Mittwoch, April 2

Afghanen sind nur eine kleine Gruppe in der Schweiz, doch begehen sie ungewöhnlich häufig Gewalttaten. Ein Teil der Erklärung liegt wohl in der gewaltvollen Geschichte ihres Heimatlandes und in ihrer oft traumatischen Fluchtgeschichte.

Als letzte Woche die neue polizeiliche Kriminalitätsstatistik veröffentlicht wurde, sorgte eine Gruppe für besondere Aufmerksamkeit: die afghanischen Flüchtlinge. Unter den Tatverdächtigen für Gewalt- und Sexualdelikte waren im Kanton Zürich Geflüchtete aus Afghanistan klar überrepräsentiert. Wie der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr bei der Präsentation der Zahlen hervorhob, kamen Afghanen bei den Delikten gegen Leib und Leben im Jahr 2024 zehn Mal häufiger vor, als dies ihr Anteil an der Bevölkerung erwarten liesse.

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Die Zahlen erwecken den Eindruck, dass afghanische Flüchtlinge ein besonderes Problem mit Kriminalität und Gewalt haben. Schon im Februar hatte in der Schweiz der offenbar nicht provozierte Angriff eines Asylbewerbers aus Afghanistan auf einen Rentner in einem Regionalzug in Appenzell für Aufsehen gesorgt. In Deutschland wiederum lösten im Januar und Februar zwei tödliche Anschläge durch afghanische Tatverdächtige eine Debatte über die Asylpolitik aus.

Nun ist es wichtig, die Relationen zu wahren: 2024 waren bei Gewalt- und Sexualdelikten im Kanton Zürich 3,9 beziehungsweise 3,5 Prozent der Verdächtigen Afghanen. Gemessen an der Gesamtzahl der Straftaten ist dies wenig – 96 Prozent wurden von anderen Personen begangen. Relativ zu ihrem Bevölkerungsanteil von 0,4 Prozent sind die Afghanen allerdings deutlich übervertreten. Es ist daher berechtigt zu fragen, warum sie vergleichsweise so häufig durch Gewalttaten auffallen.

Die allermeisten Afghanen sind junge Männer

Ein Teil der Erklärung liegt zweifellos in der demografischen Struktur der afghanischen Asylbewerber in der Schweiz: Denn laut den Behörden sind 37 Prozent von ihnen Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 13 und 24 Jahren. Auf eine Frau kommen dabei mehr als vier Männer. Ein Grossteil der Afghanen sind also junge Männer – und diese neigen auch in anderen Bevölkerungsgruppen eher zu Kriminalität und Gewalt. Zumal dann, wenn sie alleinstehend sind und keine Familie haben, die soziale Kontrolle ausüben kann.

Wenn afghanische Flüchtlinge in der Schweiz ungewöhnlich oft durch Gewalt auffallen, dann aber wohl auch deshalb, weil viele in ihrem Heimatland und auf der Flucht selbst Gewalt erlebt haben. Afghanistan war seit Ende der siebziger Jahre fast permanent im Krieg – ein Krieg, der von allen Seiten mit grosser Brutalität geführt wurde. Die meisten afghanischen Asylbewerber in der Schweiz sind unter vierzig und kennen damit nichts anderes als Krieg.

In den letzten Jahren vor dem Fall von Kabul im August 2021 war der Konflikt in Afghanistan der opferreichste der Welt. Die Terroranschläge der Taliban wie auch die westlichen Luftangriffe kosteten Zehntausende Zivilisten das Leben. Nächtliche Razzien, Überfälle und Entführungen bestimmten den Alltag. Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht ist der Bürgerkrieg zwar beendet, doch herrschen unter dem autoritären Regime der Islamisten Willkür und Gewalt.

Zwei Drittel der Afghanen leben in Armut

Durch den fast vollständigen Stopp der westlichen Hilfszahlungen nach 2021 ist die Wirtschaft in die Krise gestürzt. Nach Jahren der Dürre leiden viele Familien Hunger und kämpfen ums Überleben. Heute leben laut den Studien der Uno knapp zwei Drittel der 41 Millionen Afghaninnen und Afghanen in Armut, in manchen Provinzen liegt die Armutsquote gar bei mehr als 90 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen, gerade bei jungen Leuten führen die Untätigkeit und der Mangel an Perspektiven zu Frustration.

Die drastischen Einschränkungen für Mädchen und Frauen, die ohne männliche Begleitung nicht mehr auf die Strasse gehen, keine höheren Schulen mehr besuchen und in vielen Bereichen nicht mehr arbeiten dürfen, sind für die Familien eine grosse Belastung. Die meisten Frauen verlassen kaum noch das Haus. Da wegen des Zusammenbruchs der Wirtschaft auch viele Männer arbeitslos zu Hause sitzen, gibt es vermehrt Stress, Konflikte und auch häusliche Gewalt.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass seit 2021 mehr als eine Million Afghanen ihr Heil in der Emigration gesucht haben. Doch die Nachbarländer Pakistan und Iran, die während Jahrzehnten des Krieges Millionen Afghanen Zuflucht geboten haben, kämpfen selbst mit schweren Wirtschaftsproblemen. Pakistan hat seit dem Herbst 2023 Hunderttausende Afghanen in die Heimat abgeschoben, und auch Iran hat die Bedingungen für afghanische Flüchtlinge verschärft.

