Die künstliche Intelligenz von Chat-GPT kann einiges besser als der Mensch. Doch noch scheitert sie am Unbekannten. Oft kommt der Fortschritt in Wellen.
Sie ist bereits intelligent! Das müsste der verstorbene KI-Pionier Marvin Minsky sagen, wenn man ihm erzählte, dass wir mit Computern Schach und Go spielen (und verlieren) und lange Konversationen führen. Denn seine Definition von KI lautete im Jahr 1968: «Künstliche Intelligenz ist die Wissenschaft, Maschinen zu machen, welche Dinge tun, für deren Ausführung beim Menschen Intelligenz erforderlich wäre.»
Das können Computer heute, und doch sind wir nicht zufrieden. Wenn eine Krähe eine Nuss auf die Strasse wirft und von einem Auto knacken lässt, ist man von ihrer Intelligenz begeistert. Ein Computer, der fehlerfrei ins Chinesische übersetzt? Schulterzucken.
Manche KI-Enthusiasten kritisieren das als unfaires Verschieben der Ziellinie. Man könne nicht jedes Mal, wenn ein Computer eines der vorher definierten Zeichen von Intelligenz erreiche, sagen, dass es doch nicht ausreiche.
Und doch wird, wer Chat-GPT befragt oder mit Computern Schach spielt, eher mit der Mehrheit jener Forscherinnen und Computerexperten übereinstimmen, die sagt: Intelligent in der Art der Menschen sind diese Maschinen nicht.
So konnte nach neueren Definitionen der Intelligenzbeweis noch durch keinen einzigen Test erbracht werden. Eine echt intelligente Maschine müsste wie ein Mensch viele verschiedene Dinge können.
«Intelligenz misst die Fähigkeit, Ziele in einer Vielzahl von Umgebungen zu erreichen», so lautet eine Zusammenfassung aus unzähligen wissenschaftlichen Definitionsversuchen aus dem Jahr 2007. Es gehört also eine gewisse Flexibilität dazu. Und die Fähigkeit, Neues zu lernen.
Vielleicht ist die Krähe deshalb so beeindruckend. Sie erreicht ihr Ziel (eine offene Nuss) in einer neuen Umgebung (einer Kreuzung mit Autos). Die erste Krähe, die so eine Nuss knackte, hat aus Beobachtungen einen neuen Schluss gezogen.
Sprach-KI fehlen noch einige Bausteine zur Intelligenz
So intelligent Sprachmodelle wie Chat-GPT auch wirken mögen, bei gänzlich neuen Fragen scheitern sie. Denn sie kommen anders zu ihren Fähigkeiten als ein Mensch. Sie lernen aus unzähligen Beispielen. Anhand von diesen trainieren sie ihre künstlichen neuronalen Netze. Weil sie sehr viele Informationen beim Training verarbeiten, können sie sehr viele Fragen richtig beantworten. Doch konfrontiert mit Unbekanntem, etwa einer seltenen Art Rechenaufgabe, scheitern sie immer wieder.
Nicht nur das Scheitern an sich, sondern auch, wie die Sprach-KI scheitert, ist entlarvend. Denn sie erfindet eine Antwort, die plausibel klingt, aber nichts mit der Realität zu tun hat. Das können falsche Rechenschritte sein oder Zitate aus erfundenen Büchern. Der Fakt, dass diese Systeme nichts darüber wissen, was sie wissen und was nicht, zeigt: Ihre Intelligenz ist eine Simulation.
Einige KI-Experten glauben, dass mehr Daten und Rechenpower diese Probleme lösen können. Sollten sie recht haben, dann sind alle Bausteine für menschenähnlich intelligente KI vorhanden. Das würde bedeuten, dass echte KI, die flexibel auf Probleme eingehen kann, in einigen Jahren möglich wäre.
Doch die meisten Forschenden vermuten, dass Bausteine fehlen: etwa die Fähigkeit, zu planen oder Kausalitäten zu verstehen. Könnte künstliche Neugier, mit der sich Maschinen selbständig neue Ziele setzen, der Schlüssel sein? Die Fähigkeit zur Erinnerung?
