Donnerstag, Oktober 3

Die Schweiz agiert viel zu unentschlossen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen.

Die Warnungen vor der Mafia werden immer eindringlicher. Nicoletta della Valle, die abtretende Direktorin der Bundespolizei, sagt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die Schweiz sei mittlerweile nicht mehr nur Rückzugsort für die organisierte Schwerkriminalität, sondern auch ein Operationsraum.

Bundesanwalt Stefan Blättler forderte vor kurzem eine Kronzeugenregel für Mafiosi, die mit den Behörden kooperieren, und die oberste Polizeidirektorin des Landes, Karin Kayser-Frutschi, erklärte in einem Interview mit den Zeitungen von CH Media: «Ich höre viele Leute, die sagen, sie hätten nie gedacht, dass es so schlimm ist.»

Die Gefahr ist also erkannt. Eigentlich. Die gefährlichsten kriminellen Gruppierungen haben sich in der Schweiz festgesetzt. Es geht um Mitglieder der italienischen ’Ndrangheta, die im grossen Stil Kokain verschieben, es geht um albanische Familienclans, die im Drogen- und Menschenhandel tätig sind, es geht um kriminelle Rockergangs, und es geht um nigerianische Netzwerke wie die Black Axe, die mit Betrug und Ausbeutung von jungen Frauen weltweit Milliardenbeträge erwirtschaften.

Kurz: Es geht um mächtige Netzwerke, die manchmal mehr personelle und finanzielle Mittel zur Verfügung haben als ganze Staaten.

Was aber haben die Schweizer Behörden diesen Netzwerken entgegenzusetzen, die durch enorme Anpassungsfähigkeit und Flexibilität auffallen und die vor Einschüchterung, Entführung, Mord und Folter nicht zurückschrecken?

Die ernüchternde Antwortet lautet: bis jetzt zu wenig.

Ein falsches Bild von der Mafia

Man warnt zwar eifrig vor organisierter Kriminalität. Aber die konkreten Bemühungen im Kampf gegen die Schwerverbrecher kommen kaum voran – wenn überhaupt.

Es gibt eine Geschichte, die den Schweizer Blindflug im Kampf gegen die organisierte Kriminalität ziemlich gut veranschaulicht. Diese Geschichte handelt vom Kantönligeist bei der Polizeizusammenarbeit. Noch immer müssen nämlich die Polizeikorps unzählige Mails in der ganzen Schweiz herumschicken, um an Fahndungsdaten aus anderen Kantonen zu kommen. Jedes Polizeikorps muss dabei einzeln abgefragt werden.

Noch bedenklicher wird es, wenn man weiss, dass die Schweiz mit dem Schengener Abkommen mit Europa Polizeidaten um ein Vielfaches schneller und einfacher austauschen kann, als dies zwischen Bund und Kantonen sowie unter den Kantonen möglich ist.

Eigentlich sind sich alle bewusst, dass es so nicht geht. Es braucht einen schnellen Informationsfluss zwischen den Korps. Aber eine Lösung steht noch immer nicht bereit, die Politik verhandelt noch. Technisch wäre die Angelegenheit zwar kein Problem, aber es fehlt eine gesetzliche Grundlage.

Woher dieser Schlendrian rührt, wenn Schnelligkeit nötig wäre, ist schwer zu sagen. Vielleicht wiegen sich einige Entscheidungsträger in der Schweiz noch immer in falscher Sicherheit. Auch wenn die Ermittler in den Niederlanden oder Belgien immer wieder darauf hinweisen: Macht etwas, sonst geht es euch wie uns.

Aber anders als in den Niederlanden, Deutschland oder Belgien gab es in der Schweiz bisher keine Hinrichtungen auf offener Strasse, es gibt kaum Anschläge auf Mitglieder rivalisierender Clans, und es gibt keine Entführungspläne für Politiker, Anwälte oder Journalistinnen. Man glaubt, man habe alles im Griff – und die organisierte Kriminalität nutzt das aus.

Das hängt auch mit einem falschen Bild von der Mafia zusammen: Anders als in früheren Jahrzehnten geht es den kriminellen Netzwerken nicht darum, mit möglichst brutalen Aktionen möglichst viel Aufsehen zu erregen. Vielmehr versuchen sie, sich in den legalen Wirtschaftskreislauf einzugliedern – still und heimlich. Auch illegale Geschäfte lassen sich besser ungestört von Polizei und Behörden machen.

Hinweise darauf, dass sich die organisierte Kriminalität in der Schweiz längst festgesetzt und begonnen hat, auch legale Geschäftszweige zu unterlaufen, gibt es genügend.

Offensichtlich wurde dies, als es europäischen Ermittlern vor drei Jahren gelang, den verschlüsselten Kommunikationsdienst Sky ECC zu knacken, über den sich Mitglieder krimineller Netzwerke vermeintlich sicher austauschten. Die Daten führten vor Augen, wie verbreitet die kriminellen Netzwerke in der Schweiz bereits sind und wie unangreifbar sie sich fühlen. Gegen 3000 Nutzerprofile waren über kurz oder lang im Schweizer Mobilfunknetz aktiv. Einige der Verbrecher unterhielten sich dabei unverhohlen darüber, wie man Einfluss auf die Schweizer Justiz nehmen kann.

