Samstag, September 20

Efrem Lukatsky / AP

Die beiden Gesellschaften leben in zwei Welten. Die Ukraine kämpft für ihre Zukunft, Russland für sein Imperium. Gemeinsam ist ihnen das Trauma von Krieg und Gewalt. Und die Angst vor der Vernichtung.

Seit über drei Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine: Mehr als 1300 Tage Sturmangriffe, Bombenhagel, Drohnenschwärme. Eine Million Soldaten stehen sich an einer mehr als 1000 Kilometer langen Front gegenüber. Die Verluste sind schrecklich: Analysten schätzten im März, dass 560 000 Russen tot oder verkrüppelt, vermisst oder desertiert sind. Auf der ukrainischen Seite sind es «nur» 300 000 – bei einer deutlich kleineren Bevölkerung. Seither sind noch einmal Zehntausende hinzugekommen.

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Die Welt schaut der Schlachterei fassungslos zu. Wieso liefern sich zwei Nachbarn, über Jahrhunderte eng verbunden, einen so gnadenlosen Kampf? Woher kommt der russische Hass, woher nehmen die Ukrainer die Kraft für ihren Widerstand gegen einen überlegenen Gegner? Und weshalb geht der Krieg scheinbar endlos weiter, ohne Aussicht auf Frieden?

Die Politik

In Kiew funktioniert die Politik grundlegend anders als in Moskau. Jeden Abend spricht Wolodimir Selenski zu den Ukrainern. Meist reicht ihm dafür ein Handy, das seine Ansprachen auf Video aufzeichnet. Er tut es empathisch, eindringlich, entschieden. Manchmal ist er fordernd; er richtet sich an den Westen, an die Unterstützer der Ukraine. Manchmal ist er wütend, auf Russland, den Feind. Und regelmässig taucht er an der Front auf, in Bunkern und Schützengräben. Der volksnahe Selenski verkörpert den Verteidigungswillen der Ukraine.

Wladimir Putin spricht selten. Wenn er es tut, dann oft auf der grossen Bühne. Viele seiner Auftritte sind bis in jedes Detail durchgeplant. Er trifft die Führer der Welt, in pompösen chinesischen Regierungsgebäuden und kürzlich auf einem amerikanischen Militärflugplatz. Manchmal besucht er Fabriken oder geht angeblich spontan auf Bürger zu. Nicht selten zeigt sich dann, wie sehr er den Bezug zur Realität verloren hat. Zu seinem Volk redete er zuletzt am Geburtstag Moskaus und am Feiertag für die Minenarbeiter. Es sind ritualisierte Ansprachen, mit sowjetisch anmutenden Formeln, über Russlands heldenhafte Geschichte und nationale Grösse. «Russlands Grenzen enden nirgends», sagte Putin 2016 scheinbar im Scherz. Eigentlich meinte er das bitterernst.

Für die Ukrainer ist das eine tödliche Bedrohung, weil der Imperialist Putin ihre Unabhängigkeit nie akzeptiert hat. Selenski aber steht für den unbändigen Willen der Ukrainer, ihren politischen Weg selbst zu bestimmen. Die Ukraine versteht sich als Subjekt der Staatenwelt, das über sein Schicksal selbst befindet. Die grundlegende Entscheidung fiel mit der Abstimmung über die Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Dezember 1991. Die Orange Revolution 2004 und der Protest auf dem Maidan im Winter 2013/14, der in einen Umsturz mündete, wiesen die Richtung nach Westen, nach Europa. Sie waren eine Absage an ein immer engeres Zusammengehen mit Russland.

Putin hält diese Wahl für oktroyiert. Er behauptet, die Ukraine werde von anderen Mächten beeinflusst und entscheide nicht eigenständig über ihr Schicksal. Dabei ist die Überzeugung, die Eigenstaatlichkeit und die eigene Kultur zu verteidigen und den aussenpolitischen Kompass selbst auszurichten, ein wichtiger Antrieb für die Ukrainer. Sie haben die Freiheit gewählt.

