Obwohl die US-Zinsen deutlich höher notieren als vor der Pandemie, haussieren die Aktienmärkte. Ein wichtiger Grund dürfte sein, dass die Unternehmen den Zinsanstieg noch nicht spüren. Allzu entspannt sollten Aktienanleger dennoch nicht sein.
Es gehört vielleicht zu den grössten Rätseln der laufenden Hausse. Trotz deutlich höherer Zinsen haben die Börsen ihren Höhenflug fortgesetzt, als wäre nichts geschehen. Zwar haben sie 2022 als Antwort auf den Anstieg bei Inflation und die Straffung der Geldpolitik deutlich korrigiert, seither haben der von MSCI berechnete Weltaktienindex aber rund 60% und der amerikanische Leitindex S&P 500 gar mehr als 70% zugelegt. Und das, obwohl die Renditen für zehnjährige US-Treasuries heute merklich höher liegen als in den Jahren vor Covid. Auch der seit der Wahl von Donald Trump verzeichnete Zinsanstieg bei langen Bonds liess die Börsen bisher kalt.
Ein wichtiger Grund für ihre Widerstandskraft dürfte die Tatsache sein, dass die höheren Zinsen bisher nicht bei den Unternehmen angekommen sind, wie die Grafik der Woche zeigt. Im Vergleich zum operativen Gewinn ist die Zinsbelastung der US-Unternehmen ohne den Finanzsektor so niedrig wie seit den Sechzigerjahren nicht mehr. Die Belastung hat trotz höherer Sätze also nicht nur nicht zugenommen, sondern ist sogar gesunken.
Gewiss, ein wichtiger Grund für die entspannte finanzielle Lage vieler US-Unternehmen sind die sprudelnden Unternehmensgewinne, die für die im S&P 500 vertretenen Unternehmen seit dem Pandemiejahr 2020 um fast 70% zugelegt haben. Doch das ist nicht alles. So haben die Unternehmen die Niedrigstzinsphase nach Covid genutzt, um sich langfristig zu finanzieren. 2021 fiel die Verzinsung für US-Hochzinsanleihen auf 3,75% – so wenig wie nie seit Beginn der Aufzeichnung der Bloomberg-Datenreihe in den späten Achtzigerjahren. Es wird also dauern, bis sich die höheren Sätze in der Erfolgsrechnung zeigen.
Dazu kommt, dass viele der derzeit besonders gesuchten Technologieschwergewichte – Microsoft, Apple oder Alphabet – vor Cash strotzen und weder auf Kredite noch auf den Bondmarkt angewiesen sind. Im Gegenteil: Sie können ihre Cashreserven am Geldmarkt oder in Treasury Bills investieren und darauf Zinsen von mehr als 4% verdienen.
Allzu entspannt sollten Aktienanleger gegenüber dem Zinsanstieg aber dennoch nicht sein, denn irgendwann machen Bonds den Aktien als Anlageklasse Konkurrenz. Einer, der das schon gemerkt hat, ist die US-Investmentlegende Warren Buffett, der bei seiner Beteiligungsgesellschaft Berkshire Hathaway immer wieder Positionen abgestossen und per Ende September einen Cash-Berg von 325 Bio. $ angehäuft hat. Verzinst zu 4,3%, wirft dieser Cash-Berg für Berkshire jährlich Einnahmen von 14 Mrd. $ ab.
Sein Kalkül könnte wie folgt aussehen: Auf Basis des für dieses Jahr geschätzten Gewinns notiert der S&P 500 zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von knapp 25. Die Gewinnrendite – der Kehrwert des KGV – liegt also bei etwas mehr als 4%, während Cash in Dollar derzeit rund 4,3% und zehnjährige Treasuries 4,6% abwerfen. Es kann sich für US-Investoren also durchaus lohnen, die liquiden Mittel zu parkieren und auf attraktivere Einstiegsgelegenheiten am Aktienmarkt zu warten.
Anders präsentiert sich die Lage in der Schweiz, wo der SMI ein KGV von 18 aufweist. Die Gewinnrendite liegt demnach bei 5,6%, während Cash in Franken nach den deutlichen Zinssenkungen der Schweizerischen Nationalbank noch rund 0,4% abwirft. Auf dem Bankkonto sind es noch weniger. Hierzulande wirken Aktien demnach deutlich attraktiver, was sich auch am Schwergewicht Nestlé zeigt, das je nach Mass so niedrig bewertet ist wie seit der Finanzkrise nicht mehr.
Natürlich könnte sich die heimische Börse einem Kursrücksetzer in den USA kaum entziehen. Dennoch sollte die niedrigere Bewertung und die defensive Ausrichtung des SMI für weniger herbe Verluste sorgen, sollten sich die höheren US-Zinsen dereinst doch bemerkbar machen.