Ideen dazu, was der KI noch fehlt, gibt es viele. Forschungsgruppen auf der ganzen Welt arbeiten daran, diese Konzepte in Algorithmen zu übersetzen und auszuprobieren.
Etwa beim Tech-Konzern Meta unter der Leitung des KI-Pioniers Yann LeCun. Er glaubt an menschenähnliche KI, aber schätzt, bis dahin würden «höchstwahrscheinlich Jahrzehnte» vergehen.
Etwas optimistischer formuliert es der KI-Vordenker Jürgen Schmidhuber, der seit Jahrzehnten lernende Systeme entwickelt, im Moment in Lugano und Saudiarabien. Echt intelligente Maschinen, nicht nur menschenähnlich, sondern klüger als wir, erwarte er noch in seiner Lebenszeit, sagt der 60-Jährige.
Im Jahr 2022 wurden Teilnehmer zweier KI-Konferenzen gefragt, ab welchem Zeitpunkt sie mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit intelligenter KI rechnen würden, das heisst, ab welchem Jahr sie der Existenz von intelligenter KI eine 50:50-Chance geben. Das mittlere Resultat war 2059.
Die Umfrage wird oft zitiert, sie entspricht allerdings keinen wissenschaftlichen Standards. Man sollte sie also nicht als Zusammenfassung von Expertenmeinungen interpretieren. Überhaupt kann man sich fragen, welchen Nutzen solche Umfragen haben.
Auch wissenschaftliche Prognosen und Berechnungen schlagen in dieser Angelegenheit fehl. Denn im Grunde geht es um eine Glaubensfrage.
Und so gibt es noch eine weitere Gruppe von Experten: all jene, die erwarten, dass auf den jetzigen KI-Hype das Erkennen neuer Schwierigkeiten und Hürden folgen. Es werde sich herausstellen, dass menschenähnliche künstliche Intelligenz doch viel schwieriger zu erzeugen sei als gedacht. Etwa falls die Biologie, das Erleben oder das Bewusstsein eine wichtige Rolle für die Intelligenz spielen würden.
Intelligente Maschinen erwartete man bereits für die 1980er
Es wäre nicht das erste Mal, dass auf einen KI-Boom eine Flaute folgt. In der Forschungsgemeinschaft nennt man diese Zyklen KI-Frühling-und-Winter.
Als man in den 1950er Jahren begann, an KI zu forschen, ging man von schnellen Fortschritten aus. So schrieb die «New York Times» 1958 von einem Computer-«Embryo» der Nasa, von dem man erwartete, er würde bald sprechen und schreiben können und ein Bewusstsein seiner eigenen Existenz erlangen. Forscher aus der Zeit, auch der eingangs erwähnte Minsky, erwarteten künstliche Intelligenz innerhalb einer Generation.
Mitte der 1970er Jahre kam diese erste Welle zu einem Ende. Enthusiasmus und Geldströme versiegten. In den 1980ern entstanden neue Strategien und Hoffnungen, versiegten aber wieder. Seit 2010 hat der Deep-Learning-Ansatz Erfolge hervorgebracht: Alles, worüber wir in den letzten Jahren staunten, von Handschrifterkennung bis Chatbots, basiert darauf.
Ist der jetzige Aufschwung Teil dieser Wellenlinie? Oder der Beginn eines Aufwärtstrends, der anhalten wird? Die Zukunft wird es weisen.
Klar ist, auch wenn KI die flexible Intelligenz der Menschen nicht erreichen sollte: Sie kann bereits jetzt viele Dinge besser als der Mensch, vom Formulieren simpler Gedichte übers Erkennen von Krebsgeschwüren auf Röntgenbildern bis zu Videospielen und dem Lenken von Drohnen. Es ist abzusehen, dass sie noch viel mehr besser lernen wird als wir. Um unsere Welt auf den Kopf zu stellen, braucht KI gar nicht intelligent zu werden.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»