Die «russische Welt»

Putin und sein Regime haben dagegen den Untergang der Sowjetunion nie verwunden. Sie möchten nicht das politische System des sozialistischen Staates wiederherstellen. Über Lenin, den Begründer der UdSSR, hat sich Putin schon mehrmals abschätzig geäussert. Aber der territorialen Ausdehnung und der politischen Kontrolle über die einstigen Sowjetrepubliken trauert er nach. Besonders gilt das für die Ukraine und Weissrussland.

In öffentlichen Auftritten widerspricht er dem zwar: Im Krieg gegen die Ukraine sei es nie um Territorien gegangen, sondern um «unsere Leute» und ihre Rechte. Putin meint damit die Russischsprachigen, die in der russischen Propaganda die «russische Welt» («russki mir») bilden. Damit ist der Anspruch verbunden, dass Russland überall dort ein Mitspracherecht hat, wo Russisch gesprochen und die russische Kultur gepflegt wird. Deshalb sind Putins Äusserungen ein Euphemismus für die Wiederherstellung der Kontrolle über das verlorene Reich. «Unsere Leute» gibt es auch in Lettland und Estland, in der Moldau und in Kasachstan. Auch in der Ukraine impliziert es mehr als den Donbass, die Krim und «Neurussland», den Küstenstreifen der Südostukraine. Charkiw, Odessa, Mikolajiw, ja auch Kiew zählten dann dazu.

Putins schärfste Propagandawaffe ist die Darstellung der Ukraine als nationalsozialistischer Staat. Er wirft der Regierung in Kiew vor, alle Russischsprachigen zu verfolgen und Nazikollaborateure zu verklären. Den Kampf gegen das «Naziregime» in Kiew stilisiert er zur Fortsetzung des Kampfs gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Bei Zehntausenden ist das so sehr angekommen, dass sie vor allem zu Kriegsbeginn bereit waren, «die Sache der Grossväter» zu einem Ende zu bringen und freiwillig in den Kampf zu ziehen. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung trug in den vergangenen dreieinhalb Jahren den Krieg gegen die Ukraine zwar mit. Aber nur eine Minderheit brannte leidenschaftlich dafür und folgte der Propaganda.

Russlands Politik funktioniert auch nach innen so wie nach aussen: Dass sich jemand aus eigenem Antrieb politisch oder gesellschaftlich engagiert, glauben die Funktionäre nicht. Stets wittern sie dahinter auswärtige Kräfte. Wer sich gegen die offiziellen Positionen wehrt, muss vom Feind beeinflusst sein. Repressive Gesetze, Denunziationen und Zensur haben auch Zweifler zu Angepassten gemacht. Viele büssen für unbedachte Posts in sozialen Netzwerken. Oder für ihren ungebrochenen Willen, die Dinge beim Namen zu nennen, Politik und Gesellschaft schonungslos zu analysieren. Die einen werden zu grotesk langen Lagerhaftstrafen verurteilt. Andere werden als «ausländische Agenten» gebrandmarkt, auch wenn sie keinen Rubel aus dem Ausland beziehen. Aber sie denken selbst, und das ist verpönt.

Perspektivlosigkeit des Krieges

Die Ukraine hingegen bleibt auch nach dreieinhalb Jahren Krieg ein freiheitliches System. Zwar versucht Selenski, das Kriegsrecht zu nutzen, um seine Macht auszubauen. Es gelingt aber nicht richtig. Weil der ukrainische Staat schwach ist, weil er von ausländischer Unterstützung abhängt. Vor allem aber tolerieren die Ukrainer keinen Autoritarismus. Mehrfach musste der Präsident nach Protesten zurückkrebsen – zuletzt, als er die Korruptionsjäger entmachten wollte. Die Gesellschaft braucht Selenski als Symbol ihres Freiheitskampfes. Er braucht die Energie der Menschen, um diesen weiterzuführen.

