Mittwoch, Februar 12

Die Zahl der Hundeangriffe auf Menschen nimmt zu, die Politik will das Problem mit Rasseverboten eindämmen. Dabei ist eine Hunderasse nicht per se aggressiver als andere – gefährliches Verhalten entsteht aus anderen Gründen.

Salsa* blickt mit stechend blauen Augen in die Welt – ein erstaunlich leuchtender, aber auch verzweifelter Blick. Der schöne Weimaranerrüde hat nichts Stolzes an sich, jeder Muskel in seinem Körper ist angespannt. Wie eine Sphinx hat er sich in der Mitte des Raumes postiert und starrt seine Besitzerin mit grossen Pupillen an – ganz so, als erwarte er ein dramatisches Ereignis wie eine Bombenexplosion. Dabei sitzen Salsas Besitzer ganz ruhig in ihren Korbstühlen in der Praxis der Verhaltenstierärztin Maya Bräm. Anstatt der Bombenexplosion fährt alle halbe Stunde mal ein Auto an der Praxis in Frick vorbei.

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Salsa hat offensichtlich ein Problem. Das wird auch daran deutlich, dass er einen Maulkorb aus Metall trägt. Zum Glück – wenn dieser nicht sein Maul umschliessen würde, hätte er binnen einer Viertelstunde womöglich zwei Mal seine Zähne in den Beinen der anwesenden Personen versenkt. Ohne Vorwarnung.

Verhaltenstierärztin Maya Bräm bleibt gelassen. Sie unterhält sich mit Salsas Haltern Karla und Thomas* und beobachtet Salsa währenddessen aus den Augenwinkeln sehr genau. Sie ist Expertin für ein Problem, das in vielen westlichen Ländern, auch in der Schweiz und Deutschland, immer grösser wird: Hundebisse und -angriffe. Allein im Kanton Zürich erhöhte sich die Zahl der gemeldeten Vorfälle zwischen Mensch und Hund von 649 im Jahr 2019 auf 839 im Jahr 2023. Im deutschen Bundesland Bayern stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von 1221 auf 1482. Die Statistiken anderer Kantone und Bundesländer zeigen Ähnliches.

Rottweiler als böser Bube

Die Politik sieht sich im Zugzwang und hat eine schnelle Antwort parat. Nachdem im Oktober vergangenen Jahres ein Rottweiler fünf Personen angegriffen hatte, darunter zwei Kinder, erliess der Kanton Zürich eilig ein neues Rasseverbot: Ab 2025 ist die Neuanschaffung von Rottweilern verboten. Menschen, die bereits einen Rottweiler halten, müssen eine spezielle Bewilligung beantragen. Dies gilt so schon seit Jahren für elf weitere Rassen, ähnliche Vorgaben gelten in anderen Kantonen und auch in Deutschland.

Eine politische Reaktion, die vollkommen ausser acht lässt, was die Wissenschaft heute über Hundeverhalten weiss. «Rottweiler zu verbieten – das ist so, als würde man BMWs verbieten, um Unfälle zu vermeiden. Autofahrer kaufen sich dann einfach irgendein anderes Auto und bauen mit denen Unfälle», sagt Bräm. Sie muss es wissen: Unzählige Hunde mit Aggressionsproblemen hat sie schon gesehen. «Vom Chihuahua bis zum Labrador.»

Verhaltensbiologen, Tiermediziner und andere Fachleute sind sich schon lange einig: Rasselisten und -verbote sind sinnlos. Doch selbstverständlich ist es wichtig, Menschen zu schützen, jeder Biss ist einer zu viel. Nur, was hilft? Warum werden Hunde überhaupt gefährlich – und warum nimmt die Zahl der Beissvorfälle zu?

Eine erste Erklärung für die Zunahme ist schlicht. Die Zahl der Hunde wächst seit Jahren, sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz. Es ist also nur logisch, dass es mehr Unfälle gibt. Doch das erklärt nicht alles. «Aggressives Verhalten ist meistens ein Symptom», sagt Maya Bräm. Die Tierärztin hat eine dreijährige Zusatzausbildung für Verhaltensmedizin absolviert. Sie arbeitet in ihrer Privatpraxis und am Universitätstierspital Zürich als Fachexpertin für Verhaltensprobleme bei Tieren. Hauptsächlich behandelt sie Hunde, häufig solche, bei denen kein anderer Trainer oder Tierarzt mehr weiterweiss.

