Dienstag, Oktober 29

Eine schnelle Trendwende zeichnet sich nicht ab. Europas Industrie steckt in einer strukturellen Malaise. Die Lager dürften weiter voll bleiben. Doch punktuell gibt es Lichtblicke, auf die Anleger setzen können.

Es gibt nichts zu beschönigen: Europas Industrie steckt in einer tiefen Krise. Seit über zwei Jahren sinkt die industrielle Produktion in der Eurozone kontinuierlich. Nach dem Hauptschuldigen muss man nicht lange suchen. Das Klagelied über die schwache deutsche Wirtschaft ist vor allem in Deutschland selbst ohrenbetäubend – wird aber auch bei den direkten Nachbarn, für die Deutschland ein wichtiger Handelspartner ist, immer lauter. Der gemeinsame Tenor: Deutschland ist wieder der kranke Mann Europas.

Ein Blick auf die einzelnen Euroländer zeigt, dass das Verdikt nicht danebenliegt. Gemäss der niederländischen Grossbank ING, die sich wiederum auf Eurostat-Zahlen beruft, ist die industrielle Produktion in Deutschland seit Anfang 2023 um 8,4% zurückgegangen. Richtig ist aber auch: Der Fokus auf Deutschland als Bremsklotz Europas überdeckt die Tatsache, dass es sich um ein europaweites Problem handelt. In den letzten achtzehn Monaten konnte kein einziges Euroland seine Industrieproduktion steigern. Mit einem Minus von 0,4% schneidet Frankreich noch am besten ab.

«Wir erleben derzeit den stärksten Produktionsrückgang in der Eurozone seit über dreissig Jahren, ohne dass die Wirtschaft in eine Rezession geraten wäre», hält dazu Bert Colijn, Ökonom von ING, in einer aktuellen Research-Note fest. Ein starker Dienstleistungssektor hält die Wirtschaft über Wasser, während das verarbeitende Gewerbe schrumpft.

Mehrere Bremsklötze in Europas Industrie

Europas Industrieproduktion befindet sich bereits seit 2022 in einem perfekten Sturm – die Hintergründe haben sich zuletzt aber gewandelt. Während sich die Covid-bedingten Lieferkettenprobleme entspannt haben, hat sich das Problem von der Angebotsseite auf die Nachfrageseite verschoben. «Die Einkaufsmanagerindizes zeigen, dass die Stimmung in Europa noch immer unten ist», sagt Alexander Koller, Industrieanalyst von der Bank Vontobel. Vor allem in Deutschland sei die Erholung noch zaghaft.

Zu den Gründen für den Mangel an Nachfrage in den vergangenen zwei Jahren zählen die inflationsbedingt gesunkenen Realeinkommen, die die Konsumentennachfrage hemmen – auch wenn die Löhne zuletzt etwas nachgezogen haben. Auch die höheren Zinsen haben ihre dämpfende Wirkung auf Investitionen im Industriesektor nicht verfehlt.

Darüber hinaus beeinträchtigt die schwache Nachfrage ausserhalb von Europa – besonders in China – den Auftragseingang in der europäischen Industrie. Gleichzeitig sorgt die Überproduktion im Reich der Mitte für zusätzlichen globalen Wettbewerb. China flutet – ebenfalls aufgrund mangelnder Inlandnachfrage – die Welt mit billigen Gütern, was den europäischen Export in Drittländer erschwert.

Grund zur Hoffnung bei den Lagerbeständen?

Colijn von ING betont zudem, dass die Schwäche in der Industrie beileibe kein globales Phänomen sei. «In China ist die industrielle Produktion in den letzten achtzehn Monaten 6% gewachsen, während sie ihr Niveau in den USA immerhin halten konnte.» Der Wert in der Eurozone im selben Zeitraum: –5%. Angesichts der schwachen Inlandnachfrage in China sei es keine Überraschung, dass die dortigen Ausfuhren im selben Zeitraum 15% gestiegen seien – während sie in Europa geschrumpft seien. «China konnte die schwache Inlandnachfrage überdecken, indem es für den Rest der Welt produzierte.»

Industrieproduktion in der Eurozone fällt, Wachstum in China

Für viele Beobachter ist der Lagerzyklus der Schlüssel zur Erholung der Produktion. An dieser Front zeigte sich zuletzt Licht am Ende des Tunnels. Aggregierte Daten der einzelnen Eurozoneländer deuteten im ersten und im zweiten Quartal 2024 erstmals seit Corona auf einen Nettoabbau der Lager hin. Die folgende Grafik zeigt die Veränderung der Lagerbestände, nicht ihren absoluten Wert. Letzterer liegt noch über dem Vorpandemieniveau.

