Mit dem Wahlsieger Herbert Kickl will niemand zusammenarbeiten, eine Regierung lässt auf sich warten.
Diese vier Konstellationen sind möglich.
Österreich steckt nach der Nationalratswahl von Ende September in einer Pattsituation. Es gibt mit der rechtspopulistischen FPÖ zwar eine klare Wahlsiegerin, die erstmals in der Geschichte stärkste Kraft wurde. Doch unter ihrem Chef Herbert Kickl will keine andere Partei mit ihr eine Koalition bilden.
Bundespräsident Van der Bellen spielt deshalb zunächst auf Zeit. Entgegen den Gepflogenheiten sah er vorerst davon ab, die FPÖ mit der Regierungsbildung zu betrauen. Stattdessen forderte er die Vorsitzenden der drei stimmenstärksten Kräfte zu direkten Gesprächen auf. Diese finden derzeit statt. Der Bundespräsident will danach über das weitere Vorgehen entscheiden.
Welche Szenarien sind denkbar – und wie realistisch sind sie?
1. Blau-schwarzes Bündnis rechts der Mitte
Am naheliegendsten wäre ein Mitte-rechts-Bündnis zwischen der FPÖ und der konservativen ÖVP. Inhaltlich haben die beiden Parteien weitgehende Überschneidungen in der Wirtschafts- und der Migrationspolitik, den beiden Politikbereichen mit drängendstem Handlungsbedarf.
Anders als in Deutschland gibt es in Österreich keine «Brandmauer»: Die ÖVP regierte auf Bundesebene schon zwei Mal mit der FPÖ, letztmals ab 2017 unter Sebastian Kurz. Eine Neuauflage dieser Zusammenarbeit entspräche am ehesten dem Wählerwillen: Das starke Plus von 12,6 Prozent kann man als Regierungsauftrag an die FPÖ interpretieren. Die ÖVP bleibt nämlich – trotz einem Verlust von 11,2 Prozent – mit einigem Vorsprung auf die Konkurrenz die zweitstärkste Partei.
In der ÖVP soll es deshalb durchaus Sympathien für Schwarz-Blau geben. Allerdings stünde die Koalition unter umgekehrten Vorzeichen: Das Kanzleramt beansprucht Herbert Kickl, dem Amtsinhaber und ÖVP-Chef Karl Nehammer käme nur die Rolle des Juniorpartners zu. Das spricht denn auch gegen diese Variante. In einer anderen Konstellation könnten die Konservativen weiterhin den Regierungschef stellen.
Kein Geheimnis ist zudem die tiefe gegenseitige Abneigung zwischen der ÖVP und Herbert Kickl. Die Partei hat den FPÖ-Chef in den vergangenen Monaten regelrecht verteufelt: Nehammer bezeichnete ihn als Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremen und als Gefahr für die Demokratie. Die Konservativen schlossen jede Zusammenarbeit mit ihm aus – eine Position, die sie nach der Wahl bekräftigen.
Sie argumentieren mit gewichtigen inhaltlichen Differenzen: In der Aussen- und Sicherheitspolitik steht die ÖVP für einen verlässlichen proeuropäischen Kurs, während die FPÖ noch 2016 ein Freundschaftsabkommen mit der Partei Wladimir Putins schloss und die EU als Kriegstreiberin diffamiert. Aus Wirtschaftskreisen fürchten zudem einige um den Ruf Österreichs unter einem Kanzler Kickl, der sich offen für eine Orbanisierung ausspricht und das Asylrecht per Notrecht aussetzen will.
Ohne personelle Wechsel an den Parteispitzen spricht deswegen wenig für diese Konstellation. Für beide Parteien ist zudem die historische Erfahrung eine Warnung: Sowohl unter Schüssel als auch unter Kurz endete Schwarz-Blau jeweils nach kurzer Zeit und im Chaos.
2. Anti-Kickl-Koalition der einstigen Grossparteien mit drittem Partner
Die logische Alternative ist ein Comeback des im Land als Synonym für Stillstand und Blockade gesehenen Bündnisses aus ÖVP und SPÖ. Diese ehemals grosse Koalition hat aber nur eine Mehrheit von einem einzigen Mandat. Sie braucht deshalb einen dritten Partner, um eine einigermassen stabile Mehrheit zu haben. Nach dem Zerwürfnis zwischen der ÖVP und den Grünen drängt sich dafür die liberale Partei Neos auf, die betont, mitgestalten zu wollen.
Atmosphärisch könnten diese drei Parteien zusammenfinden: Nehammer steht anders als noch Kurz den Sozialdemokraten nicht feindlich gegenüber. Inhaltlich sind die Differenzen in vielen Bereichen aber riesig, zumal die SPÖ unter ihrem Vorsitzenden Andreas Babler einen pointiert linken, klassenkämpferischen Kurs eingeschlagen hat. Seine Forderungen nach einer Viertagewoche und Vermögenssteuern verschrecken Wirtschaftskreise. Babler wurde von der Partei zwar inhaltlich etwas zurückgebunden, aber für beide ehemaligen Grossparteien wäre eine Zusammenarbeit mit Zugeständnissen verbunden, die den eigenen Wählern schwierig zu verkaufen wären. Deutschland zeigt ausserdem, wie schwierig Dreierbündnisse sind.