Salsa hat mehrfach zugebissen

Sie sieht Hunde, die vor lauter Angst nicht mehr vor die Tür können, solche, die ständig ihren Schwanz jagen und sich die Pfoten wund nagen. Aber auch jene mit Leinenaggression, die also an der Leine durchdrehen, wenn sie einem Artgenossen begegnen – ein recht häufiges Phänomen, das wahrscheinlich jeder schon einmal auf der Strasse beobachtet hat. Und solche wie Salsa: Hunde, die Menschen beissen.

Vier oder fünf Mal hat Salsa schon zugebissen, immer in die Beine von Bekannten oder Freunden der Familie. Seiner Familie ist das sehr unangenehm, das Ehepaar sitzt bedrückt in der Praxis. Deshalb möchte es auch nicht seine richtigen Namen in der Zeitung lesen. «Wir haben die ganze Zeit grosse Sorge, dass wieder etwas passiert. Salsa kann draussen nur noch mit Maulkorb herumlaufen, unsere Kinder wollen ihn nicht mehr spazieren führen. Die Leute sehen ihn mit Maulkorb und denken: aha, ein böser Hund, und bewerten uns gleich mit», sagt Karla.

Eine ungerechtfertigte Stigmatisierung. Denn die Familie übernimmt Verantwortung für ihr Tier und will eine Lösung finden, die Salsa gerecht wird, aber eben auch Menschen schützt. «Das ist ja nicht immer der Fall», sagt Bräm.

Salsa ist ein eindrückliches Beispiel: Hunde, die beissen, entsprechen keineswegs immer dem Klischee vom Kampfhund und von seinem prolligen Besitzer. Salsa ist ein Weimaraner, eine alte deutsche Jagdhunderasse, die ursprünglich dafür gezüchtet wurde, Wild anzuzeigen, nach dem Schuss zu suchen und zu bringen. Die Rasse steht auf keiner Liste, geschweige denn ist sie verboten. Das würde auch keinerlei Sinn ergeben, genauso wie beim Rottweiler: Wissenschaftlich gesehen gibt es keine Anzeichen dafür, dass bestimmte Rassen per se aggressiver sind als andere. Zudem machen einzelne Aggressionen einen Hund nicht zwangsläufig zu einer Gefahr.

Aggression kann normales Verhalten sein

Die Medien sprechen im Zusammenhang mit Hundebissen häufig von grundsätzlich aggressiven Hunden. Dabei ist aggressives Verhalten wie zum Beispiel Beissen häufig eine Folge von Angst, Wut, Schmerz, Irritation oder Jagdtrieb. «Aggression bei Hunden ist wie bei Menschen nicht krank oder unnormal, sondern Teil des Verhaltens, das je nach Kontext angemessen oder unangemessen sein kann», sagt Bräm. Wolle ein Hund dem anderen sein Fressen wegnehmen und dieser knurre, dann sei das ein normales aggressives Verhalten, das eine Kommunikation darstelle. Der Hund sage damit aus, dass er etwas nicht wolle.

«Gefährlich wird ein solches Verhalten erst, wenn es nicht zum Kontext passt, unangemessen und vor allem unvorhersehbar ist», sagt Bräm. Zusätzlich sind Faktoren wichtig wie Grösse und Rasse. Aber nicht, weil das Verhalten einer bestimmten Rasse die Gefährlichkeit vorhersagen würde. Sondern deshalb, weil ein grosser und schwerer Hund von 40 Kilo wie ein Rottweiler mit dem entsprechenden Gebiss einen Menschen schwerer verletzen kann als ein Chihuahua.

