Donnerstag, Januar 16

Militärisch steht die Ukraine unter enormem Druck, trotzdem will sie von einem bedingungslosen Waffenstillstand nichts wissen. Das ist kein Widerspruch. Auch der Westen sollte sich nicht mit einem Pseudofrieden begnügen.

«Das Töten in der Ukraine muss enden» – solche und ähnliche Forderungen kommen westlichen Politikern leicht über die Lippen. Tatsächlich, welcher friedliebende Mensch wünscht sich nicht, dass die seit drei Jahren wütende Zerstörungsmaschinerie endlich stoppt? Niemand ersehnt diesen Moment stärker als die Ukrainerinnen und Ukrainer selber.

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Trotzdem lehnt es die Führung in Kiew ab, den Krieg mit einem vorläufigen Waffenstillstand einzufrieren. Das wirkt auf den ersten Blick paradox und mag sogar irritieren. Präsident Wolodimir Selenski sass kürzlich einem selbstgefälligen amerikanischen Interviewer mit Millionenpublikum gegenüber, der seine Mission darin sah, sich beim ukrainischen Staatschef «für den Frieden starkzumachen». Unterschwellig gab er damit den Ukrainern eine Mitschuld daran, dass die Waffen nicht schon längst schweigen.

Weshalb das angegriffene Land trotz wachsendem Blutzoll einen bedingungslosen Waffenstillstand ablehnt, ist erklärungsbedürftig. Nur wenn es seine Unterstützer im Westen von dieser Haltung überzeugt, kann es auf Verständnis hoffen. Andernfalls haben die russlandfreundlichen Stimmen leichtes Spiel mit ihrer Forderung, dass man der Regierung Selenski nicht helfen, sondern sie unter Druck setzen sollte.

Illusionen über Putin

Gewiss, die Frage eines Waffenstillstands ist ohnehin nur theoretischer Natur. Russland will darüber erst reden, wenn Kiew eine Reihe von Vorbedingungen erfüllt, die auf eine Kapitulation hinauslaufen. Der Kreml hält gnadenlos an seinem Kriegskurs fest. In dieser Situation ergibt es für Kiew wenig Sinn, um einen Waffenstillstand zu betteln. Es würde nichts erreichen und die Siegesgewissheit Moskaus nur noch steigern. Doch mit Verhandlungstaktik hat die ukrainische Haltung höchstens am Rande zu tun. Das Kernproblem besteht darin, dass ein Waffenstillstand allein den Grundkonflikt mit Russland nicht löst.

Selbst wenn der Kreml – aus welchem Kalkül auch immer – einwilligte, die Waffen für einige Wochen oder Monate schweigen zu lassen, wäre die Feindschaft nicht überwunden und wären die Ursachen dieses kriegerischen Irrsinns nicht beseitigt. Russland besässe damit zwar die Kontrolle über zusätzliche elf Prozent des ukrainischen Staatsgebiets, die es seit der Invasion von 2022 eroberte. Aber dem Putin-Regime geht es nicht um einige Gebietsstreifen in der Ostukraine, die wirtschaftlich eher eine Last sind.

Es will die Identität der Ukrainer als eigenständige, westorientierte Nation ausradieren und mit dem Krieg zugleich seine diktatorische Macht im eigenen Land zementieren. Ein Waffenstillstand wäre für Putin mit grösster Wahrscheinlichkeit nur eine Pause, bevor er zum nächsten Angriff überginge. Die Ukrainer haben diese Lektion schmerzlich gelernt – die Minsker Abkommen von 2014/15 hinderten den Kreml nicht daran, seine Kriegspolitik fortzuführen und sich militärisch in eine immer stärkere Lage zu bringen.

Mit gutem Grund pocht die Ukraine deshalb darauf, dass sie verbindliche Garantien gegen eine weitere russische Invasion erhält. Doch die westlichen Führungsmächte sind dazu bis jetzt nicht bereit. Weder wollen sie das Land in das Verteidigungsbündnis Nato aufnehmen noch auf anderem Weg militärische Hilfe für den Notfall zusichern. Ein reiner Waffenstillstand ohne Klärung dieser Grundsatzfrage wäre aber ein Pseudofrieden, der jederzeit zerbrechen könnte.

Optimistisch liesse sich einwenden, dass dies immer noch besser wäre als die Fortsetzung des Krieges. Wäre nicht schon eine kurze Phase der Ruhe an der Front ein Segen? Könnte die Ukraine diese Zeit nicht nutzen, um sich zu erholen und ihre Verteidigung zu verbessern? Es ist verführerisch, darin eine Lösung zu erblicken. Die Realität sieht anders aus. Allein auf sich gestellt, ist die Ukraine Russland unterlegen. Auch Putin würde eine Kriegspause nutzen – er würde die Lücken in seinen erschöpften Truppen schliessen und diese mit zusätzlichen Waffen ausrüsten. Es wäre für ihn danach ein Leichtes, einen neuen Angriffsgrund zu erfinden.

Keine Toleranz für Friedensheuchelei

Ein Waffenstillstand ergibt deshalb nur dann einen Sinn, wenn die Ukraine in dieser Zeit in westliche Verteidigungsstrukturen integriert und gezielt aufgerüstet wird – kurz: wenn das im Kalten Krieg so erfolgreiche Prinzip der Abschreckung gegenüber Moskau endlich wieder zum Tragen käme. Realistischerweise ist jedoch von einer gegenteiligen Entwicklung auszugehen. Trump-Amerika sähe das Ukraine-Problem als gelöst; die Westeuropäer würden zu ihrer Vogel-Strauss-Politik zurückkehren und die Notwendigkeit einer starken Ukraine verdrängen. Wenn es jetzt schon politisch nicht gelingt, genügend Kräfte gegen die russische Aggression zu mobilisieren, dann wird dies im süssen Schlummer einer trügerischen Waffenruhe erst recht nicht passieren. Die Ukrainer wissen dies instinktiv.

Wenn die Kiewer Regierung in einem ungesicherten Waffenstillstand kein Heil erblickt, verdient sie deshalb nicht Kritik, sondern volle Unterstützung. Keinerlei Nachsicht sollte die westliche Öffentlichkeit dagegen mit Politikern haben, die mit wohlfeilen Friedensparolen hausieren, aber das Fundament für einen echten Frieden nicht legen wollen. Wer solche Heuchelei betreibt, fällt nicht nur der Ukraine in den Rücken, sondern schadet der Sicherheit des gesamten Kontinents.

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