Donnerstag, Oktober 10

In einem Vorort von Philadelphia wird endlich die verseuchte Müllkippe saniert, und ein Deich gegen die regelmässigen Überschwemmungen ist geplant. Aber die Projekte nehmen Jahrzehnte in Anspruch, und die Bevölkerung ist misstrauisch.

Eastwick wirkt idyllisch. Vor allem die Gegend entlang dem Cobbs-Bach. Der Bach ist von Wäldern, Büschen und Wiesen gesäumt, mit etwas Geduld sieht man Fische und sogar Schildkröten. Das Wasser plätschert, die Vögel zwitschern, sonst ist es still. Gleich angrenzend erhebt sich ein Hügel mit Magerwiesen und jungen Bäumen.

Aber der Eindruck in diesem Aussenquartier von Philadelphia täuscht. Am Bachufer steht ein Schild, das vor giftigen Fischen warnt. Denn die sanfte Erhebung war eine toxische Müllkippe. In jahrelanger Arbeit wurde sie zugeschüttet, abgedeckt und bepflanzt. Jeder Zentimeter der Umgebung musste gesäubert werden. Auch der friedliche Bach täuscht. Bei heftigem Regen und tropischen Stürmen schwillt er an und setzt das angrenzende Viertel unter Wasser. Das ist doppelt gefährlich wegen der Verseuchung des Bodens. Nun soll ein 420 Meter langer und 5 Meter hoher Deich gebaut werden, um die Bewohner vor den Überschwemmungen zu schützen.

Zermürbt vom langen Warten

«Finanziert durch Präsident Joe Bidens Infrastrukturgesetz», verkünden mehrere grosse Schilder. Tatsächlich ist die Müllhaldensanierung einer Finanzspritze aus dem 2021 vom Kongress bewilligten Riesenfonds zu verdanken. Dieser stellt rund eine Billion Dollar für den Bau von Brücken, Strassen, für die Bahn, das Internet und sauberes Wasser bereit. In Eastwick hätte die Entgiftung des Clearview Landfill, die vor 23 Jahren begann, sonst noch länger gedauert. Auch der geplante Deich dürfte zu einem guten Teil mit dem Bipartisan Infrastructure Law finanziert werden. Die Bewohner sind einerseits frustriert, dass beide Projekte so lange gedauert haben, andererseits froh, dass es nun endlich vorwärtsgeht.

Kaum eines der Häuser in Eastwick liegt so nahe am Wasser wie dasjenige von Ida Brundage. Es ist von einem üppigen Blumengarten umgeben, aber wie die Bewohnerin von jahrzehntelangen Belastungen gezeichnet. Sie zog 1981 mit ihrem Mann Leo Brundage in das Haus ein. «Er starb vor einem Jahr», sagt sie. «Leider hat er die Einweihung der sanierten Müllkippe nicht mehr erlebt, für die er sich sein Leben lang einsetzte.» Die Strasse gleich daneben wurde Anfang Juni ihm zu Ehren umbenannt. Sie heisst jetzt «Leonard K. Brundage Way».

Kinder erkrankten an Krebs

Anfangs habe es noch kaum Hochwasser gegeben, sagt Ida Brundage. Die erste Überschwemmung habe vor etwa 30 Jahren stattgefunden. Brundage erinnert sich, dass sie an jenem Tag eine Pizza bestellte. «Als der Kurier hier ankam, packte ihn die Panik, weil alles überschwemmt war. ‹Mein Gott, ich muss hier weg!›, rief er und wendete das Auto.» Aber richtig schlimm sei dann der Hurrikan «Floyd» im Jahr 1999 gewesen: «Mein Mann und meine Tochter riefen mich an, ich solle schnell nach Hause kommen. Die Fahrt von meinem Arbeitsort nach Hause dauerte normalerweise ein paar Minuten. Wegen der Überflutung brauchte ich zwei Stunden. Ich war in Panik.» Bei der Anfahrt habe sie gesehen, wie Anwohner mit Booten evakuiert wurden.

Bei ihrem Haus stand das Wasser zwei Meter tief. Aber sie und ihre Familie blieben. «Nachts war alles stockdunkel, weil der Strom ausfiel. Der Keller war überflutet. Ich hatte eine Schachtel dort mit Erinnerungen an die Kinder; ihre Stofftiere und Zeugnisse, Briefe, Fotos. Alles war zerstört. Das bringt auch die Versicherung nicht mehr zurück. Und man warnte uns davor, dass das Wasser giftig sei.» Von da an kamen die Überschwemmungen in immer schnellerem Rhythmus. «Eigentlich schlafen wir nie völlig entspannt», sagt Brundage. «Man ist immer in einem Alarmzustand.» Sie ist überzeugt, dass es auch am Klimawandel liegt. «Schau nur», sagt sie, «32 Grad, und dabei ist es erst Mitte Juni.»

