Sonntag, Januar 19

Die Schweizer Handballer verlieren an der Weltmeisterschaft knapp gegen Deutschland, bewegen sich phasenweise auf Augenhöhe mit dem Schwergewicht. Das ist Teil einer Entwicklung, die verspätet startete und den Höhepunkt noch nicht erreicht hat.

Nach dem 29:31 im WM-Vorrundenspiel gegen Deutschland steht der Schweizer Captain Nikola Portner in den Katakomben der Jyske Bank Boxen in Herning. Der Goalie hasst Niederlagen. Jetzt lächelt er trotzdem. Portner sagt: «Ich bin stolz. Mit solchen Auftritten wollen wir Mädchen und Buben in der Schweiz zum Handball bringen.»

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Nur wenige Minuten bevor Portner diesen Satz sagt, sieht er eine Parforceleistung seiner Equipe, die gegen den Olympia-Zweiten Deutschland nicht mit dem Sieg belohnt wird. Schon kurz nach dem Schlusspfiff denkt Portner nicht mehr an das Resultat, sondern an die Bedeutung seiner Sportart in der Öffentlichkeit. Denn Portner weiss: Der Schweizer Handball ist ein ewiges Entwicklungsprojekt.

Es gab Zeiten, da bewegten sich die Schweizer auf Augenhöhe mit der Weltelite. An der WM 1993 wurden sie Vierte, 1995 Siebente. An den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta gewannen sie als Achte ein Diplom. Es sind Sternstunden aus einer anderen Zeit; die Schweizer Equipe setzte sich damals aus Halbprofis und Studenten zusammen. Heute ist das undenkbar.

Vor 30 Jahren letztmals aus eigener Kraft an der WM

Die Schweizer spielen derzeit in Dänemark die vierte Endrunde in den vergangenen fünf Jahren. Auf den ersten Blick lässt sich die Bilanz sehen. Doch es ist 30 Jahre her, dass sich die Schweiz aus eigener Kraft für eine WM qualifiziert hat.

An der WM 2021 in Ägypten durfte die Schweiz mittun, weil sich zwei andere Teams wegen zu vieler Corona-Fälle zurückgezogen hatten. Und jetzt in Herning spielt die Schweiz nur, weil ihr vom Weltverband eine Wild Card zugesprochen worden ist. Damit will die Internationale Handball-Föderation (IHF) die Sportart fördern. Den anderen auf diese Weise vergebenen Startplatz erhielten die USA, dort soll die Sportart im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles entwickelt werden.

Die IHF schrieb bei der Vergabe der Wild Card: «Die Schweiz erhält den Startplatz aufgrund des sportlichen Werts sowie aus kommerziellen Gründen, da sie nach einer gründlichen Analyse die grösste Reichweite hat.» Offensichtlich hofft die IHF, in der Schweiz sei noch nicht Hopfen und Malz verloren.

Rauchen und Jassen im Hotel – und trotzdem gewinnen

Die Erfolge der goldenen Zeiten in den 1990er Jahren verschwanden schleichend. Die Olympia-Qualifikation für Sydney 2000 verpasste die Equipe, und sie kam in der Folge nie mehr in die Nähe der Olympischen Spiele, wo nur zwölf Mannschaften mitmachen dürfen. So schleichend die Schweiz dem sportlichen Niemandsland entgegentaumelte, so rasant entwickelte sich die Sportart. Der heutige Handball ist athletischer, schneller, technisch versierter und professioneller.

Mit der Sportart der alten Generation um Marc Baumgartner und Martin Rubin hat der Handball heute wenig gemeinsam. Baumgartner erzählte der NZZ einmal, an Länderspielen oder Turnieren habe die Mannschaft die halbe Nacht jassend, Wein trinkend und rauchend im Hotelzimmer gesessen – um am anderen Tag trotzdem zu gewinnen.

