Mittwoch, Januar 15

Der Schrecken vor dem Ende: über das grosse Drama der Schweizer Politik.

Mag ein Bundesrat längst die Kontrolle verloren haben – über intrigierende Kollegen, über die unberechenbare Mehrheit im Parlament oder über die eigene Partei, in der bereits mögliche Nachfolger schaulaufen: Die Kontrolle über den Zeitpunkt des Rücktritts versucht ein Bundesrat bis zum Schluss zu behalten. Mag die Macht längst aus ihm entwichen sein, im Abgang möchte er sie noch einmal demonstrieren.

Umso gereizter reagierte Bundesrätin Viola Amherd in dieser Woche, als sie im Schweizer Fernsehen auf Rücktrittsgerüchte angesprochen wurde.

«Erstens», sagte sie, «kommentiere ich Gerüchte sowieso nie», um dann zu kommentieren: «Ich werde Ende Jahr sicher nicht zurücktreten.» Sie werde weiterarbeiten, sagte sie dem Reporter. «Sie müssen jetzt auch nicht jede Woche nachfragen.»

Viola Amherd ist erst fünfeinhalb Jahre im Amt und 62 Jahre alt, aber bereits kursieren mehrere detaillierte Rücktrittspläne: Sie werde das Jahr als Bundespräsidentin noch beenden und dann Brigitte Hauser-Süess, ihrer engsten Vertrauten, in die Pension folgen. Und wenn nicht, werde sie noch die Weltmeisterschaft im Frauenfussball abwarten, die nächsten Sommer in der Schweiz stattfindet. Illustriert sind die Berichte mit Bildern, auf denen Amherd auf die Uhr schaut. Die Botschaft ist deutlich: Es ist Zeit. Der «Nebelspalter» titelte, als ob alles schon klar sei: «Auf Viola Amherd folgt ein Bergler».

Amherd ist nicht die einzige amtierende Bundesrätin, die schon abgeschrieben wurde. Mehrere Medien hatten bereits eingehend den «gebeugten Rücken» von Guy Parmelin begutachtet, als sie im vergangenen September titelten: «Das spricht für einen Rücktritt» («20 Minuten»), «Tritt Parmelin am Freitag zurück?» («Aargauer Zeitung»). Parmelin selbst liess zuerst ausrichten, sein diplomatischer Pass sei noch bis ins Jahr 2029 gültig, bevor er sich dann zu einem Tweet gezwungen sah: «Um Klarheit zu schaffen, bestätige ich gerne, dass ich (. . .) zur Wiederwahl in den Bundesrat antrete. Ich bin hochmotiviert!»

Die Rücktrittsgerüchte verfestigen sich manchmal von selbst. Im Herbst 2021 schrieben diverse Medien auf einen Abgang von Ueli Maurer hin. Die Beweislage: Maurer sei nicht zum Fraktionsausflug der SVP erschienen. Nachfolger wurden vorgestellt, der Bundesberner Betrieb nahm Liveticker-Hektik an, aber am Tag des angekündigten Rücktritts passierte nichts. Der Mediendienst Persoenlich.com vermeldete: «Der Rücktritt fand doch nicht statt.» Und die Absenz am Fraktionsausflug? «Ueli Maurer war bloss Velo fahren» («NZZ am Sonntag»).

Als Ueli Maurer ein Jahr später abtrat, war er 71 Jahre alt. Er sagte, er wolle wieder «der alte Ueli» sein, und nicht «alt Bundesrat Maurer»: Er hoffe, dass er sich künftig zurückhalten könne. Nur wenige Tage nachdem er aus dem Amt geschieden war, trat er als Altbundesrat an der Kadertagung seiner Partei auf.

Der Rücktritt ist der vielleicht schwierigste Akt im politischen Leben, auch weil Politik nie auf ein Ende zuläuft – es geht immer weiter: ein nächstes Geschäft, eine nächste Legislatur, ein nächstes mögliches Vermächtnis. Alt Bundesrat Moritz Leuenberger hat einmal gesagt: «Andere merken es meistens früher. Man selber meist zu spät.» So ist der Bundesratsrücktritt eines der grossen Dramen in der dramenarmen eidgenössischen Politik.

Wann ist der richtige Zeitpunkt? In der Ahnengalerie des Bundesrats finden sich nicht viele, die ihn gefunden haben.