«Doch der wichtigste Faktor, um die Gefährlichkeit eines Hundes einzustufen, ist sein Besitzer», sagt Bräm. Die gefährlichste Kombination sei die, dass ein Tier eine Tendenz habe, in unangemessenen Situationen aggressiv zu reagieren – «und sein Besitzer nimmt dieses Verhalten nicht ernst, kann die Auslöser nicht einschätzen und reagiert nicht mit den richtigen Massnahmen, um die Sicherheit des Umfelds zu gewährleisten.»

Um zu verstehen, warum Hunde beissen, ist noch etwas anderes wichtig: Das Beziehungsgespann aus Hund und Mensch ist etwas Einzigartiges, das zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse. Forscher interessieren sich seit einigen Jahrzehnten verstärkt für Hunde und zeigen immer mehr, dass Hunden ein ausserordentlich komplexes Sozialverhalten eigen ist.

Kein Tier ist dem Menschen so ähnlich wie der Hund

Kein anderes Tier zieht den Menschen seinen Artgenossen vor – Hunde schon. Sie können Menschen bemerkenswert gut lesen, sie verstehen menschliche Körpersprache, unsere Worte und fühlen unsere Emotionen. Sie können sogar unser Verhalten in einem gewissen Grad vorhersagen – zum Beispiel widerstanden sie in einer bekannten Studie einer Futter-Versuchung, wenn sie wussten, dass der Mensch sie beobachtete.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass die internationalen Hundebiss-Statistiken durchweg eines zeigen. Beissvorfälle mit Hunden sind häufig eine Form der häuslichen Gewalt – sie geschehen in den meisten Fällen in der Familie, Hund und gebissene Person kennen sich. Die Vorfälle geschehen also aus einer Beziehungsdynamik heraus.

Denn das macht es eben auch kompliziert: Ein Tier, das dem Menschen im Sozialverhalten so sehr ähnelt wie kein anderes Tier auf der Erde – und wie der Mensch in Beziehungen denkt und lebt, hat in gewissem Sinne eine ähnliche Psyche wie der Mensch. Das Beziehungsgespann zwischen Mensch und Hund ist fehler- und konfliktanfällig wie jenes zwischen Menschen.

Und viele Hundehalter unterschätzen diesen Aspekt nicht nur – sie sind ihren Hunden in einem entscheidenden Punkt unterlegen: Hunden ist die Fähigkeit, in menschlichen Gesichtern zu lesen, angeboren. Umgekehrt zeigten Studien, dass Menschen häufig versagen, wenn sie die Körpersprache und Mimik von Hunden deuten sollen. Denn Menschen müssen das anders als Hunde erst erlernen.

Viele verstehen ihren Hund nicht

Um einen Hund artgerecht und sicher halten zu können, ist es also wichtig, sich mit dem Verhalten des komplizierten Beziehungswesens auseinanderzusetzen und es verstehen zu lernen – das gelingt vielen Menschen nicht sehr gut. Hinzu kommt, dass die meisten Hunderassen für verschiedene Arbeitszwecke gezüchtet wurden und dementsprechend unterschiedliche Eigenschaften besitzen, die es korrekt einzuschätzen, zu fördern und zu bewältigen gilt. Gelingt dies, ist selbst so ein spezieller Arbeitshund wie ein Herdenschutzhund nicht gefährlicher als ein Dackel.

Andersherum entwickelt aber zum Beispiel ein Border Collie, der als Familienhund bei Menschen ohne besonderes Vorwissen leben soll, wahrscheinlicher Verhaltensstörungen als ein Zwergpudel, weil seine Bedürfnisse als Hütehund spezieller und fordernder sind. «Gemessen an der Unkenntnis durchschnittlicher Hundebesitzer ist es eigentlich erstaunlich, dass nicht viel mehr passiert», sagt Belinda Brunner trocken. Die ausgebildete Hundetrainerin hat viel Erfahrung mit den typischen Erziehungsproblemen von Hundebesitzern.

Sie ärgert sich wie Maya Bräm sehr über das Rottweilerverbot und Rasselisten allgemein. «Wir wissen doch schon längst aus der Erfahrung vieler europäischer Länder, dass Rasselisten die Zahl der Beissvorfälle nicht senken.» Ausserdem funktioniere häufig noch nicht einmal die Identifizierung der Rasse. «Ein Hund kann ein Mischling aus dem verbotenen American Pit Bull Terrier und einem Dackel sein. Und trotzdem zu fast hundert Prozent wie ein Dackel aussehen. Zwar wäre er theoretisch verboten, aber sehen kann das keiner.»

