Samstag, Oktober 5

Wenn sich die weltbesten Sportlerinnen und Sportler zum Wettkampf treffen, springt das Bruttoinlandprodukt der Schweiz in die Höhe. Der Effekt macht den hiesigen Statistikern das Leben schwer.

Die Sache ist verwirrend: Eigentlich sind sowohl das Bundesamt für Statistik (BfS) als auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) amtliche Stellen. Und eigentlich messen beide Amtsstellen regelmässig, wie stark die Schweizer Wirtschaft wächst. Doch irritierenderweise liegen die separat voneinander publizierten Zahlen oft weit auseinander. Entsprechend nahe liegt die Frage, ob die beiden Behörden tatsächlich dasselbe Wachstum messen.

IOK, Fifa und Uefa als Wachstumsmotoren

Ein Beispiel: Vergangene Woche teilte das BfS mit, gemäss ersten Schätzungen sei das Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz im Jahr 2023 um 0,7 Prozent gewachsen. Diesen Dienstag meldete hingegen das Seco, die Wirtschaft habe 2023 um 1,2 Prozent zugelegt. Zwar sind beide Werte niedrig und spiegeln eine insgesamt eher unterdurchschnittliche Wirtschaftsentwicklung. Dennoch ist erklärungsbedürftig, warum das Seco das Wachstum fast doppelt so hoch einschätzt wie das BfS.

Des Rätsels Lösung liegt nicht in der Schweiz, sondern in Sportarenen rund um den Globus. Denn wenn Cristiano Ronaldo an internationalen Sportanlässen seine Tore schiesst oder Simone Biles ihre Turnkunst zeigt, steigt wie von selbst das Schweizer BIP. Dies deshalb, weil viele Sportverbände, die solche Anlässe organisieren, in der Schweiz ansässig sind, namentlich das Internationale Olympische Komitee (IOK), der Weltfussballverband (Fifa) und der europäische Fussballverband (Uefa).

Diese Verbände führen ihre Events alle vier Jahre durch, und zwar in Jahren mit einer geraden Jahreszahl. Die von der Fifa organisierte Fussball-Weltmeisterschaft findet dabei stets in jenen geraden Jahren statt, in denen die Uefa keine Fussball-Europameisterschaft organisiert. Nur in Ausnahmefällen finden die Anlässe in ungeraden Jahren statt. So mussten etwa die Olympischen Sommerspiele von Tokio und die Uefa-Euro wegen der Corona-Pandemie von 2020 auf 2021 verschoben werden.

Milliardenschwere TV- und Marketingrechte

Warum ist das relevant für das Schweizer Wirtschaftswachstum? Weil die globalen Standards zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung festhalten, dass die Wertschöpfung von Firmen und Organisationen, die in der Schweiz ihren Sitz haben, dem BIP der Schweiz angerechnet wird. Die milliardenschweren Einnahmen, die das IOK, die Fifa und die Uefa beispielsweise mit dem Verkauf von Fernseh- und Marketingrechten generieren, blähen somit alle zwei Jahre das Schweizer BIP auf.

Konkret werden diese Einnahmen der Unterhaltungsbranche – genau: dem Sektor «Kunst, Unterhaltung und Erholung» – zugerechnet. In dieser Branche schlägt die Wertschöpfung denn auch alle zwei Jahre heftig aus, zumal auch alle zwei Jahre zwei grosse Sportanlässe stattfinden: einerseits die Fussball-Europameisterschaft und die Olympischen Sommerspiele und zwei Jahre später die Fussball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Winterspiele.

Das fällt ökonomisch ins Gewicht. So zeigt sich, dass die Sportanlässe das Schweizer BIP im jeweiligen Jahr um rund 0,4 Prozentpunkte erhöhen. In den Folgejahren sinkt das BIP in ähnlichem Mass. Wenn daher das BfS das Wachstum für 2023 mit 0,7 Prozent und das Seco mit 1,2 Prozent angibt, ist der Unterschied primär mit den Sportanlässen zu erklären. Hinzu kommen noch Unterschiede aufgrund der Bereinigung saisonaler oder kalendarischer Effekte, etwa von Schaltjahren.

Anlässe werden immer grösser

Solche Ausschläge erschweren die Interpretation des BIP, zumal sie nicht jedes Jahr stattfinden. Werden sportliche Grossanlässe durchgeführt, wie etwa 2024 mit der Fussball-EM und den Olympischen Sommerspielen, steigt das Wachstum der Schweiz, ohne dass dies zwingend auf eine gute Konjunkturlage schliessen lässt. Im Folgejahr, wenn die mit Sport-Events verbundene Wertschöpfung wegbricht, sinkt das BIP, auch wenn die Konjunktur vielleicht in besserer Verfassung ist als im Vorjahr.

Das Seco stützt sich daher für die Konjunkturbeobachtung seit 2018 auf um Sport-Events bereinigte Daten, wie Philipp Wegmüller, Ökonom beim Seco, erklärt. «Das bedeutet nicht, dass wir die Sportanlässe ausblenden. Vielmehr wird ihr Effekt zeitlich geglättet.» Ein Beispiel: Die Zahlung für TV-Rechte an der diesjährigen Fussball-EM wird nicht voll dem Jahr 2024 zugerechnet, sondern nur zu einem Viertel. Je ein Viertel wird 2023 und 2025 zugeordnet, und je ein Achtel den Jahren 2022 und 2026.

Die Glättung ist laut Wegmüller auch deshalb geboten, weil die Sportveranstaltungen immer grösser werden. Entsprechend steigen die damit verbundenen Zahlungsströme und die Auswirkungen auf das BIP. Hinzu komme, dass in einem Kleinstaat wie der Schweiz ein Grossanlass weit tiefere Spuren hinterlasse als in einem grossen Land. Hätte die Fifa ihren Sitz beispielsweise in den USA, müsste das US-BIP kaum korrigiert werden, zumal dort der Effekt kaum auffallen würde.

Verschiedene Absender, verschiedene Daten

Machen sich die Sportanlässe auch ausserhalb der Wachstumsdaten bemerkbar, etwa auf dem Arbeitsmarkt? Laut Einschätzung der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) ist das nicht der Fall. Zwar werden an den Austragungsorten bei Anlässen temporär mehr Leute eingestellt. Weil dies aber fast ausschliesslich im Ausland der Fall ist, fällt dies hierzulande nicht ins Gewicht. So sind in den Schweizer Hauptsitzen die Leute zumeist dauerhaft angestellt.

Dennoch bleibt die Verwirrung gross. Denn neben dem Seco stützen sich unter anderem auch die Schweizerische Nationalbank und die vom Bund eingesetzte Expertengruppe Konjunkturprognosen in erster Linie auf bereinigte Daten, weil diese Zahlen bessere Rückschlüsse auf die Konjunktur zulassen. Das BfS hingegen folgt internationalen Standards und verzichtet auf solche Korrekturen, wobei auch das Seco weiterhin sowohl korrigierte als auch unkorrigierte Daten publiziert.

Was daraus zu lernen ist? Wer sich in der Schweiz auf eine Diskussion über das Wirtschaftswachstum einlässt, sollte zuerst immer nach dem Absender der herumgebotenen Daten fragen. Tut man dies nicht, ist die Gefahr gross, dass das Gegenüber vor allem jene Daten zitieren wird, die besser zum eigenen Argument einer angeblich wachstumsstarken oder eben wachstumsschwachen Schweiz passen.

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