Was die Wende im syrischen Bürgerkrieg bringt, ist noch völlig offen. Es ist deshalb richtig, die Asylverfahren erst einmal ruhen zu lassen.
Der syrische Despot Asad hat in Russland Asyl erhalten. Soll man deshalb jenen, die vor ihm geflüchtet sind, den Schutzstatus entziehen? Ja, findet die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Auf X schreibt sie, wer jetzt in Deutschland das freie Syrien feiere, solle bitte gleich heimreisen. Und einige CDU-Politiker glauben, dass jetzt der Moment gekommen sei, um Migranten im grossen Stil nach Syrien abzuschieben.
Das sind Kommentare, die dem deutschen Wahlkampf geschuldet sind. Es sind wohl berechnete Schnellschüsse. Auch Weidel ist klar, dass niemand weiss, in welche Richtung sich die Dinge in Syrien bewegen werden. Kommt es zu einer Beruhigung der Lage, zu einem runden Tisch der Rebellen? Oder doch eher zu einem neuen Bürgerkrieg mit einer Vielzahl von Kriegsherren? Die Experten jedenfalls sind skeptisch: Wenn die Euphorie über den Sieg verklungen ist, stellt sich die Machtfrage. Da werden sich nicht alle einig sein.
Die Zukunft Syriens ist offen
Es ist deshalb richtig, dass viele europäische Staaten, darunter Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und auch die Schweiz, entschieden haben, die Bearbeitung der Asylgesuche von Syrerinnen und Syrern vorerst auszusetzen. Es geht bei diesen Verfahren ja genau darum, die Gefährdung von Personen vor dem Hintergrund der Lage in ihrer Heimat einzuschätzen. Das ist in einem Moment des Umbruchs unmöglich.
Es ist ebenfalls richtig, dass die Behörden den Aufenthaltsstatus von Syrern neu überprüfen wollen, sollte sich die Lage tatsächlich zum Besseren wenden. Die Flüchtlingskonvention von 1951 ist eindeutig: Ein Widerruf des Schutzes ist möglich, wenn eine positive Veränderung im Herkunftsland eintritt, «die dauerhaft und nicht bloss vorübergehend ist».
Der Sturz Asads hat die syrischen Gemeinschaften in Europa in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt. Die Hoffnung auf einen Neuanfang mischt sich mit der Sorge, dass eine neue Runde der Gewalt bevorsteht. Gehen oder bleiben? Bei den meisten lautet die Antwort wohl: abwarten. Europaweit leben in Deutschland am meisten Menschen syrischer Herkunft (970 000), viele schon in der zweiten Generation. Es folgen Österreich (98 000) und Schweden (87 000). Die meisten Syrer kamen mit der Fluchtwelle von 2015 und 2016 nach Europa.
In Deutschland hat der grösste Teil der Syrer nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, die nach drei, bei manchen schon nach einem Jahr erneuert werden muss. Auch wenn Gespräche über eine Rückkehr jetzt an der Tagesordnung sind, bedeutet das nicht, dass diese Menschen auf gepackten Koffern sitzen und darauf warten, heimzureisen
Wiederaufbau oder neue Fluchtwelle?
Die syrische Gemeinschaft in Essen im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen ist laut «FAZ» gut erforscht. Es leben dort knapp 20 000 Syrer, ein Fünftel von ihnen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Sie sollen laut einer Studie mehrheitlich «integrationsorientiert» sein, der Eingliederungsprozess schreite entsprechend voran. Nicht überraschend geben zwei Drittel der Befragten an, in Deutschland bleiben zu wollen. Der Anteil dürfte bei Familien mit Kindern im Schulalter oder in der Ausbildung noch grösser sein.
Ob sich die Lebensplanung dieser Syrer nach dem Sturz Asads grundlegend verändert, ist fraglich. Sollte sich aber die Chance bieten, das zerstörte Land dank einigermassen stabilen Bedingungen wieder aufzubauen, sollten die europäischen Staaten tatkräftig mithelfen. Das würde es den «europäischen Syrern» erleichtern, bei dem Neuanfang mitzumachen, wozu sie die neue Führung bereits aufgerufen hat. Aber auch die unfreiwillige Rückkehr ist politisch akzeptabler, wenn Europa gleichzeitig seinen Beitrag für den Wiederaufbau leistet.
Allerdings muss sich der Kontinent auch auf ein ganz anderes Szenario vorbereiten: dass die Fluchtbewegung aus dem Land sich wieder verstärkt.

