Samstag, November 30

Bei den Schweizer Intralogistikern geniesst Interroll gegenüber Kardex noch immer eine deutlich höhere Bewertung. Diese Diskrepanz ist nicht mehr gerechtfertigt.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser

Den Status als Qualitätsunternehmen muss man sich hart erarbeiten. In der Schweiz fällt der Name Interroll als erstes, wenn es um das Thema Intralogistik geht. Und das nicht zu Unrecht. Die Tessiner haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren als bevorzugter Zulieferer für Lager- und Materialflusssysteme etabliert. Die Margen sind – vor allem für ein Industrieunternehmen – ordentlich, die Geschäftsaussichten bestens und das Management vertrauenswürdig.

Auch mir gefällt Interroll als Unternehmen, und ich bin überzeugt, die Aktie wird langfristig noch viel Freude bereiten. Trotzdem wundere ich mich, dass der Name Kardex nach wie vor meist erst im zweiten Atemzug genannt wird, wenn es um die Profiteure von strukturellen Trends wie der steigenden Lohninflation oder dem verschärften Arbeitskräftemangel geht. Vom steigenden Bedarf an Lagermodernisierung und -automatisierung profitieren die Zürcher in gleichem Masse wie Interroll.

Kardex mit historischem Ballast

Gewiss: Die Geschichte von Kardex ist stärker belastet als jene von Interroll. Viele erinnern sich noch an die Buchhaltungsprobleme bei den Zürchern vor knapp zwanzig Jahren. Nach der Korrektur von Buchungsfehlern wurde 2006 aus einem zuvor erwarteten Jahresüberschuss plötzlich ein Verlust. 2011 stand man zudem nahe dem Konkurs. Währenddessen liefert Interroll praktisch seit zwei Jahrzehnten eine zuverlässige Wachstumsgeschichte – natürlich mit zwischenzeitlichen Schwächephasen, die ein zyklisches Geschäft zwangsläufig mit sich bringt.

Doch solche Todsünden von Kardex, die der Kapitalmarkt zu Recht mit einem Bewertungsabschlag bestraft hat, sind Vergangenheit. Heute sind die Zürcher weltweit führender Anbieter von automatisierten Lager- und Bereitstellungssystemen und – sowohl geografisch als auch die Kundenbasis betreffend – breit diversifiziert. Dennoch kommt die Bewertung noch immer nicht an jene von Interroll heran.

Die Aktien von Kardex werden auf Basis der Gewinnschätzungen der kommenden zwölf Monate derzeit mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 26,5 gehandelt.

Die Aktien von Interroll geniessen mit einem KGV von 37 eine deutliche Bewertungsprämie. In beiden Fällen ist die Bewertung mit den steigenden Aktienkursen seit dem Zwischentief Ende Oktober wieder über den langjährigen Schnitt gestiegen – bei Interroll ist die Abweichung ausgeprägter.

Kardex wächst – Interroll tritt auf der Stelle

Die deutliche Höherbewertung von Interroll erstaunt auch vor dem Hintergrund, dass das Unternehmen zuletzt kaum gewachsen ist. Im Gegenteil, 2023 brach der Ertrag um rund 16% ein auf 556 Mio. Fr., nach einem mässigen Umsatzwachstum 2022 von knapp 4%. Die Tessiner verdauen weiterhin das Corona-Boomjahr 2021, als der Umsatz um ein Fünftel in die Höhe schnellte. Kardex wiederum liefert seit Jahren stabile Wachstumsraten im zweistelligen Bereich – mit Ausnahme des ersten Corona-Jahres 2020.

Dass Interroll durch Ebit-Margen zwischen 13 und 18% (in den vergangenen fünf Jahren) mehr vom Umsatz im Unternehmen halten kann als Kardex (10 bis 14%), mag eine gewisse Höherbewertung rechtfertigen. Doch angesichts des stabileren und zuletzt höheren Wachstums von Kardex erscheint mir das Ausmass der Bewertungsdifferenz nicht mehr angebracht.

Die Zürcher haben im zuletzt schwierigen Umfeld dank ihres stabilen Servicegeschäfts (Anteil am Umsatz: 30%, Interroll: 10%) Krisenresistenz bewiesen. Interroll ihrerseits tut sich als Zulieferer von Komponenten seit langem schwer damit, das hochmargige Servicegeschäft auszubauen, weil ihr dabei stets die Systemintegratoren dazwischenfunken. Kardex – selbst als Systemintegrator tätig – ist hier in einer besseren Position.

Beide Aktien langfristig ein Kauf

Für mich haben beide Unternehmen hohe Qualität, was das Management, die Produktpalette – beides sind Marktführer in ihren jeweiligen Nischen – und nicht zuletzt die finanzielle Solidität betrifft. Sowohl Kardex als auch Interroll sind bestens positioniert, um vom strukturellen Trend der Automatisierung von logistischen Material- und Warenflüssen zu profitieren.

Unsere Empfehlung vor anderthalb Jahren, wegen der unsicheren Aussichten bis auf weiteres Kardex zu bevorzugen, hat sich bisher ausgezahlt. Besonders in den letzten sechs Monaten sind die Aktien der Zürcher besser gelaufen. Vor diesem Hintergrund erstaunt die nach wie vor hohe Bewertungdiskrepanz umso mehr.

Langfristig haben beide Werte einen Platz im Portfolio verdient. Kurzfristig dürfte Kardex durch ihren noch immer hohen Auftragsbestand vor all zu grossen Rücksetzen gefeit sein, sollte sich das Umfeld weiter als schwierig erweisen. Andererseits könnte bei Interroll angesichts der weniger vollen Auftragsbücher eine wieder anziehende Auftragslage – etwa im E-Commerce-Bereich – kurzfristig eine Erleichterungsrally auslösen.

Freundlich grüsst im Namen von Mr Market

Henning Hölder

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