Besonders schade findet sie, dass ein tatsächlich hilfreiches Instrument in der Schweiz jahrelang eher reduziert wurde denn ausgebaut: der Sachkundenachweis, auch Hundeführerschein genannt. Zwar müssen Ersthundehalter im Kanton Zürich ab Juni 2025 wieder einen obligatorischen Ausbildungskurs besuchen. «Aber die Inhalte und die Qualifikation der Ausbilder sind nur oberflächlich geregelt und entsprechen nicht immer wissenschaftlichen Erkenntnissen.» Sie empfiehlt, den Beruf Hundetrainer zum geregelten Ausbildungsberuf zu machen, mit festgelegten Lerninhalten.

Tierärzte mit einer Zusatzausbildung für Verhaltensmedizin:

www. stvv.ch (Schweizerische Tierärztliche Vereinigung für Verhaltensmedizin)

www.gtvmt.de/service/suche-verhaltenstieraerzte/ (Deutsche Gesellschaft für Tierverhaltensmedizin und -therapie)

Fachleute sind sich einig: Um gefährlichem Verhalten von Hunden vorzubeugen, ist Information und Auseinandersetzung der wichtigste Faktor. Und trotzdem kann das manchmal schiefgehen. Salsas Besitzer wollten alles richtig machen. Sie waren mit Salsa in einer Hundeschule, sie interessieren sich für sein Wohlbefinden und sehen ihn als Familienmitglied mit eigenen Bedürfnissen. Und doch beisst er zu. Warum?

Salsa bekommt Antidepressiva

«Es ist kein Erziehungsproblem, es ist seine psychische Gesundheit», sagt Maya Bräm. «Er ist die ganze Zeit extrem angespannt und aufgeregt, reagiert übermässig sensibel auf Reize, hat eine niedrige Stress- und Frustrationstoleranz. Ein englisches Wort trifft es am besten: ‹anxiety›», sagt sie am Ende der Konsultation, die mehrere Stunden in Anspruch genommen und in der sie sogar nach dem Verlauf von Salsas Welpenzeit gefragt hat. Bei Menschen würde man von einer Angststörung sprechen.

Zudem habe Salsa wenig Vertrauen in Menschen, sei reaktiv und introvertiert. «Er ist schon allein von dieser Situation hier in der Praxis so überwältigt, dass er sozusagen überkocht vor Anspannung. Somit ist das Risiko höher, dass er bei einem zusätzlichen Reiz unmittelbar mit Beissen reagiert.»

Warum genau es Salsa so geht, kann die Tierärztin noch nicht sagen. Dafür sind Folgekonsultationen nötig. «Es kann aber durchaus sein, dass eine genetische Veranlagung für Angst und erhöhte Erregungszustände vorliegt. Bestimmte äussere Faktoren haben das dann verstärkt.» Ganz wie beim Menschen und bei seinen psychischen Störungen.

Was können Karla und Thomas nun tun? Bräms Empfehlungen sind umfangreich. Zum Beispiel empfiehlt sie Arbeit mit einem Verhaltenstrainer, damit die Familie noch besser mit Salsa umzugehen und klar zu kommunizieren lernt – etwas, das Hunde lieben, weil es ihnen Sicherheit vermittelt.

Und neben Entspannungsmassnahmen bekommt Salsa nun auch eine medizinische Therapie: Fluoxetin, ein Psychopharmakon aus der Humanmedizin, das den Grundstresspegel herunterregeln und die Ängstlichkeit lindern kann. Das Medikament ist auch unter dem Namen Prozac bekannt. Wie Salsa das wohl findet? Karla und Thomas hoffen, dass es hilft – denn auch ohne Bombenexplosion ist der Hund sichtlich mit den Nerven am Ende. «Er wird vor Erschöpfung im Auto schlafen wie ein Baby.»

* Namen sind geändert, der Redaktion aber bekannt.

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