Der Weg nach Europa ist lang und gefährlich

Auch viele Afghanen, die in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten in Pakistan und Iran gelebt haben, entschliessen sich daher zur Migration nach Europa. Legale Einreisemöglichkeiten gibt es aber praktisch nicht, und der illegale Weg ist lang, kostspielig und gefährlich. Viele Länder entlang der Migrationsroute haben ihre Grenzen mit Zäunen und Mauern gesichert. An der Grenze zwischen Iran und der Türkei werden immer wieder Migranten erschossen. Ohne Hilfe von Schmugglern ist es kaum möglich, diese Grenzen zu überqueren.

Wegen der Gefahren sind es vor allem junge Männer, die sich auf die Reise wagen, und nur die Stärksten schaffen es ans Ziel. Viele sind Monate, wenn nicht Jahre unterwegs. Oft müssen sie in Iran und der Türkei auf dem Bau oder auf den Feldern Geld verdienen, um die Weiterreise zu bezahlen. Ohne gültige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen droht ihnen Ausbeutung, zudem leben sie in ständiger Angst vor Festnahme und Deportation durch die Polizei.

Wenn sie schliesslich in Europa ankommen, sind viele traumatisiert. Einmal am Ziel ihrer Träume, fällt vielen die Integration schwer. Viele haben nur unzureichende Sprachkenntnisse, manche können nicht einmal richtig lesen. Die Alphabetisierungsquote in Afghanistan liegt heute bei 37 Prozent. Zwar besucht der Grossteil der Buben und Mädchen die Primarschule, doch nur etwa ein Viertel aller Männer hat eine weiterführende Schule abgeschlossen. Der Anteil der Universitätsabsolventen liegt bei rund vier Prozent.

Viele Afghanen haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt

Viele afghanische Asylbewerber haben es damit nicht leicht, in Europa Arbeit zu finden. Doch wenn die Familie alle Ersparnisse investiert hat, um die Reise nach Europa zu bezahlen, ist der Druck auf die jungen Männer gross, Geld zu verdienen, um die Angehörigen in der Heimat zu unterstützen. Wenn sie diese Erwartungen nicht erfüllen können, haben viele junge Männer das Gefühl, zu versagen.

Zusätzlich erschwert wird die Integration durch die kulturellen Unterschiede. Die Schweiz ist ein modernes, stark urbanisiertes Industrie- und Dienstleistungsland, Afghanistan ist dagegen traditionell und dörflich geprägt. Drei Viertel der Bevölkerung leben weiterhin auf dem Land. Dort bestimmen religiöse und tribale Bräuche sowie ein strikter Ehrenkodex den Alltag. Diese prägen auch das Verhältnis der Geschlechter und die Männer- und Frauenbilder.

Viele der männlichen Flüchtlinge sind mit strenger Geschlechtertrennung aufgewachsen und haben nur wenig Erfahrung im Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit. Wenn sie in Europa ankommen, müssen sie erst die anderen sozialen Regeln lernen. Oft sind sie dabei auf sich gestellt. Wie Hilfsorganisationen seit langem beklagen, gibt es in der Schweiz wie in den anderen Ländern Europas nur wenig Betreuungsangebote für Flüchtlinge – gerade im psychologischen Bereich.

Es fehlt oft an psychologischer Betreuung

Die Anlaufstellen für traumatisierte Flüchtlinge mit psychischen Problemen sind oft unterbesetzt und unterfinanziert. Oft fehlt es auch an ausreichend qualifizierten Übersetzern. Viele Männer scheuen sich zudem, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Folge ist, dass viele psychische Störungen nicht behandelt werden. Doch wenn Flüchtlinge, die selbst Gewalt erlebt haben, auch noch unbehandelte Belastungen aufweisen, ist dies eine gefährliche Kombination, wie der Psychologe Jérôme Endrass kürzlich in der NZZ sagte.

Solche multipel belastete Personen seien sehr schwierig zu integrieren, sagte der Zürcher Forensiker. Auch sei bei ihnen das Risiko einer Gewalteskalation überdurchschnittlich hoch. Ein Teil der Gewalt richtet sich dabei gegen andere Afghanen. Laut der Polizei ist ein Hotspot für Gewaltdelikte der Zürcher Hauptbahnhof. Er ist ein beliebter Treffpunkt für afghanische Flüchtlinge im Kanton. Dabei kommt es auch immer wieder zu Streitereien mit anderen Afghanen.

Ein hoher Männeranteil, häufige Gewalterfahrung, eine traumatische Fluchtgeschichte und eine prekäre soziale und wirtschaftliche Lage, die zu Frustration führt – all dies kann helfen, die erhöhte Anzahl von Gewaltdelikten bei afghanischen Asylbewerbern in Zürich zu erklären. Um die Taten jedoch ganz zu verstehen, muss jeder Einzelfall betrachtet werden. Denn die Taten, die Umstände und die Verdächtigen sind zu verschieden, als dass es eine allgemeingültige Antwort auf die Frage gebe, warum Afghanen so häufig durch Gewalttaten auffallen.

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