Dabei geht es nicht nur um Unterwanderung, sondern auch um ernsthafte Drohungen. Denn die Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden geraten auch hierzulande zunehmend ins Visier der Schwerverbrecher. Ermittler sagen, es komme immer wieder zu ernsthaften Drohungen gegen Polizisten und Staatsanwälte. Sie fürchten, dass sich irgendwann niemand mehr finden lässt, der die gefährlichen Ermittlungen führt, wenn der Schutz fehlt.

Dass es mit den Sicherheitsvorkehrungen teilweise noch ziemlich hapert, zeigt nur schon der Umstand, dass Namen und geschäftliche Telefonnummern von Ermittlern frei im Internet auffindbar sind.

Helfer, die für Geld alles machen

Zudem kann sich das organisierte Verbrechen auf Helfer verlassen, die vieles machen, solange die Bezahlung stimmt. Es sind Treuhänderinnen, Finanzfachleute oder Anwälte, die Firmenkonstrukte für vermögende Kriminelle kreieren, Scheinanstellungen organisieren oder schmutziges Geld transferieren. Wie im Fall eines belgischen Drogenbosses, der zu den meistgesuchten Verbrechern Europas zählte und der im Februar 2022 in Zürich verhaftet wurde. Bei der anschliessenden Untersuchung kam ein ganzes Netzwerk von Helferinnen und Helfern zum Vorschein.

Zum Beispiel eine Treuhänderin. Die Frau gab dem Belgier eine gefälschte Anstellung, sie verschaffte ihm einen Fake-Wohnort unter einem falschen Namen. Und sie nahm von ihm ohne Skrupel grosse Bargeldsummen entgegen – Bargeld, das ihr in Schuhkartons überbracht wurde. Später sagte sie vor Gericht bloss: «Ich wollte den Kundenstamm erweitern. Er hat uns viele Neukunden versprochen.» Alles andere war ihr offenbar gleichgültig.

Ein anderes Beispiel ist der Gemüsehändler aus dem Zürcher Langstrassenquartier, der jedoch nicht nur Gemüse, Früchte und Lebensmittel verkaufte, sondern noch ein Geschäft als Geldwäscher für das organisierte Verbrechen betrieb. Damit wurde er zur bekannten Adresse für Kriminelle. Mehrere Millionen Franken transferierte er für seine Kunden an die gewünschten Hintermänner.

Firmen wie jene des Türken oder der Treuhänderin sind für kriminelle Organisationen ideal. Sie haben einen seriösen Anstrich und operieren auch legal mit grösseren Geldbeträgen. Und genau darum fällt es nicht auf, wenn in dieser Masse auch Einkünfte aus illegalen Quellen verschoben werden.

Es braucht mehr Kooperation zwischen Bund und Kantonen

Es fehlt in der Schweiz am Verständnis für das Wesen der organisierten Kriminalität. Es fehlt auch am Überblick und an Koordination, es fehlt an Spezialisten und geeigneten Schutzmöglichkeiten für Opfer der Verbrechersyndikate, auf deren Aussagen man bei der Bekämpfung angewiesen ist. Und es gibt gesetzliche Schlupflöcher, welche die kriminellen Organisationen gezielt ausnützen.

Baustellen gibt es also genug. Auch bei den Ressourcen und den Zuständigkeiten. Die Bekämpfung von Menschenhandel oder Drogenschmuggel obliegt den Kantonen, Ermittlungen wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation hingegen übernimmt die Bundesanwaltschaft. Dies, obwohl hinter dem Menschen- und Drogenhandel im grossen Stil auch organisierte Kriminalität steckt.

Einziger erfolgversprechender Weg wäre eine verstärkte Kooperation. Denn allein kann der Bund den Kampf gegen kriminelle Organisationen gar nicht führen. Das zeigt nur schon ein Vergleich der Zahl der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte beim Bund und in den Kantonen.

Allein der Kanton Zürich verfügt über mehr auf organisierte Kriminalität und Cybercrime spezialisierte Staatsanwältinnen und Staatsanwälte als die Bundesanwaltschaft. Auch in weiteren Kantonen wie Genf, Bern oder Basel sind spezialisierte Abteilungen zu finden.

Die Rollenzuteilung ist das eine, die fehlenden Spezialistinnen und Spezialisten das andere. Ermittlungen gegen Mitglieder krimineller Netzwerke sind äusserst aufwendig. Es braucht Teams für Observationen, Abhörtechnik und eine maschinelle Datenauswertung. Dafür braucht es Fachleute – aber diese sind rar, vor allem bei der Polizei. Einsatzkräfte, die auf der Strasse Präsenz markieren, geben vielleicht ein Gefühl von Sicherheit. Will man aber die organisierte Kriminalität wirksam bekämpfen, braucht es zusätzliche Spezialisten auf dem richtigen Gebiet.

Letztlich geht es beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität darum, sie früh genug einzudämmen. Denn sind die Netzwerke einmal zu gross, zu mächtig und zu vernetzt, dann ist ihnen kaum mehr beizukommen. Schlechte Vorbilder gibt es in Europa genug.

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