Sonntag, September 29

Seit Jahren hinken die Schwellenländer der Konkurrenz aus den Industrieländern hinterher, die Anleger haben sich abgewendet. Werden Emerging Markets zu Recht stiefmütterlich behandelt, oder lockt eine interessante Einstiegschance?

Nichts wirkt besser gegen Überschwang als eine lange Durststrecke. Vor fünfzehn Jahren herrschte Euphorie um die Schwellenländer, der Westen ächzte unter den Folgen der Finanzkrise, während die aufstrebenden Volkswirtschaften zum Überholmanöver ansetzten. Für viele Marktbeobachter war klar: Es beginnt eine neue Ära der Schwellenländer, und Anleger müssen ihr Portfolio entsprechend umschichten.

Wer den Rat beherzigte, wurde allerdings enttäuscht: Seit dem 1. Januar 2010 ist der MSCI Emerging Markets kaum vom Fleck gekommen, bis Ende August 2024 erzielte er in Dollar ein kärgliches Plus von 11%, in Franken resultierte gar ein Verlust von fast 9%. Inklusive Dividenden betrug der Zuwachs ebenfalls wenig berauschende 67%. Die totgesagten Industrieländer warfen immerhin 213% ab (inklusive Dividenden 350%). Bloss in fünf der vergangenen fast fünfzehn Jahre haben Schwellenländer besser abgeschnitten als ihre westlichen Pendants (grau markiert in der Grafik).

Kein Wunder, werden Aktien aus Emerging Markets derzeit verschmäht. Optimismus herrscht einzig in Bezug auf einige wenige Technologiekonzerne und bei indischen Valoren.

Bewertung spricht für Emerging Markets

Das enttäuschende Abschneiden hat dazu geführt, dass viele Schwellenländer nun über einen klaren Bewertungsvorteil verfügen. Das lässt sich etwa anhand einer langfristigen Bewertungskennzahl wie des Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnisses zeigen, das den aktuellen Kurs mit den durchschnittlichen inflationsbereinigten Gewinnen der vergangenen zehn Jahre vergleicht.

Während Industrieländeraktien (blaue Linie) derzeit rund 40% über dem langfristigen Mittelwert handeln, notieren Schwellenländer (gelbe Linie) nur geringfügig darüber (10%). Die Diskrepanz zwischen den beiden Bewertungskennzahlen war selten grösser, seit 2012 hat sich eine Bewertungsschere geöffnet.

Interessant ist ein Blick auf die einzelnen Länder. Dafür hat The Market einen Bewertungsindikator kreiert, der fünf Kennzahlen umfasst: das erwähnte Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis, das vorwärtsgerichtete KGV, das Kurs-Umsatz- und das Kurs-Buchwert-Verhältnis sowie die Dividendenrendite. Sie werden mit den historischen Werten verglichen und in ein Gesamtmass zusammengefasst (das Vorgehen wird hier genauer erläutert). Je niedriger der entsprechende Perzentilrang – er bewegt sich zwischen 0 und 100 –, desto attraktiver ist die Bewertung.

Dabei bestätigt sich der Befund, dass viele Emerging Markets günstig sind. Die Börsen in Lateinamerika stechen positiv hervor, aber auch Polen, China, Südafrika und die Türkei überzeugen mit einer attraktiven Bewertung. Teuer sind hingegen Indien und Taiwan.

China in der Deflation

Ein wichtiger Grund für die Zurückhaltung der Marktteilnehmer sind die schlechten Nachrichten aus China, das lange der globale Wachstumsmotor war. Dem Land macht das Ende des Immobilienbooms zu schaffen. Seit mittlerweile 34 Monaten fallen die Häuserpreise, die Kreditvergabe und das Geldmengenwachstum sind rückläufig, und die Lokalregierungen müssen wegen fehlender Einnahmen aus Landverkäufen den Gürtel enger schnallen.

