Präsident Trump wünscht sich Kanada als 51. Gliedstaat. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Beziehung der beiden Länder von Frieden und Zusammenarbeit geprägt. Doch das war keineswegs immer so.
Seit seiner Wiederwahl hat Präsident Trump immer wieder öffentlich bekundet, dass er Kanada zum 51. Gliedstaat der Vereinigten Staaten machen möchte. Die Bevölkerung im Nachbarland nimmt diese Drohung ernst, Trumps Aussagen haben stark verunsichert. Beim jüngsten Treffen mit dem kanadischen Premierminister Mark Carney im Oval Office hat der amerikanische Präsident zwar erklärt, dass ein Anschluss auf freiwilliger Basis zustande kommen müsse. Doch er stellte die Grenze zwischen den beiden Ländern ein weiteres Mal als unnatürlich dar: «Jemand hat diese Linie vor vielen Jahren mit einem Lineal gezogen, eine gerade Linie quer durch das Land.»
Aus der Geschichte gewachsene Unterschiede
Bei seiner Darstellung, wonach die Kanadier und die Amerikaner eigentlich eine Nation sind, ignoriert Trump allerdings die sehr unterschiedliche Entstehungsgeschichte der beiden Länder. Insbesondere der grosse Einfluss der französischsprachigen Bevölkerung und die lange Abhängigkeit von der britischen Krone haben Kanada stärker europäisch geprägt als die USA. Die politische Kultur Kanadas legt mehr Wert auf Kompromissbereitschaft und soziales Wohlergehen als auf den Individualismus und die Betonung der persönlichen Verantwortung, die in den Vereinigten Staaten vorherrschen.
Um das besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Entstehung Kanadas und die Beziehung zwischen den beiden Nachbarn seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776. Die kanadische Ostküste und das Gebiet entlang des Sankt-Lorenz-Stroms wurden ab dem frühen 17. Jahrhundert von den Franzosen besiedelt, etwa zur gleichen Zeit, als weiter südlich die dreizehn amerikanischen Kolonien entstanden, welche später die Vereinigten Staaten von Amerika bildeten. Der Name Kanada stammt vom irokesischen Wort für Siedlung («kanata») und wurde bereits im 16. Jahrhundert vom französischen Entdecker Jacques Cartier eingeführt.
1608 wurde Quebec gegründet, 1642 Montreal. Frankreich kopierte in seiner kanadischen Kolonie Neufrankreich das Gesellschaftssystem des Ancien Régime mit einer vom König abhängigen Regierung, dem Lehenssystem – bei welchem sogenannte Seigneurs Land an Siedler verpachteten – und einer führenden Stellung der katholischen Kirche.
Auch englischsprachige Siedler kamen nach Kanada. Zuerst an die Küste und später aus dem Gebiet der Grossen Seen ins heutige Ontario mit der Provinzhauptstadt Toronto. Auf dem Gebiet Kanadas dominierte aber noch lange die französische Sprache.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts überholten die Englischsprachigen zahlenmässig die Frankofonen. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) zwischen den europäischen Grossmächten trat Frankreich aber seine Kolonie Neufrankreich an die Briten ab.
Kanada schliesst sich der Unabhängigkeitsbewegung nicht an
Als sich die dreizehn amerikanischen Kolonien 1776 für unabhängig erklärten, hofften sie im Krieg gegen die Briten auf Unterstützung durch die Kanadier. Doch eine klare Mehrheit war dazu nicht bereit. Damit zeichnete sich die Spaltung Nordamerikas in zwei Staaten endgültig ab.
Verschiedene Gründe hatten dazu geführt, dass ein Zusammenschluss der Kanadier mit den amerikanischen Revolutionären nicht zustande kam. Das britische Parlament verabschiedete 1774 die Quebec Act, die der französischsprachigen, katholischen Mehrheit in Quebec erhebliche religiöse und rechtliche Freiheiten gewährte.
Das Gesetz ermöglichte es ihnen, ihre Sprache, ihre Religion und das französische Zivilrecht beizubehalten. Die Frankofonen hatten damit wenig Anlass, zu den amerikanischen Revolutionären überzulaufen, die eine andere Sprache sprachen und unter denen eine antikatholische Haltung weit verbreitet war.
Ausserdem gab es in Kanada im Gegensatz zu den dreizehn Kolonien keine Tradition der Selbstverwaltung oder repräsentativer Versammlungen. Die französisch-kanadische Elite (Seigneurs und Geistliche) unterstützte die britische Regierung, denn diese war ein Garant für ihre Privilegien.
