Donnerstag, März 20

Der wichtigste Entscheid Grossbritanniens seit 1945 spielt vor der Wahl kaum eine Rolle. Die Wirtschaftsbilanz des EU-Ausstiegs ist schlecht, doch ein Korrekturversuch wäre politischer Selbstmord.

Die britische Politik ist reich an skurrilen Momenten. Boris Johnson krachte einmal mit einem Bulldozer durch eine Wand – mit voller Absicht. Vor der Unterhauswahl im Dezember 2019 wollte der damalige Premierminister demonstrieren, mit welcher Durchschlagskraft er sein grösstes Ziel verfolgt: «Get Brexit Done.» Johnson versprach, den EU-Ausstieg endlich über die Bühne zu bringen. Er erzielte die grösste konservative Mehrheit seit den 1980er Jahren.

Wie sich die Zeiten geändert haben. Johnson ist längst Privatier. Anfang Juli ist wieder Wahl, und der amtierende Premierminister Rishi Sunak sieht einer haushohen Niederlage für die Konservativen entgegen. Dabei hatte Johnson sein Versprechen gehalten, und das ist bei ihm etwas Besonderes: Seit Anfang 2021 ist Grossbritannien die oft proklamierten «Fesseln» der EU los.

Der Brexit ist nichts, womit man werben kann

Doch diesmal wird der Brexit im Wahlkampf weitgehend ignoriert – von beiden Seiten. Im ersten TV-Duell machten Sunak und sein Labour-Kontrahent Keir Starmer einen grossen Bogen um Grossbritanniens wichtigsten Entscheid seit 1945.

Die Tories wären auch schlecht beraten, auf das Erreichte hinzuweisen. 57 Prozent der Briten halten den EU-Ausstieg für einen Misserfolg, das zeigte im Januar eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. 70 Prozent denken, dass er die Lage der Wirtschaft verschlechtert habe. 55 Prozent der Briten glauben, dass er die Wachstumsaussichten schmälere.

Der Brexit kann nicht begeistern

Auswirkung des EU-Austritts auf ausgewählte Themen, Antworten in Prozent

Bei der Wirtschaft ist es schwer, den Effekt des Brexits eindeutig zu isolieren. Der Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt, ein in dieser Grössenordnung einmaliger Vorgang in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte, wurde von einem noch grösseren Faktor überlagert – der Corona-Pandemie.

Zwar fallen keine Zölle im Warenaustausch mit der EU an, aber erhebliche Bürokratie und Nachweispflichten. Aus Rücksicht auf die Wirtschaft hat London Teile davon durch grosszügige Fristen aufgeschoben und sich bei vielen Regulierungen nicht von dem entfernt, was in der EU gilt. Der Zielkonflikt ist offenkundig. Die Verwerfungen sind auch unterschiedlich. Kleine Unternehmen werden mehr belastet als grosse, aber die kleinen exportieren weniger.

Die Nachteile des Brexits wurden nicht aufgewogen

Doch es ist klar, dass eine Erschwerung des Handels mit dem grössten Handelspartner isoliert betrachtet mehr Nachteile als Vorteile bringt. Die britische Haushaltbehörde OBR nimmt an, dass der Aussenhandel durch den Brexit um 15 Prozent weniger wachsen wird, als es ohne EU-Ausstieg der Fall wäre. Auch die Produktivität legt weniger zu.

Diverse Studien sehen einen langfristigen Dämpfer für den Anstieg der Wirtschaftsleistung von rund 5 Prozent. Neue Handelsabkommen mit Drittländern können diesen Effekt noch nicht kompensieren – ob sie es jemals werden, darf hinterfragt werden. Durch den Brexit bleibt Grossbritannien hinter seinen Möglichkeiten.

Eigentlich müsste das ein gefundenes Fressen für die Labour-Opposition sein. Wahr ist das Gegenteil. Starmer will Erleichterungen bei Details erreichen, etwa im Lebensmittelhandel. Die Grundsatzfrage eines Wiederbeitritts stellt er nicht – aus guten Gründen. Die Wunden, die das jahrelange Brexit-Gezerre in der Volksseele gerissen hat, sind tief. Mehr davon zu bieten, wäre politischer Selbstmord. Vor allem, wenn man die Regierungsmacht durch Nichtstun auf dem Silbertablett erhalten kann.

Schon Johnsons Spruch «Get Brexit Done» verzauberte nicht durch ein dahinterstehendes Konzept. Das existierte nur in Grundzügen. Der Reiz lag in dem Versprechen, das leidige Thema endlich zu den Akten zu legen. Doch wie man in der Schweiz weiss: Das Verhältnis zur EU liegt nie ad acta. Davor die Augen zu verschliessen, macht es nur schlimmer.

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