Mittwoch, Oktober 2

Die amerikanischen «suburbs» sind 2024 erneut ein politisch hart umkämpftes Gebiet. Und Frauen kommt eine besondere Rolle zu – zum Beispiel in der Agglomeration von Chicago.

Wer von Chicago Richtung Süden fährt, durchquert zuerst die maroden Quartiere der South Side. Dann wird es plötzlich grün; beidseits der Strasse liegen Wiesen, Felder und Wäldchen. Man wähnt sich schon ganz auf dem Land, aber dann tauchen die Vororte auf. Oft sind sie nicht viel mehr als eine Ansammlung von Einfamilienhäusern, ein Zentrum im europäischen Sinn gibt es kaum. Man trifft sich in der «strip mall»: einem grossen Parkplatz, darum herum Geschäfte und Imbissketten.

Die sprichwörtliche «soccer mom» existiert kaum noch

Auch das Treffen mit Timijanel Boyd Odom findet an einem dieser so typisch amerikanischen Nicht-Orte statt: in der «Plaza» von Olympia Fields. Zwischen einem Schönheitssalon, einem Fitnessstudio und einem kleinen Supermarkt befindet sich das «Batter and Berries»-Café. Auf mehreren Bildschirmen laufen Fernsehsendungen, die Musik ist laut, es werden Waffeln und Burger serviert.

Boyd Odom ist die Präsidentin der Illinois Democratic Women of the South Suburbs. Immer noch kursiert das Klischee, dass die Bewohnerinnen der amerikanischen Vorstädte vor allem weisse Mütter und Hausfrauen sind, die ihre Zeit damit verbringen, die Kinder zur Schule zu fahren und am Nachmittag in den Musikunterricht oder zu sportlichen Aktivitäten. Von daher rührt auch der Ausdruck «soccer moms». Boyd Odom ist vermutlich repräsentativer für die Mehrheit der Vorstadtfrauen, zumindest in Illinois. Sie ist Anwältin, führt zusammen mit Kolleginnen eine Kanzlei in Flossmoor, in der Nähe von Olympia Fields, ist geschieden und hat vier Kinder. Als Afroamerikanerin ist sie auch typisch für die zunehmende Diversität der Vororte.

Am Vorabend des Treffens hat Boyd Odom zu einer «Presidential Debate Watch Party» in einem nahen Restaurant eingeladen. «Es war ein voller Erfolg», sagt sie begeistert. «Es kamen viel mehr Leute als erwartet.» Noch lange nach dem Ende der TV-Debatte zwischen Trump und Harris diskutierten die Frauen weiter, in Hochstimmung. Wie viele Beobachter im Land stellt auch Boyd Odom fest, dass die Kandidatur von Harris Frauen mobilisiert, die sonst nicht an der Wahl teilgenommen hätten. Insbesondere das Thema Abtreibung sorgte auch an der Debatten-Party für hitzige Diskussionen. Die Frauen gingen mit Harris einig, dass Trump und Vance sie mit ihrer Politik in die fünfziger Jahre zurückversetzen wollen, eben in die Zeit der «soccer moms».

Frauen wählen häufiger als Männer

Warum sind die Vorstädte und insbesondere die dortigen Frauen so wichtig für die Wahlen? Mehrere Faktoren spielen zusammen. Generell wird in den USA auf dem Land mehrheitlich republikanisch und in der Stadt mehrheitlich demokratisch gewählt. Die Vorstädte liegen auch in politischer Hinsicht dazwischen: Sie sind gemischt, umkämpft und deshalb für die Wahl besonders entscheidend. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, ob die Zuzüger aus der Provinz kommen oder aus der Innenstadt an die Peripherie ziehen. Boyd Odom zum Beispiel kommt aus der City. Sie ist wegen der besseren Lebensqualität – weniger Kriminalität, weniger Staus, weniger Lärm – mit ihrer Familie in die Vorstadt gezogen. Aber ihre typisch urbane Präferenz für die Demokraten hat sie mitgenommen, im Gegensatz zu den eher konservativen Zuwanderern vom Land.

Die Vorstädte werden zudem immer grösser. 52 Prozent der Amerikaner leben dort, bereits spricht man von einer «suburbanization» der USA. Die Vorstädte sind in politischer Hinsicht so etwas wie die Swing States. Während die meisten Gliedstaaten entweder demokratisch oder republikanisch geprägt sind, ganz so wie die Städte und die ländlichen Regionen, gibt es im Wahlkampf eigentlich lediglich bei den Wechselwählern in den «suburbs» und in den Swing States noch etwas zu holen.