Der Konsum geht zurück, und die jüngsten Signale vom Arbeitsmarkt sind ebenfalls wenig ermutigend. Bislang zeigte sich die chinesische Regierung nicht bereit, das Problem entschieden anzupacken, und auch Stimulusmassnahmen lassen weiterhin auf sich warten. Damit verbunden ist auch eine geringere Nachfrage nach Rohstoffen und Importgütern, was wiederum auf die Konjunktur in anderen Schwellenländern ausstrahlt.

Die Börsenkurse in China entwickeln sich entsprechend lustlos, während die langfristigen Zinsen kontinuierlich nach unten tendieren – ein klares Signal, dass die Anleger keine Wachstumsbelebung erwarten. Ein positiver Effekt ist immerhin, dass das Gewicht Chinas im MSCI Emerging Markets spürbar abgenommen hat, was das Klumpenrisiko für Anleger mindert.

Die geringen Erwartungen spiegeln sich in den gedrückten Bewertungen des MSCI China und des MSCI Hong Kong. Etwas bessere – oder weniger schlechte – Nachrichten aus dem Reich der Mitte könnten den Schwellenländern durchaus neuen Schwung verleihen.

Willkommene Dollarschwäche

Auch ein schwächerer Greenback wäre hilfreich – und in den jüngsten Wochen hat er spürbar nachgegeben. So ist der Dollarindex, der den Aussenwert der US-Währung gegenüber den Valuten der wichtigsten Handelspartner der USA misst, innerhalb von zwei Monaten 4% gefallen.

Ein schwächerer Dollar geht oft mit einer besseren Performance bei Aktien ausserhalb der USA einher, wobei Schwellenländer in der Regel besonders profitieren, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Immer dann, wenn sich der Dollarindex (blaue Linie) abschwächte, schnitten Schwellenländeraktien besser ab als Valoren aus den Industrieländern. Die rote Linie zeigt die relative Kursentwicklung: Steigt sie, erzielen Schwellenländer eine Outperformance, fällt sie, haben Industrieländer die Nase vorn. Akzentuiert sich die Abwertung des Dollars, ist das für Emerging Markets erfreulich.

Da nun auch die US-Notenbank am 18. September die Leitzinsen senken dürfte, könnte der Abwärtsdruck auf den Greenback durchaus anhalten, was die Finanzierungsbedingungen in vielen Schwellenländern verbessern wird, insbesondere in solchen mit einem hohen Anteil an Dollarschulden. Und da auch nach den Wahlen in den USA eine ausgabefreudige Fiskalpolitik zur Tagesordnung zählen dürfte, würde eine längere Schwächephase beim Greenback nicht überraschen.

Das würde es vielen Schwellenländern erlauben, die Leitzinsen weiter zu senken, ohne sogleich einen neuen Inflationsschub auszulösen. Das würde die Nachfrage nach Konsum- und Hypothekarkrediten beleben, was sich positiv auf die Binnennachfrage und die Vermögenspreise auswirken dürfte. Insbesondere einige Länder in Lateinamerika verfügen über Zinssenkungspotenzial. In Brasilien liegen die Leitzinsen derzeit bei 10,5%, in Mexiko bei 10,75%.

Sowohl Brasilien als auch Mexiko schneiden zudem aus Bewertungssicht äusserst vorteilhaft ab. Mexikos Börse reagierte mit markanten Abgaben auf den Erdrutschsieg der Partei Morena und auf die Wahl von Claudia Sheinbaum zur neuen Präsidentin Mexikos im Juni, und auch der Peso hat sich spürbar abgewertet. Die Anleger befürchten, die Regierung werde ihre Mehrheitsverhältnisse nutzen, um Verfassungsänderungen vorzunehmen, die den Standort Mexiko für Unternehmen schwächen werden, und sehen die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Ein Risikofaktor ist zudem die grosse Abhängigkeit von der US-Konjunktur. Die Bewertungen nehmen jedoch ein ziemlich pessimistisches Szenario vorweg.