Der Krieg hat die Ukraine wie Russland in die Perspektivlosigkeit geführt. Der Kreml kommt an der Front nicht voran und hat mit Europa einen zentralen Partner verloren. Die Regierung in Kiew sieht sich mit ständigen Rückschlägen und einer erschöpften Bevölkerung konfrontiert. Die Bereitschaft zu Zugeständnissen ist in beiden Ländern gestiegen. Nur haben weder Putin noch Selenski eine Antwort darauf, wie diese ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden können.

Die Soldaten

Geld hält den Krieg am Laufen – nicht nur deshalb, weil beide Seiten Milliardenbeträge in die Rüstung investieren. Das Geld ist vor allem in Russland noch immer für Hunderttausende ein Anreiz, sich in die Hölle der Front zu begeben. Es gab zwar immer auch Freiwillige, die aus Überzeugung in den Krieg zogen. Sie fühlten sich verpflichtet, das Vaterland zu verteidigen; so war es ihnen von der Propaganda eingebleut worden.

Aber wer hohe Schulden hat, wer in einer wirtschaftlich abgehängten Region seine Familie nicht über die Runden bringt oder glaubt, den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu müssen, fühlt sich vom Versprechen des Fronteinsatzes angesprochen. Manche, die ihr bisheriges Leben lang ihren Weg nur schwer fanden, wollen sich im Krieg beweisen. Sie wollen Heldenmut zeigen, aber auch ihre materiellen Umstände verbessern. Immer wieder gab es sogar Berichte darüber, dass Männer von ihren Verwandten zum Kriegsdienst gedrängt wurden, weil diese sich finanzielle Vorteile erhofften. Einige merkten auch schnell, dass das versprochene Geld gar nicht so weit reicht, wenn sie davon selbst gute Ausrüstung für den Fronteinsatz erwerben müssen.

Je länger der Krieg dauert, desto grösser werden die Versprechungen von hohem Sold, Kompensationen und Privilegien für die Familien. Und je potenter eine russische Region ist, desto lukrativer ist das Angebot der Rekrutierungsämter. Zeitweise betrugen die Entschädigungen für das erste Jahr umgerechnet rund 50 000 Franken. Das durchschnittliche Jahresgehalt lag 2024 bei umgerechnet gut 10 000 Franken. Schlecht qualifizierte Arbeiter in der Provinz verdienen noch weniger.

Das hat zur Folge, dass manche Freiwillige sich nach dem Ort mit den attraktivsten Bedingungen umschauen. Freiwillige aus wirtschaftlich schlechter gestellten Regionen melden sich oft nicht bei der nächsten Stelle, sondern nehmen einen weiten Weg auf sich – zum Beispiel in die Hauptstadt. Ins Rekrutierungszentrum im Moskauer Norden kommen die Anwärter deshalb aus dem ganzen Land. An die Front ziehen sie aber als «Moskauer», formal angestellt bei einem der städtischen Unternehmen.

Vermittler des Todes

In den drei Jahren hat sich ein Geschäft des Vermittelns aufgetan, von dem verschiedene Beteiligte profitieren. In spezialisierten Telegram-Kanälen schalten Vermittler – oft sind es Frauen, die ihre «Kunden» nie sehen – Werbung. Sie spielen auf einigermassen zynische Weise mit dem Zeitdruck: Wer weiss, wie lange die grosszügigen Angebote noch gelten – wer sich schnell entscheidet, kann noch von dieser einmaligen Chance profitieren, das ist die Botschaft. Dass es um Leben und Tod geht, wird verdrängt.

