Montag, Oktober 7


Jedem Sommer seinen Schuh

Flipflops, Crocs, Birkenstocks und jetzt Ballerinas aus Mesh-Stoff, die unsere Füsse durchscheinen lassen: Sommerschuhe schüren Kontroversen und machen Versprechen.

Schon wieder ist einer ins Netz gegangen! Diesen Ausruf kann man von erfolgreichen Fischzügen und weniger erfolgreichen Tennisspielen diesen Sommer getrost auf die Mode übertragen: Ein Fuss nach dem anderen schlüpft in Ballerinas aus löchrigem Mesh. Was letztes Jahr mit dem Fischnetz-Modell des Pariser Modehauses Alaïa begann (à 710 Franken, ständig ausverkauft), hat 2024 unerhörte Ausmasse angenommen. Jedes Luxuslabel verkauft seine eigene Version des Schuhs: Der Ballerina aus beigem Polyamid-Mesh von Khaite ist am oberen Rand mit schwarzem Nappaleder eingefasst. Christian Louboutin hat seinen mit Strasssteinen und einer kleinen Lederschleife verziert.

Auch bei Mango und Zara stapeln sich die halbtransparenten Schuhe – obwohl, so hoch stapeln sie sich dann doch wieder nicht, denn viel Material ist an ihnen nicht dran. Auf der chinesischen Onlineplattform Shein erhielt man sie derweil schon ab 20 Franken, bevor sie ausverkauft waren. Diese Ereignisse deuten alle auf etwas hin, das Modemenschen schon lange am Horizont kommen sahen: Der Mesh-Ballerina ist der Schuh des Sommers.

Crocs mit Stiletto-Absätzen

Der Schuh des Sommers? Das ist keine offizielle Auszeichnung und schon gar keine exakte Wissenschaft. Dafür gibt es keinen Grammy wie für den Song des Jahres und keine peinlichen (aber lustigen!) TV-Verkündungen wie für das Deutsche Jugendwort des Jahres. Trotzdem wird Jahr für Jahr diskutiert, welches Modell diesen Titel tragen darf.

2015 war es laut dem «Guardian» die simple, sportliche Teva-Sandale mit Klettverschluss, 2017 laut der «L.A. Times» der schwarz-weiss karierte Halbschuh aus Stoff von Vans. 2019 krönte «Vogue» den Flipflop mit Absatz zum Schuh des Sommers, eine Wahl, bei der gewiss mehrere Mitglieder der Kardashian-Familie ihre manikürten Füsse im Spiel hatten. Ein Jahr später herrschte seltene Einigkeit, Corona-Pandemie sei Dank: Der Schuh des Sommers 2020 war der Croc, dessen Verkaufszahlen nicht nur dank überstrapaziertem Krankenhauspersonal in die Höhe schnellten.

Bei seinem Debüt 2002 mochten die Entenschnabelform und die schaumige Textur des Crocs, einst als Bootsschuh erfunden, bei vielen Verachtung hervorrufen. Doch während der Pandemie lautete das Zauberwort beim seltenen Schuhkauf «Komfort», und den bot der Croc, ob als Haus- oder Gartenschuh getragen. Ausserdem konnte man sein löchriges Äusseres, dekorierbar mit kleinen, kauzigen Accessoires namens «Jibbitz», während der Lockdowns hervorragend zu Hause verstecken.

Gleichzeitig feierten immer mehr Modelabels die notorische Hässlichkeit des Schuhs mit eigenen Interpretationen: Balenciaga lancierte 2022 einen Croc mit Stiletto-Absatz, und Anfang dieses Jahres erschien eine Crocs-Kollektion mit Kunstperlen und -kristallen von der irischen Designerin Simone Rocha. Der ungewöhnliche Schuh aus unrezyklierbarem Plastik ist, wenn nicht schön, so doch so etwas wie normal geworden. Promis werden darin fotografiert. Und die Verkaufszahlen der Marke steigen noch immer.

Geräuschlos und beflügelt auf Stroh

Bereits 1942 widmete die «Neue Zürcher Zeitung» einem Schuh des Sommers einen überschwänglichen Bericht: einer Sandalette, geflochten aus Wohlener Stroh. Sie kam ohne Leder aus und folgte damit dem Gebot der Sparsamkeit während des Zweiten Weltkriegs. Die Ästhetik, obwohl als «adrett» und «farbig» beschrieben, schien nicht im Vordergrund zu stehen. Es waren andere Kriterien, die den Journalisten überzeugten: «Geräuschlos und beflügelt schreitet der Fuss in diesem biegsamen, luftigen Gehäuse einher, korrekt und nach hygienischen Grundsätzen gebettet», schrieb die Zeitung, als liesse sich in dem Schuhwerk der Krieg vergessen.