«Wir baten die Verwaltung, die Schule für die Bewohner zu öffnen, die nicht in ihren Häusern bleiben konnten. Aber nichts geschah. Erst als Journalisten hierherkamen und die Bilder am Fernsehen gezeigt wurden, handelten die Verantwortlichen.»

Es kam auch immer wieder zu gesundheitlichen Problemen. «Ein Nachbarsjunge, der jeweils auf der Müllkippe spielte, erkrankte mit 13 Jahren an Darmkrebs; das ist ungewöhnlich in diesem Alter. Er starb schnell.»

Sanierungen im Bereich Wasser brauchen viel Zeit

Das Wasser ging rasch wieder zurück. Aber die Wut über die untätige Verwaltung staute sich über die Jahre an und wurde immer grösser. Für die Bewohner geht es um viel mehr als Baupläne und Budgets, es geht für sie ebenso sehr um soziale und historische Probleme, die sich mit Ingenieurskunst allein nicht lösen lassen. Dabei hilft es nicht, dass Infrastrukturprojekte wie der Deich, der Eastwick vor Überschwemmungen schützen soll, enorm zeitaufwendig sind.

Das sagt auch Stephen Rochette vom U. S. Army Corps of Engineers, das mit der Planung des Deichs beauftragt ist. «Das Projekt begann mit einem Fragebogen der Stadtverwaltung im Jahr 2011», erzählt er. «Mit der Vorstudie begannen wir dann 2019. Seit letztem Herbst liegt das Projekt auf dem Tisch, und die Anwohner können sich dazu äussern. Falls wir grünes Licht bekommen, wäre der Deich in etwa 15 Jahren fertig.» Er sagt, er verstehe die Frustration der Bewohner über die lange Dauer. «Sie sagen zu uns: ‹Bringt das endlich in Ordnung, löst das Problem!› Aber man kann die Überschwemmungen nicht einfach beseitigen, höchstens die Folgen mindern.»

Gerade Infrastrukturprojekte im Bereich Wasser würden so lange dauern, dass Präsident Biden eine Fertigstellung wahrscheinlich nicht mehr erleben werde.

Eastwick, umgeben von Wasser, ist eine Falle

Oft gebe es auch Voraussetzungen, die sich nicht ändern liessen. So liegt Eastwick an einem der tiefsten Punkte in Philadelphia; Wasser aus einem riesigen Einzugsgebiet fliesst am Ende hierher. Wenn es 100 Kilometer von Eastwick entfernt regne, steige hier das Wasser, sagt Rochette.

Eastwick liegt eingezwängt zwischen Sümpfen und dem Delaware-Fluss im Süden, dem Schuylkill-Fluss und dem Mingo-Bach im Osten; nur wenige Kilometer flussaufwärts im Westen von Eastwick fliessen der Derby-Bach und der Cobbs-Bach zusammen. Deshalb könne Eastwick fast von allen Seiten überflutet werden, zudem machten sich Tropenstürme und der steigende Meeresspiegel bemerkbar, sagt Rochette.

Das Deichprojekt nimmt Jahrzehnte in Anspruch

Rochette rechnet damit, dass mit dem Deich, der etwa 13 Millionen Dollar kostet, jährlich Schäden von durchschnittlich 4 Millionen Dollar vermieden werden können. Aber so ein Projekt sei enorm komplex.

Nur schon die Frage der Bodenrechte und des Eigentums sei kompliziert. Diverse Stakeholder-Gruppen seien involviert: die Regierungen der USA, des Gliedstaats Pennsylvania, des Bezirks Delaware und der Stadt Philadelphia, die Behörde für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Fema, die Umweltschutzbehörde, Forschungsgruppen sowie lokale NGO wie Eastwick United.

Erschwerend sei, dass sich die Politik innerhalb eines so langen Zeitraums auch immer wieder ändere. Widerstand erwächst dem Projekt im Moment vor allem von Gruppierungen ausserhalb von Eastwick. Denn, wie Rochette selbst sagt, durch den Deich würde ein Teil des Wassers umgeleitet und das Problem in andere Quartiere verschoben. Damit die Bewohner nicht nochmals 15 Jahre warten müssen, ist geplant, in der Zwischenzeit zum Schutz vor dem Hochwasser sogenannte Schanzkörbe aufzustellen, also mit Erde gefüllte Drahtkörbe, wie sie auch im Militär Verwendung finden.