Sie versprechen den Interessenten, dafür zu sorgen, dass sie nicht direkt an der Front eingesetzt werden – wohlwissend, dass sie darauf keinerlei Einfluss haben. Beamte werden aufgefordert, pro Monat eine bestimmte Anzahl von «Kandidaten» ans örtliche Rekrutierungsbüro zu vermitteln; für jeden, der unterschreibt, gibt es Geld und Pluspunkte bei der internen Mitarbeiterbewertung. In den vergangenen Monaten ging die Zahl der Freiwilligen allerdings stark zurück. Im zweiten Quartal 2025 meldeten sich noch 37 900 Männer – in der Vorjahresperiode waren es mehr als doppelt so viele gewesen. Geld vermag nicht alles zu leisten: Die meisten, die wollten, sind längst im Krieg.

Das Geld geht in Regionen, die zuvor kaum prosperierten. Auch dann, wenn die Männer nicht heimkehren oder ihren Dienst wegen schwerer Verletzungen aufgeben müssen. Die Kompensationen sind hoch. Aber es gibt viele Klagen über ihre Verzögerung. Angehörige von Vermissten müssen viel Zeit und Kraft aufbringen, um auch dann an das Geld heranzukommen, wenn der Tod des Kämpfers offiziell noch nicht bestätigt ist. Rund um Kriegsteilnehmer, besonders Kriegsversehrte, Gefallene und ihre Angehörige, ist ein ganzes Ökosystem von Vergünstigungen und Privilegien entstanden – in der medizinischen Versorgung, der Vergabe von Studienplätzen und Arbeitsstellen.

Zuvor marode Betriebe, die jetzt der Rüstungsindustrie zuliefern und ihren Arbeitern hohe Gehälter bezahlen; Günstlinge des Kremls, die an lukrative Unternehmen gelangen, weil sie im Zuge von Krieg und Sanktionen erst verstaatlicht und dann weiterverkauft werden: Der Krieg ist zu einer gewaltigen Umverteilungsmaschine geworden. Die Profiteure brauchen den Krieg, und das Regime weiss nicht genau, was aus den neuen Ansprüchen und Erwartungen werden soll, wenn er doch noch endet.

Kriegsmüde Junge

Auf der anderen Seite der Front, in der Ukraine, spielte von Anfang an die individuelle Motivation zum Militärdienst eine bedeutendere Rolle. Kurz nach dem russischen Grossangriff meldeten sich Zehntausende freiwillig für den Dienst zur Verteidigung des Landes. Aber je länger der Abnützungskrieg dauert, desto schwieriger wird es, junge Männer zu rekrutieren. Das führt dazu, dass das Durchschnittsalter der Frontkämpfer derzeit mit über 40 Jahren sehr hoch ist. Auch unter ausländischem Druck haben die Behörden das Alter für die Einberufung von 27 auf 25 Jahre gesenkt.

Ungelöst sind auch die Probleme der Behörden bei der Mobilisierung. Die Rekrutierer gehen oft willkürlich vor, mit Razzien gegen Treffpunkte junger Menschen oder auf offener Strasse. Das schwächt das Vertrauen der Bevölkerung, zumal sich Leute mit Geld oft illegal vom Militärdienst freikaufen. Erfolgreich bei der Rekrutierung sind jene Brigaden, die professionell organisiert und ausgestattet sind. Sie verpflichten sich dazu, ihren Soldaten eine gute Ausbildung zu bieten und sie auszurüsten. Das schafft Sicherheit und Vertrauen. Leisten können sich das Einheiten wie die Dritte Sturmbrigade durch ein Netzwerk an Spendern und Geschäftsleuten, die sie finanzieren und ihnen aufwendige Werbekampagnen ermöglichen.

Für alle, die älter als 18 und jünger als 25 sind, braucht es besondere Anreize. Darauf hat die ukrainische Armee in diesem Frühjahr reagiert. Sie hat ein Programm aufgesetzt, das den Dienst zunächst auf ein Jahr beschränkt. Es verspricht umgerechnet 19 000 Franken insgesamt – das Dreifache des durchschnittlichen Jahreslohns. Ein Teil wird sofort nach der Unterschrift ausbezahlt, der Rest fliesst als monatlicher Sold in Höhe von 2300 Franken. Weitere Anreize bieten eine zinslose Hypothek, kostenlose medizinische Versorgung sowie zwölf Monate Befreiung von der Mobilisierung. Auf der Kehrseite steht: Sie verpflichten sich für den Einsatz in der Infanterie an der Front. Dort ist ein Jahr eine lange Zeit.