Der Amtstod

Im 19. Jahrhundert blieben Bundesräte nicht selten bis zum bitteren Ende. Allein von den sieben Bundesräten, die 1848 gewählt worden waren, verstarben vier im Amt. Der Grund für den sogenannten Amtstod war simpel: Bis 1919 gab es keine Pension für Bundesräte, die prekäre finanzielle Lage liess sie im Dienst verharren.

So erklären sich auch extrem lange Amtszeiten. Der Rekordhalter, Carl Schenk aus Bern, regierte 32 Jahre lang – bis er 1895 auf dem Weg ins Bundeshaus einem Bettler ein paar Almosen überbringen wollte, dabei von einem Fuhrwerk erfasst wurde und seinen Verletzungen erlag. Zwar gab es auch nach der Rentenregelung noch Langzeitbundesräte, etwa den Zuger Philipp Etter, der ein Vierteljahrhundert blieb (und deshalb «Etternel» genannt wurde: der Ewige). Aber sie wurden zur Ausnahme.

Willi Ritschard im Jahr 1983 war der letzte Bundesrat, der im Amt verstarb. Nur wenige Tage nachdem er aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt erklärt hatte, brach er auf einer Wanderung in den Jurahöhen zusammen. Der Bundesrat setzte die Fahnen auf halbmast, dann ordnete er ein Staatsbegräbnis an, das erste seit General Guisan. Ritschard hatte gesagt, er wolle noch ein paar Jahre «ohne die grosse Politik» leben, «meine Wunden lecken, meinen Garten besser pflegen». Sein Wunsch sollte sich nicht erfüllen.

Körperliches Versagen bleibt bis heute die heimtückischste Gefahr der letzten Tage. Nicht zu merken, was alle um einen herum schon festgestellt haben, zu stolpern, statt abzutreten: die schlimmstmögliche Wendung im Drama der Mächtigen.

Im September 2018 berichteten Insider, Bundesrat Johann Schneider-Ammann schlafe in Sitzungen ein. Auf einer Auslandreise in Washington sollen sich amerikanische Gäste – irritiert von einer erschöpfenden Rede – erkundigt haben, ob ein Bundesrat wie der Papst auf Lebzeiten im Amt gefangen sei. Das berichtete der «Tages-Anzeiger». Selbst die Verteidigungsreden aus seiner eigenen Partei, der FDP, waren nicht hilfreich: Er sei schon immer ein behäbiger Typ gewesen. Aber es gehe ihm deutlich besser als zwei Jahre davor, als er über seinen Hund gestürchelt sei und sich eine Rippe gebrochen habe.

An seiner Pressekonferenz zum Rücktritt sagte Johann Schneider-Ammann: «Es geht mir gut. Bin wach.» Er lächelte. «Wenn ich meine Augen schliesse, um konzentriert zuzuhören», erklärte er, «ist das auch eine Art Schlaf. Ab und zu bin ich müde, das gebe ich gerne zu. Aber ich weiss wenigstens, weshalb.»

Es war der letzte Versuch, die Schwächen umzudeuten: Müdigkeit als unvermeidliche Folge grosser Arbeitslast, geschlossene Augen als Beweis absoluter Konzentration.

Gesundheitliche Gebrechen sind häufig der Rücktrittsgrund. Alphons Egli, CVP-Bundesrat aus Luzern und selbst im Jahr 1986 krankheitsbedingt ausgeschieden, erklärte es so: «Man hat keine Zeit in diesem Amt, gesundheitliche Störungen zu kurieren.» Egli waren nur vier Jahre im Amt geblieben.

«Ritualisierte Bestätigung»

Die durchschnittliche Regierungszeit hat sich inzwischen bei ungefähr zehn Jahren eingependelt, auch wenn die Bundesrätinnen und Bundesräte immer noch frei sind bei dem Entscheid, wann sie zurücktreten. Die Schweiz kennt keine Amtszeitbeschränkung – dies wurde im Parlament zwar oft diskutiert, aber ebenso oft verworfen. Es gibt weder ein parlamentarisches Misstrauensvotum noch ein Amtsenthebungsverfahren. Einmal gewählt, kann ein Bundesrat bis zu den nächsten Erneuerungswahlen nicht zum Rücktritt gezwungen werden. Zudem folgt das Parlament meist dem ungeschriebenen Gesetz, dass Bundesräte generell nicht abgewählt werden – auch wenn es in der jüngeren Geschichte mit Ruth Metzler und Christoph Blocher zwei spektakuläre Ausnahmen gab. Politologen sprechen von einer «ritualisierten Bestätigung».