Auch in Brasilien belastet die Politik, die sich unter der Führung von Luiz Inácio Lula da Silva vermehrt in die Privatwirtschaft einmischt. Hinzu kommt die wachsende Besorgnis der Investoren über die Entwicklung der Staatsfinanzen, wobei das Budget für 2025 Aufschluss geben dürfte, ob die Vernunft obsiegt. Werden neben Steuererhöhungen auch Ausgabenkürzungen beschlossen, um das Budget ins Lot zu bringen, wäre das ein positives Signal für die Anleger. Ein schwacher Dollar würde zudem die Rohstoffnotierungen unterstützen, wovon das Land profitieren würde.

Ansprechendes Wachstum

Schliesslich sind auch die Wachstumsaussichten für Schwellenländer intakt, wie James Donald, Leiter Emerging Markets bei Lazard Asset Management, meint: «Während sich das Wachstum in den Schwellenländern beschleunigt und 2024 voraussichtlich 4,2% erreichen wird, dürfte es sich in den Industrieländern im selben Zeitraum auf 1,5% verlangsamen.»

Das sollte sich in der Gewinnentwicklung niederschlagen. Gemäss Lazard dürften die Unternehmensgewinne in den Schwellenländern in diesem Jahr um fast 17% und 2025 rund 15% wachsen. Das liegt über den entsprechenden Werten von 11 respektive 14% für die USA.

Rotation in Nachzügler

Seit der Börsenkorrektur Anfang August lässt sich an den Börsen zudem eine Rotation in die bisherigen Nachzügler beobachten. Insbesondere die bisherigen Überflieger aus den Sektoren Technologie und Kommunikation bekundeten zuletzt Mühe, die hochgesteckten Erwartungen der Anleger zu erfüllen.

Kommt es tatsächlich zu einem nachhaltigen Favoritenwechsel, würde das Schwellenländeraktien begünstigen. Eine prominente Ausnahme wäre wohl die technologielastige taiwanische Börse, die vom Halbleiterfertiger TSMC dominiert wird. Er stellt rund die Hälfte des MSCI Taiwan, der Technologiesektor kommt auf ein Gewicht von nahezu 80%. Verlieren die Anleger den Glauben an die Verheissungen der künstlichen Intelligenz, dürfte der Höhenflug Taiwans ein Ende finden, nicht zuletzt auch weil die Bewertungen im historischen Vergleich sportlich sind.

Risiko US-Rezession

Gelingt der US-Wirtschaft jedoch keine sanfte Landung, und es kommt zur Rezession, wäre die Erholung der Schwellenländeraktien gefährdet. Auch die US-Präsidentschaftswahlen sorgen für Unsicherheit: Verschärft das künftige Staatsoberhaupt den Wirtschaftskrieg mit China, würde sich das Umfeld ebenfalls weiter eintrüben.

In einem solchen Szenario wären indische Aktien wohl ein vergleichsweise sicherer Hafen: Schon vor einem Monat, als die Börsen weltweit einbrachen, zeigte sich Indiens Börse bemerkenswert widerstandsfähig. Der Rückschlag unmittelbar nach den Wahlen war ebenfalls schnell ausgebügelt – mit ein Grund waren die einheimischen Anleger, die den Rückschlag für Zukäufe genutzt haben, wie Shumita Deveshwar vom Londoner Analysehaus TS Lombard bemerkt.

Das Land verfügt über einige Trümpfe: Die Demografie ist attraktiv, die Mittelschicht wächst rasch, Indien ist demokratisch und die Regierung marktfreundlich. Schliesslich wird das Land von internationalen Unternehmen zunehmend als Alternative zu China gesehen, weshalb es von einer Verlagerung der Lieferketten profitiert. Der grosse Wermutstropfen ist allerdings, dass die Bewertungen bereits vieles davon vorwegnehmen.

Besseres Risiko-Rendite-Profil

Anleger begegnen Aktien aus Schwellenländern mit grosser Skepsis, was angesichts diverser Risikofaktoren verständlich ist. Allerdings ignorieren sie die Gefahren, denen etwa die dominierende US-Börse ausgesetzt ist: In den USA stehen Präsidentschaftswahlen an, das Budgetdefizit und die Staatsverschuldung sind hoch wie selten und die Börse anspruchsvoll bewertet. Aktien aus Emerging Markets bieten immerhin eine Prämie für das eingegangene Risiko.

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