Jungen Männern ermöglicht das Programm, schnell eigenes Geld zu verdienen und die Familie zu unterstützen. Aber bei vielen steht der Wunsch, selbst einen Beitrag für die Verteidigung des Landes zu leisten, im Vordergrund. Mitte September sagten 54 Prozent der Ukrainer in einer Umfrage, sie würden dies auch mit der Waffe in der Hand tun. Geld allein ist nicht der Anreiz, wenn es um Leben und Tod geht. Aber es dient der Anerkennung. Deshalb schürte es auch Unmut unter denjenigen Soldaten, die seit 2022 im Dienst sind und von solchen Prämien nur träumen können. Das Verteidigungsministerium will nun auch sie stärker belohnen. Das ändert nichts daran, dass diese Soldaten und Offiziere übermüdet und ausgelaugt sind.

Die Gesellschaft

Russen und Ukrainer leben in zwei unterschiedlichen Welten. Im Donbass und in Kiew erdauern die Menschen tägliche Angriffe, mit Raketen, Bomben und Granaten. In der Hauptstadt schauen sie Abend für Abend auf ihr Handy. Sie wollen herausfinden, ob ihr Haus in der Anflugschneise der Drohnenschwärme liegt. Nahe der Front müssen Zivilisten entscheiden, ob sie alles zurücklassen oder unter russischer Besetzung weiterleben.

Die Bewohner von Moskau und St. Petersburg hingegen erleben die Kämpfe als sporadische Angriffe. Für sie ist der Krieg eher Ärgernis denn existenzielle Bedrohung. Die ukrainischen Drohnenattacken führen zu geschlossenen Flughäfen und Rekordpreisen an den Tankstellen. Die Milliardenausgaben für den Krieg verursachen grosse Haushaltdefizite und treiben die Steuern in die Höhe. Doch das Land steht nicht am Rande des Kollapses. Die meisten Russen bekommen wenig mit vom Krieg. Dem Regime ist das recht. Auch deshalb verzichtete es auf eine weitere Mobilmachung. Im ersten Kriegsherbst hatte die Teilmobilisierung viel Unmut ausgelöst.

In den Städten spürt die Mittelschicht die gigantischen Verluste kaum. Die Soldaten sterben woanders und kommen von weit her. Die meisten Gefallenen sind Baschkiren und Tataren. Geografisch stammt der Grossteil der Toten vom Ural und aus Sibirien. Fast ein Zehntel der Umgekommenen, die das Portal «Mediasona» identifiziert hat, sind Häftlinge. Diese marginalisierten Gruppen sind für die Russen entbehrlich, Menschenmaterial, das nicht zählt. Manche sehen den Krieg gar als Mittel, die Gesellschaft von «minderwertigen» Elementen zu reinigen. So rechtfertigt Putins Sprecher Dmitri Peskow die Entsendung von Strafgefangenen an die Front mit Stalins Worten: «Sie sühnen ihre Verbrechen durch ihr Blut auf dem Schlachtfeld. Sie sühnen sie mit Blut in Sturmbrigaden, unter Kugeln und Granaten.»

Die ukrainische Gesellschaft ist eine andere. Sie leidet schwer unter den Toten, weil diese aus ihrer Mitte kommen. Die Väter, Brüder und Söhne, die sich 2022 freiwillig meldeten, kommen aus allen Schichten, allen Landesteilen. Sie zogen spontan in den Kampf. Ohne zu wissen, dass sie die nächsten Jahre in den Schützengräben verbringen. Sie reagierten auf den Schock des russischen Angriffs.

