Donnerstag, Oktober 3

Sie hat drei Pässe, zwei jahrhundertealte Instrumente und immer noch jede Menge Ideen für Projekte und Festivals. Sol Gabetta ist angekommen – in der Schweiz und ganz oben in ihrer Zunft. Heute erhält sie den Schweizer Musikpreis.

Der Schweizer Musikpreis sei für sie «eine ganz besondere Ehre», sagt Sol Gabetta. Natürlich, denkt man, was soll eine Künstlerin auch anderes sagen, wenn ihr heute Abend im Casino de Montbenon in Lausanne der Grand Prix Musik des Bundesamtes für Kultur verliehen wird? Und doch wird im Gespräch mit der wohl bekanntesten Cellistin unserer Tage rasch klar: Diese Worte sind mehr als eine Floskel. Bei aller Höflichkeit würde sich Gabetta nämlich nie in Schmeichel- und Streicheleinheiten versuchen. Dem stünde schon ihr Temperament, aber auch ihr unbändiger Redefluss im Weg.

Die Ehrung vermittelt ihr vielmehr das Gefühl, endgültig angekommen zu sein. Angekommen in der Schweiz, in der sie seit bald zwanzig Jahren einen Wohnsitz hat – jedenfalls immer dann, wenn sie gerade nicht einen ihrer weltweiten Konzertauftritte absolviert. Deren Anzahl hat sie inzwischen allerdings von ehedem 130 im Jahr auf 80 reduziert. «Nachdem wir so viel gereist waren, hatte ich seinerzeit hier erstmals das Gefühl, zu Hause zu sein», erinnert sich die gebürtige Argentinierin mit dem italienischen Namen und den russisch-französischen Vorfahren. Mit «wir» meint sie übrigens sich und ihr Cello.

Vorliebe für die Schweiz

Angekommen ist sie in dem Land, in das sie ihrem ersten Lehrer Ivan Monighetti, einem der letzten Schüler der Cello-Legende Mstislaw Rostropowitsch, als Jungstudentin gefolgt war, als der Russe von Madrid nach Basel wechselte. «Die Musik-Akademie war zu jener Zeit einfach sensationell, denn da sind Künstler wie Gidon Kremer eingeladen worden, und mit solchen grossartigen Persönlichkeiten schon sehr früh in Verbindung zu kommen, das war musikalisch einmalig», schwärmt Gabetta noch heute.

Vor allem aber Monighetti hat Sol Gabetta geprägt. Denn er «war kein Lehrer, der nur ein bisschen Cello vermittelt hat, sondern ein Mentor, von denen es immer weniger gibt», sagt die 43 Jahre alte Musikerin, die längst selbst zu einem Vorbild für jüngere Künstlerinnen und Künstler geworden ist. Monighettis Hingabe sei seinerzeit schlicht «unglaublich» gewesen: Ob Literatur, Spaziergänge, Sport und Ernährung oder auch die nötige Zeit für Schularbeiten – «er hat sich wirklich um alles gekümmert». Kein Wunder, dass Gabetta bis heute seinen musikalischen Rat schätzt und fast täglich mit ihm kommuniziert: «Auch mit vierzig hört man schliesslich nicht auf zu lernen.»

Längst ist auch die Musik-Akademie der Stadt Basel zu einem Teil ihres Lebens geworden. «Insofern ist mir von der Schweiz eine Art Identität implantiert worden.» Drei Pässe trägt Gabetta inzwischen mit sich und macht doch – bei allen Temperamentsunterschieden – kein Hehl aus ihrer Vorliebe für die Alpenrepublik. Und so stand denn auch schnell fest, dass sie die 100 000 Franken Preisgeld des Grand Prix Musik in Projekte zur Förderung der nachfolgenden Musikergeneration in der Schweiz einbringen möchte.

Nachwuchsförderung

Eine Stiftung schwebt ihr da vor, die ausgewählten Nachwuchsstreichern über zwei oder drei Jahre bei der Etablierung im Klassik-Business hilft – wohl wissend, dass solch eine Idee in der Umsetzung «viel Zeit und finanzielle Investitionen, Mäzene und natürlich erst einmal ein tragfähiges Konzept» braucht. Und doch ist da bei Gabetta schon im nächsten Augenblick wieder jener Elan zu spüren, der alle potenziellen Hürden und Schwierigkeiten umgehend beiseitezufegen scheint.

Man spürt diese umwerfende Energie auch, wenn Gabetta vom eigenen Solsberg-Festival in ihrem Heimatkanton Aargau erzählt, bei dem sie wichtige Erfahrungen als Veranstalterin und Programmplanerin gemacht hat. «Anfangs habe ich die jungen Künstler dort allein Recitals spielen lassen, aber es kamen nur wenige Besucher», erinnert sich Gabetta. «Deshalb haben wir in diesem Jahr einen Versuch gemacht und ihre Auftritte mit einem Duo oder Trio gemeinsam mit mir ergänzt – und das war ein Riesenerfolg!»

Der Mutter eines inzwischen siebenjährigen Sohnes ist freilich auch klar: «Solch eine Unterstützung muss eine langfristige Sache sein und nicht ein einmaliges Konzert oder eine CD-Aufnahme – das ist wie eine Elternschaft.» Und welche Probleme müsste «Mutter Sol» im Fall der Nachwuchsmusiker zuerst angehen? «Das erste Ziel wäre, besondere Leihinstrumente für die jungen Musiker zu bekommen, und zwar verlässlich und ohne die Sorge, dass ihnen diese plötzlich wieder weggenommen werden.» Denn das sei «brutal» für einen jungen Menschen, der gerade eine Verbindung, eine «künstlerische Identität» mit dem Cello aufgebaut habe.

Saitenwechsel

Eine Identität, die sie sich selbst geschaffen hat mit ihren beiden jahrhundertealten Instrumenten: einem Stradivari-Cello mit historischer Besaitung für die älteren Werke und einem Goffriller-Cello mit Stahlsaiten für alles ab der Klassik und Romantik. Wobei manchmal auch ein Saitenwechsel gefragt ist: wie jüngst bei ihrer CD-Einspielung von Mendelssohns Werken für Cello und Klavier mit ihrem Klavierpartner Bertrand Chamayou. Nachdem sie die Stücke schon viele Male aufgeführt hatte, kamen im Studio erstmals umwickelte Darmsaiten und ein historischer Blüthner-Flügel zum Einsatz. Das Ergebnis? Eine grosse Herausforderung und ein noch grösseres Glücksgefühl – «denn es ist genau das, was wir immer gesucht haben».

Grenzen austesten und auch überschreiten, Neugier bewahren und Einflüsse aufnehmen: Es ist diese Lust und Liebe zum Werk, die ihr Monighetti vermittelt hat und die seine einstige Schülerin bis heute antreibt. Denn letztlich sollten sich Musiker immer überlegen: «Warum bin ich heute auf der Bühne? Was ist der Sinn meiner Interpretation?»

Und für einen Moment hält da sogar ihr sonst scheinbar pausenlos sprudelnder Gedankenfluss inne – bis Gabetta sich selbst die Antwort gibt: «Für mich ist es eine Art von Interpretationsphilosophie, mich zu hinterfragen. Was bin ich überhaupt für ein Mensch – und wo will ich am Ende meiner langen Musiker-Lebenszeit einmal ankommen?» Ankommen – das scheint wirklich ein Schlüsselwort für diese kluge und weltgewandte Künstlerin zu sein.

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