Ein Sommerschuh ist ein Versprechen, gerade in Krisenzeiten. Es reicht schon, in einer Klimazone zu leben, in welcher der Sommer zeitlich begrenzt und somit ein kostbares Gut ist. Das auserkorene Modell, entweder zu Beginn der Saison neu gekauft oder aus dem Keller hervorgeholt, repräsentiert Träume und Pläne für die so verheissungsvolle Jahreszeit. Möchte man Abenteuer erleben (Trekking-Sandalen), entspannt sein oder zumindest so aussehen (Flipflops) oder ja keine Zeit verlieren (Gummipantoletten)? Möchte man durch den Sommer stampfen (Biker-Stiefel, dank Tiktok wieder überall) oder stolzieren (Plateau-Sandalen), im Garten verweilen (Birkenstocks), beeindrucken (Sandalen mit vielen Riemchen und null Komfort) oder ein fremdes Land bereisen (Sketchers-Sneakers)?

Diese Qual der Wahl haben wir noch nicht so lange. «Die Idee eines Sommerschuhs entstand während der Industrialisierung», sagt Elizabeth Semmelhack, Direktorin des Bata Shoe Museum in Toronto. Erst im 19. Jahrhundert sei es für viele Menschen möglich geworden, mehrere Paar Schuhe für verschiedene Jahreszeiten zu besitzen. Also wurde verhandelt, wie ein Sommerschuh aussehen sollte. Zweckbestimmte Schuhe für das Bootfahren oder das Tennisspielen verbreiteten sich.

Gleichzeitig pochten einflussreiche Figuren wie der katholische Pfarrer Sebastian Kneipp auf die heilende Wirkung des Barfusslaufens, weshalb Kinderschuhe im Sommer möglichst breit waren und oben zwei Löcher für die Durchlüftung aufwiesen. «Hersteller befriedigten teilweise unsere tatsächlichen Bedürfnisse», sagt Semmelhack über die Zeit. «Es wurden aber auch Bedürfnisse geschaffen, weil die Industrie davon profitieren konnte.»

Sandalen aus dem Pornografie-Museum

Willkommen in der Modewelt! Aber selbst hier ist nicht alles möglich. Kontrovers war der Sommerschuh schon damals. Das ist vor allem seinem Inhalt geschuldet: dem nackten Fuss. Die puritanischen westlichen Sittlichkeitsideale machten es Frauen lange praktisch unmöglich, ihre Füsse in der Öffentlichkeit und abseits eines Strands zu entblössen. Dabei hätten Sandalen, diese goldenen Fuss-Käfige, dank der Faszination für die Antike um 1800 herum unwahrscheinlich angesagt sein können. Aber nur die mutigsten Frauen trauten sich seinerzeit an die neoklassizistische Sandale. Und sie mussten in Kauf nehmen, für Prostituierte gehalten zu werden. Für eines der ältesten Schuhmodelle der Welt war das ein unwahrscheinlicher Hohn.

Für Diana Vreeland auch. Die Moderedaktorin der amerikanischen Zeitschrift «Harper’s Bazaar» hatte 1935 auf einer Europareise den perfekten Sommerschuh gefunden. «Die einfachste Sandale der Welt», wie sie in ihren Memoiren schrieb: «Sie bestand nur aus einem Riemen, der zwischen dem grossen Zeh und dem daneben liegenden ging, und einem Riemen um den Knöchel, der an der Ferse befestigt war.» Auf der ledernen Sohle sei man «wie auf Satin» gegangen.

Der Fundort der Sandale war, wie es sich für die berühmte und exzentrische Vreeland gehörte, alles andere als gewöhnlich: Es war das Pornografie-Museum in Pompeji. Die Sandalen befanden sich an den Füssen eines Sklaven, der vom Vulkanausbruch beim Sex erwischt worden war. Vreeland liess den Schuh von einem entgeisterten Schuhmacher in New Jersey kopieren. Nur verkaufen durfte dieser die reanimierte Sandale lange nicht. Eine Regel in New York City besagte angeblich, dass beim Anprobieren von Schuhen stets Strümpfe getragen werden müssten – mit Zehenriemen ein Ding der Unmöglichkeit.