Die Bundesräte treten meist nicht am Ende einer Legislatur zurück, sondern irgendwann dazwischen, allein. Damit erhöhen sie vielleicht unbewusst die Stabilität des Systems und wohl bewusst die Bedeutung ihres Rücktritts: Die volle mediale Aufmerksamkeit ist garantiert – weshalb es ihnen meist auch schwerfällt, die Demissionen untereinander zu koordinieren.

«Das sage ich Ihnen nicht!»

Nur sehr selten sehen sich Bundesräte gezwungen, wegen politischen Drucks oder persönlicher Fehlleistungen zurückzutreten. Es gab Arthur Hoffmann, der im Ersten Weltkrieg als fragwürdiger Friedensvermittler auftrat und deshalb – an seinem Geburtstag – gehen musste. Paul Chaudet, der für die Mirage-Affäre verantwortlich war. Oder Elisabeth Kopp, die erste Frau im Bundesrat, die im Jahr 1989 das Bundeshaus durch einen Seitenausgang verliess, nachdem sie, fallengelassen von ihrer Partei, wegen eines verhängnisvollen Telefonats an ihren Mann zurückgetreten war. Der letzte Bundesrat, der nach einer verlorenen Abstimmung zurücktrat, war der Sozialdemokrat Max Weber, im Jahr 1953.

Immer wieder aber gaben Bundesräte auf, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. So etwa Samuel Schmid, der von seiner ehemaligen Partei, der SVP, so hart attackiert wurde, dass es ihm auf die Gesundheit schlug – seine Abschiedspressekonferenz musste er mit Nasenbluten verlassen. Oder seine Parteikollegin Eveline Widmer-Schlumpf, die ab dem Zeitpunkt ihrer Wahl (und der Nichtwahl von Christoph Blocher) eine bedrängte Bundesrätin war: Wie lange würde sie, die Vertreterin einer Kleinstpartei, sich halten können? Nach den Wahlen im Oktober 2015 hatte der Druck weiter zugenommen, nachdem ihre neue Partei, die BDP, verloren, und ihre alte Partei, die SVP, gewonnen hatte.

Ihre letzte Pressekonferenz war eine Miniatur des bundesrätlichen Selbstbehauptungskampfs – so lange, wie es geht. Eveline Widmer-Schlumpf versuchte die Frage nach ihrem Rücktritt noch in der Pressekonferenz zu ihrem Rücktritt zu verdrängen. «Es gibt nichts gratis hier», sagte Eveline Widmer-Schlumpf zu den zahlreich erschienenen Journalisten, «ich möchte Ihnen zuerst berichten über die Energiestrategie, zweite Stufe.» Als es Gelächter gab, sagte sie: «Ich weiss, solche wichtigen Dinge fallen bei Ihnen immer durch und Sie konzentrieren sich auf die Kleidung oder die Frisur oder ich weiss nicht was.»

Danach gefragt, was sie künftig machen werde, triumphierte sie: «Das sage ich Ihnen nicht!» Sicher werde man von ihr aber «keine Kommentare mehr hören zu irgendwelchen politischen Themen auf Bundesebene». Zwei Jahre später griff sie mit einem «Blick»-Interview in den Abstimmungskampf um die Reform der Unternehmenssteuern ein.

«Celio muss bleiben»

Wann ist der richtige Zeitpunkt gekommen? Nach dem Bundespräsidium, als Primus inter Pares, wie bei Viola Amherd gemunkelt wird – und wie es etwa Adolf Ogi vorgemacht hat? Oder so unerwartet wie Joseph Deiss, der später sagte: «Ich hätte es schlecht ertragen, wenn in den Medien schon diskutiert worden wäre: Wann geht der Deiss endlich?»

Ein früher Abgang hat jedenfalls nur einmal zu Protesten geführt. Als der Tessiner FDP-Bundesrat Nello Celio im Jahr 1972 seinen Rücktritt auf Ende Jahr bekanntgegeben hatte, lancierte ein Parteifreund die Petition «Celio muss bleiben». Bald stapelten sich über 20 000 Postkarten im Bernerhof, wo Finanzminister Celio residierte – und seine Amtszeit um ein Jahr verlängerte.

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