Abbau von Lagerbeständen in der Eurozone hat vorsichtig begonnen

Dem jüngsten Lagerabbau ist ein weitaus grösserer Anstieg vorausgegangen. Das Thema treibt sowohl Unternehmen als auch Investoren seit vielen Quartalen um. Ob bei industriellen Vorprodukten, Ersatzteilen oder ganzen Produktionsmaschinen: In zahlreichen Branchen haben während der vergangenen Jahre, vor allem 2021 und 2022, die Kunden angesichts diverser Sonderfaktoren – sei es des vorübergehenden Coronabooms, des Krieges in der Ukraine oder der gestörten Lieferketten – alles gekauft, was sie bekommen konnten.

Warten auf die Trendwende

Die grossen Aufstockungen lassen Zweifel aufkommen, ob der Lagerbestand überhaupt je auf das alte Niveau sinken wird. Colijn hält es für möglich, dass einige Sektoren aufgrund von Unterbrechungen der Lieferkette während der Pandemie und der ersten Phase des Ukrainekrieges dauerhaft höhere Vorräte halten werden als in der Vergangenheit. «Gegenwärtig deuten viele Unternehmen im Euroraum darauf hin, dass die Lagerbestände an Fertigerzeugnissen weiter steigen, was uns skeptisch gegenüber einer baldigen Trendwende macht.»

Auch Analyst Koller sieht in der Industrie weder einen signifikanten Rückgang des Lagerbestands noch ermutigende Zeichen einer Erholung. «Alles, was mit der Automobilwirtschaft oder mit dem Maschinenbau zusammenhängt, schwächelt weiterhin.» Das mache zum Beispiel die Lage für den Verbindungsspezialisten Bossard, der bei vielen als Pulsmesser der Industrieproduktion gelte, schwierig. Hier sehe man eine Stabilisierung, «von einem Aufschwung kann man noch lange nicht sprechen».

Zu sehr hänge das Unternehmen an der europäischen Industrie. Zudem sei es stark von der Nachfrage nach neuen Maschinen in der Landwirtschaft abhängig. Bucher Industries, Spezialist für Landwirtschaftsmaschinen, hat vergangene Woche einmal mehr einen schwachen Auftragseingang gemeldet. «Auch bei Bossard-Kunde Tesla stagniert das Wachstum bei der Autoproduktion.»

Etwas Entspannung sieht Koller in der Intralogistik, etwa bei Interroll. Vor allem im E-Commerce-Sektor wurden während des Coronabooms die Lager erneuert und ausgebaut, was die Nachfrage in den letzten Jahren dämpfte. «Jetzt kommt das Tagesgeschäft langsam zurück.» Der andere grosse Schweizer Intralogistiker, Kardex, habe wegen seiner geringeren Exponiertheit gegenüber zyklischen Segmenten wie dem E-Commerce ohnehin weniger unter dem Lagerzyklus gelitten.

Wo sich schon jetzt Chancen bieten

Die Erholung in der europäischen Industrie lässt auf sich warten. Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, ob die Lagerbestände tatsächlich so stark wie in der Vergangenheit sinken müssen, um eine spürbare Belebung der Produktion hervorzurufen. Die letzten Jahre haben Zweifel an der Just-in-Time-Produktion aufkommen lassen, wo Materialien und Produkte genau dann geliefert oder produziert werden, wenn sie benötigt werden – was die Lagerbestände tief hält.

Viele Gesellschaften haben ihre Schwachstellen in der Lieferkette neu bewertet. Eine Konsequenz daraus zeichnet sich immer mehr ab: Unternehmen halten einen grösseren Lagerbestand, um weniger anfällig für Schocks in der Lieferkette zu sein. ING-Ökonom Colijn hält es daher für möglich, dass der «typische Lagerhaltungszyklus, bei dem ein Produktionsanstieg erwartet wird, sobald die Lagerbestände aufgebraucht sind, im gegenwärtigen unsicheren Klima der globalisierten Produktion nicht gilt».

Will heissen: Die Produktion in der Eurozone könnte anziehen, auch wenn die Lagerbestände höher bleiben als in früheren Zeiten. Der Wechsel zu einem «Just-in-Case-Modell» könnte dazu führen, «dass sich das verarbeitende Gewerbe in der Eurozone schneller erholt als derzeit erwartet», glaubt Colijn. Eine Wiedererstarkung der Kaufkraft der Konsumenten und eine Lockerung der Zinsen seien weitere Argumente, um für 2025 von einer Erholung im Industriesektor auszugehen.

Vontobel-Analyst Koller glaubt mit Blick auf 2025, dass mit den fallenden Zinsen die Bauwirtschaft an Dynamik gewinnen könnte. Was die Kosteninflation betreffe, sei der grösste Schub durch. «Investitionen in diesen Sektor können mit einer langfristigen Perspektive schon attraktiv sein.» Koller bevorzugt in der Bauwirtschaft Unternehmen wie Sika und Holcim, die global aufgestellt sind.

«Auch Schindler wird profitieren, wenn wieder mehr gebaut wird.» Noch immer vorsichtig ist er hingegen bei Geberit. Der Sanitärtechnikkonzern sei zu stark von Deutschland und Europa abhängig, hier brauche es noch etwas mehr Geduld.

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