Propaganda des Kremls

Der Kreml braucht die Propaganda, um der Bevölkerung zu erklären, weshalb es den Krieg braucht. Denn eigentlich ist ihr dieser egal. Befragungen des unabhängigen Lewada-Zentrums zeigen, dass die Unterstützung für Putin seit 2022 zwar gewachsen ist. Die Russen wollen einen starken Führer, und sie sehen ihr Land auf dem richtigen Weg. Doch nur die Hälfte verfolgt, was in der Ukraine passiert. Das Thema interessiert immer weniger. Mehr als die Hälfte der Russen tritt mittlerweile für Friedensverhandlungen ein. Auch ein Einfrieren des Krieges entlang der Frontlinie nähme eine Mehrheit heute hin. Aber solange Putin dazu nicht bereit ist, warten sie ab.

Die meisten passen sich an, übernehmen – wenn überhaupt – Propagandafloskeln und wollen in ihrem Alltag möglichst wenig mit dem Krieg zu tun haben. Weder lehnen sie sich auf, noch lassen sie sich vom Leid der Ukrainer beeindrucken. Selbst die Spenden für die Frontsoldaten lassen sich nicht unbedingt als Beweis der Unterstützung werten. Vieles ist Mitläufertum, Anpassung und die Überzeugung, in schwierigen Zeiten einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu müssen. Die meisten, die das nicht aushalten, haben Russland verlassen.

Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden. Auch das ist das Gegenteil der Ukrainer: Diese stehen seit dreieinhalb Jahren am Rande der Erschöpfung, am Rande des Zusammenbruchs. Dem Staat trauen sie nicht. Männer in wehrfähigem Alter verstecken sich vor den Rekrutierern der Armee – nicht, weil sie den Kampf für ihr Land ablehnen. Sie fürchten sich vor der Willkür und der Inkompetenz der Militärführung. Gleichzeitig unterstützt die Bevölkerung die Soldaten mit Geld, Fahrzeugen, Drohnen und Schutzwesten. Die Ukrainer können weiterkämpfen, weil Initiativen und Freiwillige aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Staat und Gesellschaft

Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist in Russland und der Ukraine völlig unterschiedlich. Kiew versucht zwar, die Macht zu zentralisieren, scheitert aber am anarchischen Geist der Bevölkerung. Moskau führt den Kampf durch eine riesige staatliche Kriegsmaschinerie. Gewalt ist ein wichtiges Herrschaftsinstrument: Die Armee macht die Soldaten gefügig, treibt sie in tödliche Sturmangriffe. Wer sich weigert, wird brutal bestraft. Beim Rest der Bevölkerung genügt oft die Drohung. Sie hat die Terrorregime von Lenin und Stalin verdrängt, aber nicht vergessen. Die traumatische Erinnerung ist tief verankert, als vage Angst. Und die Ermordung von Alexei Nawalny und Jewgeni Prigoschin erinnerte alle daran, was der Kreml mit seinen «Feinden» macht.

Dass die Ukrainer motivierter sind, heisst aber nicht, dass sie im Abnützungskampf länger durchhalten können. Die Russen haben mehr Reserven – weil ihre deutlich grössere Bevölkerung vom Krieg weniger betroffen ist. Sie würden den Gürtel für das Vaterland auch enger schnallen, solange es keinen totalen Kollaps gibt. Die älteren unter ihnen erinnern sich an die Zeiten, als sie noch für Brot anstanden. Dorthin will niemand zurück. Aber einen Volksaufstand muss Putin nicht fürchten.

Auch die Ukrainer können nicht aufhören zu kämpfen. Sie haben zu viel geopfert, um einem faulen Frieden zuzustimmen. Jeder Politiker in Kiew weiss, dass ihm bei demütigenden Zugeständnissen eine Rebellion droht. Den Ukrainern ist klar, dass Putin sich nicht mit dem Donbass zufriedengibt. Auf dem Spiel steht die Existenz ihres Staats.