Zudem: Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht gehen nicht die Männer häufiger wählen, sondern die Frauen. Es ist für Politiker also zentral, die weibliche Wählerschaft anzusprechen. Das gilt besonders bei dieser Wahl, bei der Fragen der Reproduktion – Abtreibung, In-vitro-Fertilisation, Verhütung, steuerliche Vergünstigungen für Familien mit Kindern, Vance’ Tiraden gegen kinderlose Frauen – so zentral sind.

Kamala Harris mobilisiert die Frauen

Noch nie spielte bei einer Wahl die Geschlechtszugehörigkeit eine so grosse Rolle wie bei der bevorstehenden. Sie ist «gendered», wie es amerikanische Politologen nennen.

Das sagt auch Jane Ruby, Präsidentin der League of Women Voters of Chicago, einer überparteilichen Organisation, die sich für die Mobilisierung der Wählerinnen engagiert. Sie beobachtet, wie Trump in seinem Wahlkampf stark auf weisse, männliche Wähler setzt – und auch auf deren Ressentiments dagegen, in den Zeiten von Feminismus und Diversität den Kürzeren zu ziehen. Harris hingegen fokussiere stark auf Themen, die Frauen umtrieben: Abtreibung, Gesundheit, Teuerung, Gleichberechtigung, Familien, Schulen, Sicherheit, Soziales, Umwelt. Zudem sei es für sie ein Leichtes, die frauenfeindlichen Äusserungen Trumps publikumswirksam gegen ihn zu verwenden.

Während die Stimmbeteiligung 2016 bei 59 Prozent und 2020 bei 66 Prozent lag, könnte sie laut Ruby und Analysten nun nochmals steigen. Denn wie sie sagt, führt das Zwei-Parteien-System zu einer engen Auswahl von Kandidaten. Lange waren das lediglich weisse Männer, ein grosser Teil der Bevölkerung fühlte sich kaum repräsentiert. Dieses Mal ist das anders, und das könnte insbesondere Frauen und Nichtweisse, die bisher den Eindruck hatten, die Wahl gehe sie nichts an, mobilisieren. Weil Frauen, und vor allem diejenigen in den Vorstädten, zu den Demokraten tendieren, kommt ihnen die höhere Wahlbeteiligung zugute.

«Die USA hinken Europa hinterher»

Lange wählten Ehepaare gleich. Da scheint es im Gefolge der «Genderisierung» ebenfalls eine Aufteilung zu geben. Auch Ruby fallen die vielen Paare auf, bei denen der Mann nun republikanisch und die Frau demokratisch wählt. «Da ändert sich etwas», sagt sie. «Das ist einerseits positiv, im Sinne von Emanzipation und Autonomie. Andererseits ist es problematisch, wenn die Demokraten zur Frauenpartei und die Republikaner zur Männerpartei werden.» Sie sieht bei dieser Aufspaltung nicht nur fortschrittliche, sondern auch konservative Kräfte am Werk.

Die Erziehung und die Weltanschauung hinkten den realen Veränderungen in den USA oft hinterher, sagt sie. «Immer noch werden junge Männer ermutigt, über Finanzen, Business und globale Angelegenheiten nachzudenken, während man mit den jungen Frauen über Familie, Haushalt und Konsum spricht.» Insofern sei es zwar grossartig, dass mit Harris Frauen ermutigt würden, sich ebenfalls politisch zu betätigen, aber man müsse aufpassen, dass sich die klassischen Rollenverteilungen nicht auch in der Politik reproduzierten.

Amerika sehe sich zwar als modernstes Land der Welt, hinke aber beim Frauenanteil in der Politik hinterher. Sie könne sich kaum vorstellen, dass die Vorstellung einer Frau im höchsten Amt für solche Aufregung in Europa sorgen würde. Auch in Bereichen wie der bezahlbaren Kinderbetreuung seien die USA verglichen mit anderen Industrieländern im Hintertreffen; das beeinträchtige auch die politische Partizipation der Frauen. Denn, sagt sie, es sei doch seltsam, dass die Frauen unter den Wählern zwar in der Mehrheit seien, bei den Gewählten jedoch stark untervertreten.

Am Ende des Gesprächs ruft Boyd Odom ihren Sohn an und fährt dann in ihre Kanzlei, die sie in der Nähe ihres Wohnorts eingerichtet hat, damit sie Familiäres und Berufliches leichter unter einen Hut bringt. «Wir Vorstadtfrauen sind zwar berufstätig und politisch engagiert, aber daneben immer noch ‹soccer moms›», sagt sie. Sie würden die Kinder nach wie vor an Fussballmatchs begleiten, aber am Rand des Spielfelds noch rasch Termine mit Klienten abmachen und ein Protokoll lesen.

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