Die gescheiterten Fusionsgespräche mit Bureau Veritas ändern nichts an der Ausgangslage des Schweizer Prüfkonzerns SGS: Die Strategie stimmt, das Marktpotenzial ist vorhanden, Margenverbesserungen werden folgen.
Der Schweizer Prüfkonzern SGS hat bewegte Tage hinter sich. Mitte Januar wurden Fusionsgespräche mit der französischen Rivalin Bureau Veritas bekannt. Keine zwei Wochen später scheiterte der 33-Mrd.-$-Deal – zur Freude der Börse.
Gemäss einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg zog SGS wegen wachsender Bedenken über Integrationsrisiken und behördliche Hürden den Stecker. Zudem war unklar, ob das Management von Bureau Veritas die Fusion geschlossen unterstützt. Die Ankeraktionäre Wendel (26,5% an Bureau Veritas) und Groupe Bruxelles Lambert (GBL, 18,9% an SGS) schienen unterschiedlich stark interessiert zu sein.
Strategisch hätte die Fusion hinsichtlich der erwarteten Synergien und der geschätzten Einsparungen von 400 Mio. € Sinn gemacht. Doch Investoren übten teilweise heftige und berechtigte Kritik. Letztlich dürften Detailstreitigkeiten den Ausschlag gegeben haben; bei einer Fusion dieser Grössenordnung ist Einigkeit zentral.
Aktiendividende ist für SGS notwendig
Jetzt rückt SGS ohne Bureau Veritas in den Fokus. Und damit die Frage, ob es sich lohnt, kurz vor dem Jahresabschluss am 11. Februar, SGS-Aktien zu kaufen. Seit dem Mehrjahrestief im Dezember 2023 haben sie sich deutlich erholt, notieren aber weit unter dem Niveau vom Herbst.
Ein Pluspunkt ist CEO Géraldine Picaud, die als designierte Leiterin der gescheiterten Fusion galt. Bereits als Finanzchefin von Holcim überzeugte sie die Investoren. Seit ihrem Amtsantritt im März 2024 hat sie bei SGS eine Leistungskultur mit straffen Strukturen und klarer Ergebnisverantwortung etabliert.
Ein Schwachpunkt ist hingegen der Buchwert je Aktie, also das Eigenkapital der Aktionäre. Er ist seit Jahren rückläufig, steht aber wohl vor einer Trendwende.
«GBL ist ein klassischer Cashflow-Investor und forderte stets hohe Ausschüttungen», erklärt Patrik Jäger, Fondsmanager bei der Vermögensverwaltungsboutique IFS Independent Financial Services, den rückläufigen Buchwert je Titel. SGS hat regelmässig den gesamten oder sogar mehr als den Gewinn als Dividende ausgeschüttet und Aktienrückkäufe durchgeführt. Zudem belasten Währungsumrechnungen das Eigenkapital.
Picaud kritisiert diese Ausschüttungsstrategie – sie bevorzugt Investitionen in Wachstum. Analyst Rolf Rathmayr von der Privatbank Reichmuth & Co erwartet dennoch keine Dividendenkürzung: «Das wäre ein schlechtes Signal an den Markt.» Wahrscheinlicher sei erneut eine Aktiendividende zur Bilanzstärkung und zur Finanzierung weiterer Übernahmen. 65% der Aktionäre nahmen zuletzt das Angebot an, die Dividende (für 2023: 3.20 Fr.) in Form von neuen Titeln zu erhalten.
Auch Daniel Bürki, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank ZKB, hält diese Option für akzeptabel. Die Verwässerung sei mit rund 2% moderat, «aber es ist eine kleine Kapitalerhöhung».
Umsetzung der «Strategie 27» im Fokus
Die Aktiendividende verschaffe SGS «zusätzliche Feuerkraft» für Übernahmen, sagt Picaud. Anfang 2024 stellte der Konzern die «Strategie 2027» vor und präzisierte sie im November am Kapitalmarkttag. Ein Kernpunkt: die Wiederbelebung der Aktivitäten im Bereich Fusionen und Übernahmen. Am 20. Januar gab SGS den Kauf von RTI Laboratories bekannt, die dreizehnte Akquisition seit Anfang 2024.