Die Briten unterhielten eine starke Militärpräsenz in wichtigen kanadischen Städten, was mögliche Revolutionäre abschreckte. Bereits 1775 hatten zudem amerikanische Unabhängigkeitskämpfer eine militärische Invasion nach Kanada unternommen, die aber vor Quebec von den Briten und den örtlichen Milizen zurückgeschlagen wurde. Dies entfremdete die lokale Bevölkerung zusätzlich von den Revolutionären.
Im Friedensschluss mit den dreizehn Kolonien bestätigten die Briten 1783 deren Unabhängigkeit und legten die Grenze zu Kanada im Osten bis zum Mississippi fest. Zahlreiche probritische Loyalisten aus den Vereinigten Staaten siedelten nach Kanada über und verstärkten damit die Abgrenzung gegenüber dem Nachbarland auch unter den Englischsprachigen.
Diese machten 1812, als die USA den Briten erneut den Krieg erklärten, fast einen Viertel der kanadischen Bevölkerung aus. Die amerikanischen Truppen versuchten mit einer neuerlichen Invasion, Kanada an sich zu reissen. Doch der Angriff scheiterte. Den Briten gelang es, den Potomac hinaufzusegeln, Washington (DC) einzunehmen und das Weisse Haus abzubrennen. Im Frieden von Gent 1814 wurde darauf die Vorkriegsgrenze wiederhergestellt.
Von Trump kritisierte Grenzlinie entsteht
Mit der zunehmenden Expansion von Siedlern nach Westen musste nun auch die kanadisch-amerikanische Grenze zwischen dem Mississippi und dem Pazifik festgelegt werden. Dabei einigte man sich in zwei Verträgen 1818 und 1846 auf den 49. Breitengrad – die von Trump beanstandete Linie.
Doch das Zusammenleben zwischen Amerikanern und Kanadiern war auch danach nicht so friedlich, wie wir es aus der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg kennen. Die USA erhoben weiterhin Anspruch auf Kanada. 1866 wurde im Repräsentantenhaus in Washington ein Gesetz eingebracht, das die Annexion Britisch-Nordamerikas und die Aufnahme seiner Provinzen als Staaten und Territorien in die USA verlangte.
Der Gesetzentwurf wurde zwar nie verabschiedet, doch um den amerikanischen Ansprüchen entgegenzuwirken, machte London im Jahr darauf Kanada mit der British North America Act zu einem weitgehend selbstverwalteten Bundesstaat. Die Kanadier feiern dies bis heute als Beginn ihrer Eigenstaatlichkeit.
Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert trat die Kriegsgefahr in den Hintergrund. Kanada fürchtete sich nun mehr vor wirtschaftlichem Druck aus den USA als vor einem militärischen Angriff. Auch kämpften die beiden Länder im Ersten Weltkrieg Seite an Seite, was die Beziehungen verbesserte. Trotzdem entwickelten sie auch in der Zwischenkriegszeit noch Pläne für einen Krieg gegeneinander.
Mit dem sogenannten War Plan Red erarbeitete das amerikanische Kriegsministerium 1930 eine geheime Strategie für einen möglichen Krieg gegen das britische Weltreich aus. Unter anderem sollten dabei amerikanische Truppen an sechs Schlüsselstellen Kanada angreifen. Die Kanadier ihrerseits hatten bereits 1921 mit dem sogenannten Defense Scheme No. 1 einen gegen einen möglichen amerikanischen Angriff gerichteten Abwehrplan entwickelt. Mit einem Präventivschlag wollten sie wichtige amerikanische Verkehrsknoten besetzen und eine Taktik der verbrannten Erde anwenden.
Verteidigung der Nordwestpassage wird zum Thema
Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die beiden Länder eine enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit ein. Sie richteten das North American Aerospace Defense Command (Norad) ein, ein gemeinsames Luftverteidigungskommando zur Überwachung und Verteidigung des Luftraums in Nordamerika. Ausserdem arbeiten sie als Nato-Mitglieder eng zusammen.
In Zukunft könnte vor allem die Nordwestpassage über das Polarmeer vom Atlantik in den Pazifik für neue Friktionen zwischen den USA und Kanada sorgen. Die strategische Bedeutung der Route für die Schifffahrt wächst, da sie wegen der höheren Meerestemperaturen länger im Jahr befahrbar ist.
Kanada muss deshalb die freie Durchfahrt an seiner Nordküste garantieren. Falls die USA zu dem Schluss kommen sollten, dass die Kanadier dazu nicht willens oder fähig sind, könnte Washington durchaus versucht sein, dort einzugreifen. Das Interesse von Trump an Grönland muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.