Die Geschichte

Wladimir Putin sieht die Ukrainer nicht als eigenes Volk. Für ihn und den Grossteil der Bevölkerung sind sie «Kleinrussen», kulturell unterlegene kleine Brüder. Die Ukraine ist Russlands Hinterhof, ein leerer Raum, den die Herrscher aus dem Osten kolonisieren müssen. Und ein potenzielles Aufmarschgebiet für Feinde. Dass hier mündige Bürger für ihre Unabhängigkeit und die Zukunft des Landes kämpfen, ist aus Moskaus imperialer Perspektive undenkbar. Entsprechend gnadenlos führen die Russen den Krieg.

Putin sieht sich als Herrscher in der Tradition der Zaren. Seit der ehemalige Geheimdienstoffizier vor einem Vierteljahrhundert an die Macht gekommen ist, zimmert er die neue Staatsideologie aus Fragmenten der Vergangenheit zusammen: Den imperialen Doppeladler machte er wieder zum Wappentier, die rote Flagge zum Symbol der Armee. Bei der Nationalhymne kehrte er zu der Melodie zurück, die 1943 unter Josef Stalin komponiert wurde.

Putin wusste damals, dass sich die Russen nach einem Jahrzehnt der Krisen eine starke Führung wünschten. Die neunziger Jahre bedeuteten für sie wirtschaftlichen Zerfall und den Verlust des Grossmachtstatus. Damals entstanden Ressentiments: gegen die unfähige Führung, den heimtückischen Westen, die Nationen der ehemaligen Sowjetunion, die sich undankbar von Moskau abwendeten. Die Epoche der «rasrucha», des Zerfalls, liess alte Traumata wiederaufleben: Im 20. Jahrhundert machten die Russen die Erfahrung, dass innere Schwäche rasch zu Revolution und Fremdherrschaft führen kann.

Von den Knien erheben

«Russland kann sich von den Knien erheben», versprach Putin 1999. Militärische Macht ist für ihn dafür das zentrale Element. In Tschetschenien, Georgien, auf der Krim – und 2022 in der gesamten Ukraine. Die Invasion richte sich gegen das «Kiewer Neo-Naziregime», so Putin. «Ihr kämpft für das Vaterland, für seine Zukunft. Damit niemand die Lehren des Zweiten Weltkriegs vergisst.» Auf den Triumph über Nazideutschland 1945 sind die Russen bis heute stolz. Dadurch wurde die Sowjetunion zur Weltmacht. Dafür erbrachte jede Familie unvorstellbare Opfer. Der Sieg kostete 27 Millionen Tote in der UdSSR.

Dass sie nicht nur der unmenschlichen Brutalität der Nazis zum Opfer fielen, bleibt in Putins Russland aber ein Tabu. Dass die Rote Armee Millionen in sinnlosen Sturmangriffen opferte, die Sowjets ihre Bevölkerung und die besetzten Gebiete terrorisierten, verschweigt das allgegenwärtige Heldenepos. Was bleibt? Ein vages Gefühl der Unsicherheit, der Angst vor Gewalt und Chaos. Der Kreml kann das instrumentalisieren: Das Vaterland ist stets bedroht, es gibt keine Unterscheidung zwischen Hitlers Vernichtungskrieg, ukrainischem Widerstand und amerikanischer Pop-Kultur. Putin stellt alles als Verschwörung gegen Russland und dessen Werte dar. Und viele glauben ihm, wenn er seinen Angriffskrieg als Verteidigung gegen den «kollektiven Westen» verklärt.

Während die Russen in die Vergangenheit schauen, um der Gegenwart Sinn zu geben, orientieren sich die Ukrainer an der Zukunft. Sie treibt der Drang an, sich aus der Einflusssphäre Russlands zu lösen. Diese verbinden sie mit Korruption, Fremdherrschaft und Sowjetnostalgie. Ihren Wunschtraum einer freien und demokratischen Gesellschaft wollen sie im Westen verwirklichen. Genau deshalb sieht Putin den proeuropäischen Kurs in Kiew als tödliche Bedrohung.