Der Markt für Tests, Inspektionen und Zertifizierungen (TIC: Testing, Inspection, Certification) wächst jährlich 4 bis 5%, doch SGS strebt mehr an: 5 bis 7% aus eigener Kraft plus 1 bis 2% durch Zukäufe, was zu konstanten Wechselkursen insgesamt 6 bis 9% Wachstum ergibt. Bis 2027 plant das Unternehmen mindestens 600 Mio. Fr. zusätzlichen Umsatz im Bereich Nachhaltigkeit, wo beispielsweise rezyklierte Stoffe zertifiziert werden, und 200 Mio. Fr. im Bereich Digital Trust, wo es unter anderem um Cybersicherheit geht. Zudem soll sich der Umsatz in Nordamerika auf 1,4 Mrd. Fr. verdoppeln.
Mit den angekündigten Kosteneinsparungen in Höhe von 150 Mio. Fr., einem optimierten Geschäftsmix und dank der operativen Hebelwirkung will SGS bis 2027 die bereinigte operative Gewinnmarge um mindestens 1,5 Prozentpunkte steigern – von 14,7 auf mehr als 16,2%. Die «Strategie 2027» sei schlüssig und realistisch, urteilt Bürki.
«Bereits 2024 dürfte SGS ein mittleres bis hohes einstelliges Umsatzwachstum erreichen und die Marge deutlich steigern», bekräftigt Jäger, der seine Position im vergangenen Jahr erhöht hat.
SGS kann trotz tiefer Eigenkapitalquote offensiv agieren
Unter Picaud verfolgt SGS mit ihren 99’250 Mitarbeitenden eine klare Strategie der Marktbereinigung durch Akquisitionen. Der TIC-Markt ist stark fragmentiert, was eine Konsolidierung nahelegt. Die vier grössten Anbieter – SGS, Bureau Veritas, Eurofins und Intertek – haben zusammen einen Marktanteil von nur 20 bis 25%.
Analyst Rathmayr betont, dass Akquisitionen notwendig seien, um den Marktanteil signifikant zu steigern. SGS muss daher – wie zuletzt – verstärkt auf Übernahmen setzen, sowohl zur Skalierung mit kleineren Laborketten im Bereich Environmental Testing als auch zur Stärkung strategischer Segmente wie Health & Nutrition oder Digital Trust.
Aber kann sie sich diese Wachstumsstrategie angesichts steigender Schulden leisten?
Die Nettoverschuldung im Verhältnis zum Ebitda wird für 2024 auf 2 geschätzt, die Eigenkapitalquote ist mit prognostizierten 13% niedrig.
Dennoch sieht Bürki keine Bilanzprobleme, die weiteres Wachstum durch Akquisitionen verhindern würden. SGS generiert einen starken Cashflow, und weil der Ebitda in den kommenden Jahren voraussichtlich wächst, dürfte sich auch die finanzielle Flexibilität verbessern, prognostiziert Jäger.
SGS ist in den USA «unterrepräsentiert»
Auch die Expansion in Nordamerika respektive in den USA, wo SGS im Vergleich zu Bureau Veritas unterrepräsentiert ist, steht im Vordergrund. Während die USA 27% des globalen TIC-Umsatzes ausmachen, erwirtschaftet SGS dort nur 10% – ein erhebliches Wachstumspotenzial. Wie profitabel dieser Markt ist, bleibt unklar, da SGS keine detaillierten Zahlen veröffentlicht. ZKB-Analyst Bürki sieht die höchste Marge in der Region Asien-Pazifik, dahinter folgen Nordamerika und Europa.
Unter dem früheren CEO Frankie Ng setzte SGS stark auf Asien, wo sie dank schnellem Wachstum eine führende Präsenz aufbaute. Doch geopolitische Spannungen, Chinas Wachstumsverlangsamung und der Führungswechsel haben den Fokus nun verlagert – eine strategisch sinnvolle Neuausrichtung, insbesondere angesichts der US-Zollpolitik unter Trump.
SGS ist klar strukturiert: Die Division Testing & Inspection (89% des Umsatzes) umfasst vier Geschäftseinheiten mit Test- und Prüfverfahren für Industrie, Umweltschutz, Rohstoffe und Gesundheit. Die Division Certification (11%) konzentriert sich auf Zertifizierungen und Nachhaltigkeitsdienstleistungen. SGS betreibt weltweit 2700 Büros und Labore.