Die Wirtschaftslage ist zudem düster: Österreich erlebt das zweite Rezessionsjahr in Folge, und das Budgetdefizit ist explodiert. Brüssel verlangt deshalb Einsparungen von mehreren Milliarden, was die künftige Regierung zu schmerzhaften Einschnitten zwingen wird. Das birgt Konfliktpotenzial zusätzlich zu den grossen ideologischen Differenzen.
Dieses Szenario ist wohl das realistischste, enthält aber ein erhebliches Risiko. Wenn der einzige Zweck einer solchen Zusammenarbeit ist, Kickl an der Macht zu verhindern, ist ein Scheitern programmiert. Der FPÖ-Chef könnte von der Seitenlinie aus die ihn ausgrenzende «Koalition der Verlierer» kritisieren und könnte so in vorgezogenen Neuwahlen wohl erneut triumphieren.
3. Reformpartnerschaft eines Dreierbündnisses
Es gibt mit einer Dreierkoalition auch ein optimistischeres, wenn auch etwas weniger wahrscheinliches Szenario. ÖVP und SPÖ haben zwar grundlegende Differenzen. Aber sie haben in der Vergangenheit oft bewiesen, dass sie konstruktiv zusammenarbeiten können. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es fünf grosse Koalitionen, Schwarz-Rot hat diese Zeit massgeblich geprägt – so gelang die Überwindung der Krise in der Nachkriegszeit oder der EU-Beitritt.
Als staatstragend kann man die beiden Parteien nach dem Ergebnis dieser Wahl zwar nicht mehr bezeichnen; dafür haben ihr zu viele Wähler die Zustimmung versagt. Doch zusammen mit den reformwilligen Liberalen könnten ÖVP und SPÖ unter Beweis stellen, dass sie nach wie vor Veränderung bewirken können, wenn die Zeit drängt. Dazu müssten sich ihre Vorsitzenden zurücknehmen und pragmatisch agieren. In einer Abkehr vom Proporzdenken und der Rücksichtnahme auf lokale Befindlichkeiten braucht es eine Regierung der kompetentesten Köpfe. Ihr Programm sollte sich idealerweise streng an den grössten Sorgen der Bevölkerung – Migration, Wirtschaftswachstum und den steigenden Lebenskosten – orientieren und umsetzbar sein.
Dazu würde auch gehören, bei den öffentlichen Ausgaben zu sparen – also Schritte, die bei der Bevölkerung nicht gut ankommen. Doch gelänge es einer Dreierkoalition, ihre Vorhaben gemeinsam und glaubwürdig zu vertreten, könnte sie möglicherweise den Aufstieg der FPÖ stoppen.
4. FPÖ-geführte Minderheitsregierung
Es gab sie erst einmal: eine Minderheitsregierung. 1970 regierte der SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky mit der Unterstützung der Freiheitlichen. Diese waren damals zwar noch eine Kleinstpartei, aber sie hatten dem Sozialdemokraten ein Pfand abgerungen: eine Wahlrechtsreform, die kleinere Parteien fortan besserstellte. Doch Kreisky beendete das vielkritisierte Experiment nur eineinhalb Jahre später, indem er vorgezogene Neuwahlen ansetzte.
Die siegreiche FPÖ könnte das gleiche Experiment wagen und hätte inhaltlich vermutlich in einigen Fragen die Chance, die stille Unterstützung der ÖVP zu gewinnen; zumal die beiden Parteien derzeit in mehreren Bundesländern zusammen regieren. Die Frage ist, ob die Haltung der Konservativen, nicht mit Herbert Kickl zusammenarbeiten zu wollen, so weit geht, ihn auch nicht als Kanzler zu dulden.
Während Minderheitsregierungen in anderen europäischen Ländern immer wieder vorkommen, wäre es für Österreich ein ungewöhnliches Experiment. Insbesondere die einst staatstragenden Parteien müssten sich wohl ziemlich überwinden, um sich auf dieses Arrangement einzulassen.
Eine FPÖ-geführte Minderheitsregierung hätte den Vorteil, dass die FPÖ nicht mehr nur fordern könnte, sondern Verantwortung übernehmen müsste. Da sie gleichzeitig auf die Zustimmung von mindestens einer grösseren Fraktion angewiesen wäre, wäre sie quasi unter Kontrolle – sollte sie zu weit gehen, wäre die Regierung rasch gestürzt. Zudem wäre möglich, dass sich so unterschiedliche Mehrheiten für Reformen fänden, die in einem festen Koalitionspakt undenkbar wären.
Alle Augen auf Van der Bellen
In der kommenden Woche will Alexander Van der Bellen über die nächsten Schritte informieren. Doch unabhängig davon, wer letztlich mit der Bildung einer Regierung betraut wird, sind zwei Dinge sicher: Es wird lange dauern, und eine ideale Lösung gibt es nicht. Denn alle vier Szenarien bringen Nachteile mit sich – für die beteiligten Parteien und für die Österreicher und Österreicherinnen.