die Fatigue lernen können.

Sie hat einen schlechten Ruf, die Müdigkeit. Dabei sei sie etwas ganz Normales, macht Adrian-Minh Schumacher gleich zu Beginn unseres Gesprächs klar, «und eigentlich auch etwas Gutes». Denn, so fährt der Neuroimmunologe fort, der nach der Corona-Pandemie in der Fatigue-Ambulanz des Universitätsspitals Zürich (USZ) arbeitete: «Müdigkeit an sich dient dazu, dass unser Körper uns signalisiert, dass wir uns etwa für den Tag genug angestrengt haben. Wir haben gearbeitet oder Sport gemacht und müssen abends den Punkt finden, um zur Regeneration ins Bett zu gehen.»

Doch es gibt Fälle, bei denen dieser physiologische Vorgang nicht mehr richtig funktioniert. Chronisches Müdigkeits- oder Fatigue-Syndrom (CFS) nennt man diese Erkrankung, die als Folge der Pandemie zunehmend Aufmerksamkeit erfährt. Dass Müdigkeit schwierig zu definieren ist und noch keine Biomarker – also messbare biologische Kennzeichen, etwa im Hirn oder im Blut – für die Erkennung ihrer Chronifizierung bekannt sind, erschwert die Diagnose und vor allem die Behandlung. Denn müde: Sind wir das nicht alle ständig?

Zur Person:

Dr. med. Adrian-Minh Schumacher

Adrian-Minh Schumacher ist Neuroimmunologe und postdoktoraler Forschungsstipendiat am Universitätsspital Amsterdam, wo er derzeit zu Biomarkern forscht, unter anderem für Fatigue. Bis Ende 2023 behandelte er in der Fatigue-Ambulanz des Universitätsspitals Zürich Patientinnen und Patienten mit Müdigkeitssymptomen.

Unverhältnismässige Erschöpfung

Chronische Müdigkeit geht aber über eine gewöhnliche Müdigkeit hinaus, obwohl auch sie auf einem Spektrum stattfindet. Schumacher nennt drei Hauptkriterien für die Diagnose eines chronischen Fatigue-Syndroms: ein nicht erholsamer Schlaf, eine signifikante Reduktion der alltäglichen Aktivitäten aufgrund der Müdigkeit und eine Belastungsintoleranz. Letztere sei das wichtigste und spezifischste Kriterium und beschreibe eine extreme Erschöpfungsperiode, die nach einer eigentlich gar nicht so anstrengenden Tätigkeit wie etwa einem Spaziergang im Wald eintrete. «Das ist ein grippeartiges Gefühl über mehrere Tage», erklärt Schumacher, «manche beschreiben es als Mischung aus Jetlag und Kater. Häufig ist es auch von Bettlägerigkeit begleitet.»

Ein chronisches Fatigue-Syndrom kann nach Infektionskrankheiten wie einer Grippe, Epstein-Barr oder eben Covid-19 eintreten. Doch auch schwerwiegende Unfälle oder Operationen können es auslösen. Ebenso das, was die wissenschaftliche Literatur «major life events» nennt: starke Veränderungen im persönlichen Leben, etwa der Verlust einer nahestehenden Person. Weil aber gerade auch mentale Erkrankungen wie Depressionen starke Müdigkeit auslösen könnten, sei es wichtig, diese Möglichkeiten zuerst abzuklären und gegebenenfalls zu therapieren, so Schumacher. Oder: Könnte es Eisenmangel sein? Eine Schlafstörung? All das gelte es zuerst in Betracht zu ziehen.

Längere Ruheperioden nach Erkrankungen

Denn: Für das chronische Fatigue-Syndrom gibt es derzeit keine evidenzbasierte medikamentöse Therapie. Manche Strategien, die Betroffenen helfen können, lassen sich aber auch im eigenen Alltag und bei nicht chronischer Müdigkeit anwenden. Gute Erfahrungen mache man vor allem mit dem Pacing, sagt Schumacher. Das ist das Energiemanagement, das von Ergotherapeutinnen und -therapeuten vermittelt wird: «Hier geht es darum, mit seinem Energiehaushalt so umzugehen, dass man Reserven hat – dass man nicht an der einen oder anderen Stelle im Tagesverlauf unnötig viel Energie raushaut, um dann in eine Erschöpfungsperiode zu fallen», erklärt Schumacher.

Gerade nach einschneidenden Ereignissen oder Operationen soll man unbedingt darauf achten, sich die richtige Erholungszeit zu nehmen und im Tagesverlauf Ruhepausen einzuplanen. Dasselbe gilt für Infektionserkrankungen: «Wir tragen dem in der Gesellschaft wenig Rechnung. Sobald das Fieber weg ist, geht es wieder in den Alltag und an die Arbeit, und diese zusätzliche Woche, die vielleicht noch nötig wäre, die nimmt man sich nicht», so der Neuroimmunologe.

Erholung ist wie Comfort-Food

Erholung, das müsse nicht zwingend Schlaf bedeuten. Konkrete Beispiele gibt er nicht, denn das sei so individuell wie das Konzept des «Comfort-Food»: Jede Person könne selbst spüren, welche Aktivität sie in einen Erholungszustand versetze, und könne dies gezielt einsetzen. Schumacher rät ausserdem davon ab, zu sehr auf trendige Therapien und aufwendige Strategien zu fokussieren: «Es ist auch wichtig, sich zu fragen: Laufe ich irgendwelchen Sachen nach, bei denen ich denke, sie würden mich entspannen, aber eigentlich führen sie nur zu Stress?»

In der Forschung geht es derzeit darum, wichtige Biomarker zu finden, an denen man das chronische Fatigue-Syndrom objektiv und messbar festmachen und es so effektiver therapieren kann. Gerade die Rolle des Immunsystems und jene der Blutgefässe stünden im Fokus, so Schumacher.

Doch es ist ihm wichtig zu betonen, dass es sich bei der Fatigue trotz wachsender medialer Aufmerksamkeit und einer deutlichen Zunahme von Zuweisungen in die Fatigue-Ambulanz am USZ keinesfalls um ein Massenphänomen handele. Von Covid-Infizierten hätten jeweils sechs bis zehn Prozent anhaltende Folgen der Infektion wie Geschmacksverlust oder eben Müdigkeit. Nur bei zehn Prozent dieser Patientinnen und Patienten mit Post Covid werde daraufhin ein chronisches Fatigue-Syndrom diagnostiziert.

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