Einige Bewohner zögen eine Umsiedlung vor

Korin Tangtrakul arbeitet im Amt für Nachhaltigkeit in der Stadtverwaltung von Philadelphia und koordiniert dort das Programm «Eastwick: From Recovery to Resilience». Sie arbeitet eng mit den Bewohnern und ihren lokalen Organisationen zusammen. An diesem Vormittag kommt sie mit dem Velo im Gemeinschaftszentrum von Eastwick an, wo sie einen Stapel Einladungen für das baldige Nachbarschaftsfest vorbeibringt. Den geplanten Deich sieht sie lediglich als Teil eines grösseren Programms, zu dem auch ein Frühwarnsystem, die Reinigung und Instandstellung des Abwassersystems, Informationen für die Bewohner und der Schutz der Häuser gegen Hochwasser gehören. Sie nimmt auch regelmässig an Bürgerversammlungen teil.

Tangtrakul stellt fest, dass nicht alle vom Deichprojekt begeistert sind. «Einige haben genug von den dauernden Belastungen und mögen nicht noch weitere Jahre mit dem Hochwasser leben», sagt sie. Viel ist die Rede von Umweltgerechtigkeit. Will heissen: Es ist kein Zufall, dass zum Beispiel Müllkippen ausgerechnet in afroamerikanischen Quartieren gebaut werden. «Die Anwohner zögen es vor, wenn ihnen die Stadt einen alternativen Wohnort anbieten oder ihnen ihr Haus abkaufen würde», sagt Tangtrakul. Tatsächlich existieren solche Pläne. Das Problem ist allerdings, dass in den besonders gefährdeten Teilen von Eastwick vor allem Reihenhäuser stehen. «Eigentlich müssten dann jeweils alle ausziehen oder niemand.» Das ist aber schwierig, weil es so viele verschiedene Meinungen unter den Bewohnern gibt. Tangtrakul deutet an, dass die Verhandlungen mit der Bevölkerung schwierig seien und es vertrauensbildende Massnahmen brauche.

Das «Stadterneuerungsprojekt» hinterliess tiefe Wunden

Woher das verbreitete Misstrauen kommt, weiss der Urbanist Michael Nairn von der University of Philadelphia. «In den fünfziger Jahren gab es in Eastwick, wie vielerorts in den USA, ein Stadterneuerungsprojekt», sagt er. «Man sprach von Sanierung, aber eigentlich war das sogenannte Urban Renewal einfach ein Plan, um die Schwarzen zu vertreiben.» Das sei umso absurder gewesen, sagt er, als Eastwick ein lebendiges, durchmischtes Arbeiterquartier gewesen sei. Es gab nichts zu «sanieren».

Aber die Regierung konfiszierte etwa 2500 Häuser, warf 8000 Bewohner hinaus und plante einen «modernen» Vorort für 60 000 Menschen. «Ein städtebaulicher Unsinn», sagt Nairn. «Schon damals war der feuchte Boden denkbar ungeeignet für so viele Bewohner.»

Tatsächlich war niemand daran interessiert, nach Eastwick zu ziehen, denn zwischen 1960 und 2000 sank die Einwohnerzahl von Philadelphia permanent, von etwa 2 auf 1,5 Millionen. Es gab keine Zuzüger und keine Nachfrage nach Häusern. Viele Gebäude wurden abgerissen, aber aus den versprochenen Neubauten wurde nichts. Eine intakte Gemeinschaft war zerstört worden, übrig blieben Brachen und Ruinen. Entgegen den Stadterneuerungsplänen wurde Eastwick nicht weisser, sondern schwärzer – und ärmer. Heute sind rund 80 Prozent der Bewohner Afroamerikaner. Zudem schlossen mehrere Schulen, was dazu führt, dass noch weniger Familien hierherziehen – eine Abwärtsspirale. Bis heute wirken Teile von Eastwick, als Folge der «Sanierung», zerrissen; manche Strassen führen ins Nichts. Vor allem aber spürt man den tiefen Groll der Bewohner.

Vielleicht hätte man gar nie hier bauen sollen, sagt Nairn. Der Ort sei schon früher ungeeignet gewesen, und die Lage habe sich verschlimmert. «Aber die Leute sind nun einmal hier, sie sind mit dem Ort verbunden und wollen nicht weg.»

Das galt auch für die verwitwete Ida Brundage und ihren Mann Leo, der in Eastwick geboren war. Vor siebzig Jahren wurde er ebenfalls ein Opfer der «Stadterneuerung». «1958 vertrieben sie alle von hier, auch ihn», sagt sie. «Nach der Heirat kehrte er mit mir hierher zurück. Nach jeder Flut hätten wir umziehen können. Aber er wollte sich von niemandem mehr vertreiben lassen. Seiner Meinung nach war es an den Bewohnern und nicht an der Regierung, zu entscheiden, was mit dem Quartier geschieht.» Sie ist froh über das Geld aus dem Infrastrukturfonds. Aber so richtige Begeisterung über Biden und seine Projekte kommt nicht auf. Man spürt die Narben von jahrzehntelangen Enttäuschungen. Und zusammenfassend sagt sie einen Satz, den man in Eastwick oft hört: «Mit Geld allein lassen sich die Probleme nicht lösen.»

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