Das Umsatzwachstum von SGS wird von vier globalen Megatrends angetrieben: Nachhaltigkeit, neuen Technologien, Nearshoring und zunehmender Regulierung.
Ein zentraler Treiber ist beispielsweise der Ausbau der PFAS-Testkapazitäten – ein dynamischer Markt, besonders in den USA und Europa. PFAS sind langlebige Chemikalien, die Umwelt und Gesundheit belasten. Sie stehen im Verdacht, Leberschäden, Schilddrüsenerkrankungen, Fettleibigkeit, Fruchtbarkeitsstörungen und Krebs zu verursachen.
«SGS profitiert von den PFAS-Regulierungen in Europa und den USA – selbst wenn unter Trump die nationale Regulierung vorübergehend ausgesetzt wurde», sagt Jäger. Viele US-Bundesstaaten setzen inzwischen strengere eigene Vorgaben um, während in Europa die REACH-Verordnung die Nachfrage nach Prüf- und Zertifizierungsdienstleistungen ankurbelt.
Chancen bietet auch der ESG-Bereich. Dort dominieren die «Big Four» (Deloitte, EY, KPMG und PwC), obwohl Prüfgesellschaften wie SGS über mehr technische Expertise und Kapazitäten vor Ort verfügen. Im Pharmasegment gehört SGS bereits zu den Top fünf, plant aber weiteres Wachstum. «Gleichzeitig bleiben die Bereiche Natural Resources und Business Assurance von zentraler Bedeutung», betont Bürki. Die Marge im Bereich Business Assurance liegt derzeit bei rund 20%.
Aktien sind unter Picaud langfristig interessant
Im Vergleich zur Konkurrenz ist SGS zuletzt schneller gewachsen als Intertek, aber langsamer als Bureau Veritas. Allerdings haben die Margen wiederholt enttäuscht, und die Free-Cashflow-Rendite liegt unter der von Bureau Veritas und Intertek. Sie misst das Verhältnis des freien Cashflows zum Unternehmenswert (EV).
Eine Verbesserung respektive Trendwende wäre auch bei der Kapitalrendite (Return on Invested Capital, ROIC) wünschenswert. Zuletzt ist sie stetig gesunken und zeigte damit, dass das Unternehmen die investierten Mittel weniger gewinnbringend einsetzte. Während die Kapitalrendite im Jahr 2023 bei 12% liegt, betragen die Kapitalkosten (Weighted Average Cost of Capital, WACC) 6,5%. Die Differenz, der Economic Value Added (EVA), ist positiv.
«Für den Börsenkurs von SGS wird letztlich entscheidend sein, ob die Ziele unter der ‹Strategie 2027› hinsichtlich der Profitabilität erreicht werden», ist Bürki von der ZKB überzeugt. Für Fondsmanager Jäger geht es vor allem darum, die Führung und die Organisation so zu gestalten, dass die lokalen Manager gestärkt werden, weil sie den lokalen Markt am besten kennen – gleichzeitig können gruppenweit Synergien, wie beim Einkauf, besser genutzt werden.
In diesem personalintensivem Geschäft – Hauptkostenblock sind die Löhne (2023: 50% des Umsatzes) – sollte das Sparpotenzial dank schnell realisierbarer Massnahmen bis Ende 2025 erreicht werden, was baldige Margenverbesserungen verspricht. The Market sieht in der eingeschlagenen Strategie den richtigen Weg, ist von CEO Géraldine Picaud überzeugt und empfiehlt die SGS-Aktien trotz des Bewertungsniveaus, das wenig Fantasie zulässt: Auf Basis der Konsensschätzungen für die nächsten zwölf Monate liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) bei 25 und der Unternehmenswert beim 12,9-Fachen des Betriebsergebnisses Ebitda, nur knapp unter dem zehnjährigen Durchschnitt.
Einen ersten Schub könnten die Aktien bereits am kommenden Dienstag mit den Ergebnissen für 2024 erhalten. Und auch im weiteren Jahresverlauf dürfte die Börsenreaktion positiv ausfallen, wenn SGS Schritt für Schritt die Profitabilität steigert. Dass Holcim mit Picaud die Ziele jeweils früher als angekündigt erreicht hat, stimmt zuversichtlich.