Die Last der Vergangenheit

Die Ukrainer konzentrieren sich aber auch deshalb auf die Zukunft, weil ihre Vergangenheit nicht als Vorbild taugt. Zwar versuchen sie, ihre Geschichte patriotisch umzudeuten. So entfernten sie 2023 den sowjetischen Hammer und die Sichel von der Statue der Siegesgöttin in Kiew und ersetzten sie durch den ukrainischen Dreizack. Sie leiten ihre Identität von den Stammesgesellschaften der Kosaken ab. Und ihre Brigaden sind nach der mittelalterlichen Königin Anna von Kiew oder nach Fürst Roman von Galizien-Wolhynien benannt.

All diese Figuren lebten in ferner Vergangenheit. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts eignet sich nicht für Heldensagen. Im Ersten Weltkrieg und dem darauffolgenden Bürgerkrieg wurden die ukrainischen Patrioten im Kampf der Grossmächte zermalmt. In den dreissiger Jahren vernichtete Stalin vier Millionen Bauern durch Hunger. Im Zweiten Weltkrieg kämpften die Ukrainer oft gegeneinander, als Angehörige der Roten Armee und der Wehrmacht. Viele kollaborierten mit den Deutschen.

Die Geschichte der Ukrainer ist eine Geschichte der Teilung. Anders als die Russen haben sie keinen Staat, in dem sie über Jahrhunderte vereinigt waren. Die Kosakenstämme kämpften zwar zusammen gegen äussere Feinde. Doch in Friedenszeiten hielt ihre Einheit nicht lange. Das machte die Ukraine zu einer leichten Beute für die Grossmächte. Die gleiche Erfahrung machte sie nach den Aufständen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Nach der Orangen Revolution vertieften sich die Gräben zwischen dem Osten und dem Westen des Landes. Und das Machtvakuum nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch nutzte Moskau, um die Krim zu besetzen und den Krieg im Donbass loszutreten.

Brüchige Einheit

Putins Invasion 2022 hat die Ukrainer geeint. Doch dreieinhalb Jahre Krieg stellen diese Geschlossenheit auf die Probe. Im Osten und im Süden wüten die Kämpfe heftiger denn je. Im Westen gibt es Tage, an denen der Krieg weit weg scheint. Die Angst vor Spaltung und Zerfall ist wieder zu spüren. Die Ukrainer fürchten, am Ende könnte der Widerstand gar umsonst sein. Weil sie in ihrer Geschichte den Kampf gegen mächtigere Feinde immer verloren. Weil ihre Verbündeten sie im Stich liessen.

Die brutale und traumatische Geschichte bedeutet, dass Russen wie Ukrainer existenzielle Bedrohungen gewohnt sind. Beide treibt die Angst um, sie könnten zu wenige sein, um ihr Staatsgebiet zu halten, ihre Kultur in die Zukunft zu retten. Der Bevölkerungsschwund seit dem 20. Jahrhundert und die Verluste im heutigen Krieg tragen dazu noch bei. Die Angst vor dem Aussterben ist eine ebenso irrationale wie mächtige Triebfeder für den Kampf.

Es ist ein Kampf zweier Länder, die sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen, zweier völlig unterschiedlicher politischer Systeme. Beiden verbaut der Krieg aber die Zukunft. Der Ukraine raubt er die Chance, sich als demokratischer, stabiler und wirtschaftlich prosperierender Staat weiterzuentwickeln. In Russland ist er zum Wirtschaftsfaktor geworden und dient als Rechtfertigung für autoritäre Gesetze und Massnahmen, die dem Machterhalt dienen. Der Krieg verändert beide Gesellschaften und setzt ein Gewaltpotenzial frei, das sich nach einem Friedensschluss leicht gegen innen statt gegen einen äusseren Gegner richten kann.

Der Krieg ist wie ein Sumpf. Je länger sich Russland und die Ukraine darin aufhalten, desto tiefer sinken sie ein.

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