Nackte Zehen als Grauzone

Vreeland war, das ist allgemein bekannt, eine unzuverlässige Erzählerin. Sie schmückte gern und manchmal grossartig aus. Doch ihr Faible für Sommerschuhe ist in den unzähligen Bildern dokumentiert, die sie bis in die späten fünfziger Jahre zusammen mit der Fotografin Louise Dahl-Wolfe für «Harper’s Bazaar» inszenierte. Sie zeigen Frauen auf Reisen an sonnigen Orten von Kuba über Kalifornien bis Marrakesch, fast immer allein und stets in unaufgeregten Posen. An ihren Füssen tragen sie flache Römersandalen, Flipflops mit gestreiften Stoffriemen oder sonnengelbe Pantoffeln. Sie wirken heute noch modern und selbstverständlich. Damit sind sie weit weg vom damaligen weiblichen Pin-up-Ideal, das hervorlugende Zehen in Peep-Toes zur erotischen Provokation hochstilisierte.

Doch beim Sommerschuh zählt der Kontext, damals wie heute. Ausgesprochene und unausgesprochene Regeln schränken den (fast) nackten Fuss noch immer ein. Das altehrwürdige Zürcher Restaurant Kronenhalle etwa untersagt männlichen Gästen «auch an heissen Sommertagen» das Tragen von Sandalen. Beim Börsengang von Birkenstock hielten die Geschäftsführer in New York feierlich die orthopädische Schlappe in die Höhe, trugen an ihren Füssen aber fast alle artig geschlossene Schuhe. Und die Frage, ob man Flipflops ins Büro tragen könne, wird so oft gestellt, dass sie Stilkolumnisten wohl jahrelang über Wasser halten könnte. Nackte Zehen gelten als gesellschaftliche Grauzone.

Genau damit spielt der Schuh dieses Sommers. Der Ballerina aus halbtransparentem Mesh stülpt sich über den Fuss wie eine Socke, lässt aber durchblicken. Er eckt an und begeistert, gerade weil er der perfekte Schuh für die Ära der Entscheidungsunfähigkeit ist: irgendwie adrett und irgendwie bizarr, transparent, aber nicht ganz, weder Stadt- noch Strandschuh, weder unbequem noch wirklich langfristig komfortabel. Er ist, man muss es sagen, ein unsinniger Schuh.

Nachwehen der Pandemie

Gab es je ein ähnliches Modell? Ja, sagt Elizabeth Semmelhack. Die Vorfahren des Mesh-Ballerinas lagern in der Sammlung des Bata Shoe Museum in Toronto. Sie bestehen aus geknüpftem Leinen und sind «utterly insubstantial», wie es Semmelhack mit einem Hauch Ehrfurcht in ihrer Stimme sagt: total substanzlos, mit dünnen Sohlen, noch dünnerem Aussenstoff und einer Silhouette wie ein Pantoffel. Sie gehörten Frauen der Oberschicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Semmelhack glaubt, dass sie mit dem «Kult der Häuslichkeit» verbunden waren, der damals herrschte: «Gute Frauen hatten zu Hause zu bleiben und ihre Kinder grosszuziehen. Sie brauchten kein festes Schuhwerk, weil sie nicht wirklich mit der Aussenwelt in Berührung kamen», erklärt sie. Für Semmelhack sind die Mesh-Ballerinas deswegen eine Nachwirkung der Pandemie.

Das mag ganz allgemein auf die Rückkehr zu flachen Schuhen zutreffen. Den Komfort von Finken möchte man nach der Erfahrung der Lockdowns nicht mehr hergeben, und das modische Pendel schwingt weg von fetten Plateaus und klobigen Absätzen hin zu hauchdünnen Sohlen. Statt sich aber zu wappnen oder einzuhüllen wie mit einer Daunenjacke, macht man sich mit diesen verletzlich. Man spürt die Welt und jedes noch so kleine Steinchen. Das trifft auf die substanzlosen Mesh-Ballerinas doppelt zu.

Denn auch wenn ihre Ursprünge bei den Hausschuhen liegen mögen – sie sind mehr als das. Man sieht die Mesh-Ballerinas im strömenden Regen und mit Strasssteinen besetzt über den Paradeplatz huschen. Man sieht sie in teuren Cafés, mit Hunden beim Gassigehen und in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Sie mögen schlecht dafür geeignet sein, trotzdem stehen sie mit beiden Füssen im echten Leben. Dort treffen sie auf ihre Vorfahren, Zeitgenossen und Konkurrentinnen: schwarze Flipflops, silberne Ballerinas mit appliziertem Katzengesicht, Crocs mit Plateau, wieder angesagte Puma-Sneaker, metallisch glänzende Mules, klick-klackende Holzschuhe und lautlose Ledersandalen, wie die Römer und Diana Vreeland sie einst trugen. Der Sommer hat eben erst begonnen.

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