Anfang des Jahrtausends entwickelte sich der Handball in Skandinavien, Deutschland oder Frankreich rasant. Nur das Schweizer Team bestand immer noch aus Studenten und Halbprofis und verschlief die Entwicklung. 2006 richtete die Schweiz die EM aus und hoffte auf einen Aufschwung. Einige Spieler unterbrachen zwar das Studium, um sich für die EM vorzubereiten – doch da waren die Gegner längst Profis. Die Schweiz gewann in der Vorrunde nur einen Punkt. Die Heim-EM war nach drei Spielen vorbei. Statt die erhoffte Entwicklung anzustossen, verschwand die Sportart in der Versenkung.

Zusammenzüge mit dem Anstrich eines Klassenlagers

Der Niedergang hatte mehrere Ursachen. War Handball früher als Schulsport beliebt, so war Unihockey bei den Sportlehrern des Landes plötzlich en vogue; die Sportart sei leichter zu vermitteln. Das führte zu weniger Junioren im Handball. Ausserdem hat es der Handball nie geschafft, sich als gesamtschweizerische Sportart zu positionieren. Weder im Tessin noch in der Romandie gibt es Spitzenteams. Mehdi Ben Romdhane ist momentan der einzige Nationalspieler aus der Westschweiz.

Nach der Heim-EM 2006 erlebte der Schweizer Handball ein Jahrzehnt des Stillstandes. Das Nationalteam war notorisch erfolglos, Länderspiele im Ausland hatten den Anstrich eines Klassenlagers. Der Captain Portner ist heute mit 31 Jahren der Teamsenior. Er debütierte 2011 für die Schweiz. Er erinnert sich an Teamkollegen, die nach dem Training sogleich eine Zigarette rauchten oder nach durchzechter Nacht direkt zum Zusammenzug kamen.

Das tat die goldene Generation um Baumgartner und Co. zwar auch; nur rächte sich diese Einstellung nicht. Andy Schmid, der beste Schweizer Spieler der Geschichte und der heutige Nationaltrainer, tat sich das Nationalteam hingegen phasenweise gar nicht mehr an.

Just in der Phase, in der der Handball im Rest Europas mehr und mehr Aufmerksamkeit generierte, war die Schweiz damit beschäftigt, die Sportart zu stabilisieren, statt sie voranzutreiben. Die Stabilisierung gelang nach dem Amtsantritt von Michael Suter als Nationaltrainer 2016. Suter hatte zuvor erfolgreich im Nachwuchs gearbeitet und die Junioren-Nationalteams der Schweiz an die Weltspitze geführt.

Auch Suter konnte nicht ändern, dass die Schweizer Liga im europäischen Vergleich eine untergeordnete Rolle spielt. Mittlerweile verlassen talentierte Handballer die Schweizer Liga regelmässig und wechseln nach Frankreich oder Deutschland in die besten Ligen der Welt. Zuletzt unterschrieb der erst 19-jährige Gino Steenaerts beim Spitzenklub Rhein-Neckar Löwen. Es ist ein Transfer, der vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

An der Weltmeisterschaft in Dänemark stellt die Schweiz mit einem Durchschnittsalter von 24,3 Jahren die jüngste Mannschaft des Turniers. Was der jungen Equipe fehlt, ist ein Sieg gegen eine grosse Nation; es wäre ein Erweckungserlebnis für die Sportart.

Jüngst waren die Schweizer gegen Frankreich mit zwei Unentschieden zweimal nahe am Exploit, in Dänemark folgte nun der starke Auftritt gegen Deutschland. Die Zukunft des Schweizer Handballs sieht wegen der Entwicklung in den letzten fünf Jahren rosiger aus als auch schon. Die Entwicklung soll 2028 den Höhepunkt erreichen. Dann finden die Europameisterschaften unter anderem in der Schweiz statt. Und diese sollen den Schweizer Handball endlich auf die grosse Bühne zurückkatapultieren.

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