Donnerstag, März 6

Was hat die Guillotine mit dem Fotoapparat zu tun? Viel, wenn man László F. Földényi glaubt. Der ungarische Essayist erzählt die Geschichte des 19. Jahrhunderts neu. Auf beunruhigende Weise.

Der Untertitel dieses Buches lautet «Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts». Er täuscht: «Sterbensbilder» wäre treffender. Die Serie locker verfugter, furioser Kurzessays von László F. Földényi beginnt und endet mit Fragen, die man sich nie stellen und die man erst recht nicht beantwortet wissen wollte.

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Zum Beispiel: Macht es für den Delinquenten einen Unterschied, ob sein Kopf vom Henker vom Rumpf getrennt oder von der Guillotine im Schnellverfahren abgeschlagen wird? Das ist nicht einfach zu beantworten. Aber echte Forscher geben sich mit diesem Nichtwissen nicht zufrieden.

Vom April 1792, als die Guillotine zum ersten Mal eingesetzt wurde, bis ins 20. Jahrhundert haben Ärzte neben dem Fallbeil gewartet und die frisch vom Blutgerüst herabgefallenen Häupter mit Fragen bombardiert: «Haben Sie etwas gespürt?» Durch Schläge auf die Wangen versuchten sie, Reaktionen zu provozieren – mit unbefriedigenden Ergebnissen. So bleibt das Fazit: Das Weiterleben eines Kopfes ohne Körper wäre die perfekte Hölle auf Erden, Dante hätte zugestimmt.

Am treffendsten liesse sich Földényis Buch mit einem Zitat charakterisieren: Es ist so zwingend aufgebaut wie «das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch». Das Sprachbild stammt von Isidor Ducasse (1846–1870), der sich als Dichter eine virtuelle Identität als Graf Lautréamont zulegte und die «Gesänge des Maldoror» schrieb, eine alle Tabus brechende Feier der Grausamkeit.

Die Geheimnisse von Paris

Darin kommt es nicht nur zur denkwürdigen Begegnung von Schirm und Nähmaschine, sondern auch zu einem Rendez-vous mit Gott in der Gosse, nach dem dieser wie eine Wanze Blut gesoffen hat. Getreu dem von Lautréamont zur Kunst erhobenen Prinzip des Unerhörten, Ungeheuerlichen geht auch Földényi als Verehrer und Fortsetzer des Surrealismus vor. Lautréamont ist gewissermassen sein Begleiter bei den Spaziergängen durch die dunklen Geheimnisse von Paris und die noch dunkleren Regionen des Unterbewusstseins.

Földényis Assoziationen sind sprunghaft, kapriziös, wie vom Unterbewusstsein eingegeben – wie die der Surrealisten. Von der Guillotine als dem Heiligtum der Ersten Republik geht es zu Géricaults Bildern abgeschlagener Köpfe, die treffend als gefühllos dargestelltes Menschen-Aas klassifiziert werden. Daran schliesst sich die These, dass die Guillotine durch ihr rasantes Köpftempo die Justiz ermuntert habe, immer mehr Todesurteile auszusprechen und damit am Anfang des seriellen, ja industriellen Tötens stehe.

Den grausigen Endpunkt dieser Entmenschlichung bezeichnen die Gaskammern des Holocaust. Földényi führt nüchtern eine Statistik an, die Albträume verursacht: Der Geschwindigkeitsrekord der Guillotine liegt bei fünfzig Köpfen in 28 Minuten. Der nächste Gedankengang ist schwerer nachzuvollziehen: Was haben die Sanierung heruntergekommener Pariser Stadtviertel und die Erfindung der Fotografie mit der Todesmaschinerie der Revolution zu tun?

Der blutrote Faden, an dem der Autor sein perplexes Lesepublikum führt, leitet zur Antwort über: Die erste Fotografie eines Menschen zeigt einen Schuhputzer ohne Kopf, weil dieser während der Aufnahme mit dem Kopf gewackelt hat. Földényis Schlussfolgerung: Die Kamera ist eine Art neue Guillotine. Sie tötet den lebendigen Anblick, der sich nie wieder einstellen wird. Und sie ist so erbarmungslos wie die Tötungsmaschine, weil sie nichts, auch nicht das Hässliche und Unwichtige, weglässt, sondern alles dokumentiert.

Ausschnitte des Lebens

Eine weitere kühne Analogie dieses an Analogien reichen Buches: Die Stadtplanung des Barons Haussmann ist wie eine Guillotine, weil sie Paris vernichtet. Sie erzeugt mit riesigen leblosen Plätzen urbane Wüsteneien und zerstückelt den vorher lebendigen Stadtkörper. Die Fotografie ist die Komplizin dieser Zerstörungsaktion.

Ihrer langen Verschlusszeiten wegen zeigt sie ganze Quartiere als Steinskelette ohne Blutkreislauf, das heisst: ohne ihre Bewohner, also leblos, abgestorben, enthauptet. Damit schlägt Földényi die Brücke zu den Bildern des Impressionismus mit ihren Momentaufnahmen: Das Auge von Edgar Degas ist wie eine Kamera, die nur noch Ausschnitte des Lebens festhält – die Fragmentierung des menschlichen Daseins schreitet unaufhaltsam fort.

Spätestens hier meldet sich der Historiker mit Bedenken, die sich mit ihrer rationalen Kleinlichkeit gegenüber der grandiosen Bilderfolge dieses Buches fast peinlich ausnehmen: Die Hinrichtungspraxis des Ancien Régime zerstückelte den menschlichen Körper viel stärker als die Guillotine.

Als Beispiel mag man den vom Autor erwähnten Fall von Robert-François Damiens anführen, der 1757 einen Anschlag auf Ludwig XV. verübte, der scheiterte. Dafür wurde er bei lebendigem Leib von vier Pferden in vier Teile gerissen – vor einem begeisterten Publikum, das nach der Beobachtung des Augenzeugen Giacomo Casanova von diesem grausamen Schauspiel sexuell kräftig stimuliert wurde.

Die Auflösung aller Logik

Weitere Einwände wären möglich: Die Urbanistik des 19. Jahrhunderts legte, um in der Metaphorik des Autors zu bleiben, mit ihren Boulevards Bypässe, die das Herz der Metropole kräftiger schlagen liessen und sie übersichtlicher, durch die Möglichkeit schneller Truppenaufmärsche auch leichter zu beherrschen machten. Die Fotografie tötete nicht, sondern hielt vergängliche Momente für die Ewigkeit fest, konservierte sie. So, wie die Impressionisten die Flüchtigkeit eines Sommerspaziergangs im Mohnfeld für die Nachwelt verewigten.

Aber zurück zu Földényis Assoziationsfolgen: In der durch Modernisierung zerstückelten Stadt Paris ist für ihn der Schlagschatten der Guillotine allgegenwärtig. Er prägt das Existenzgefühl aller Schichten: das des Volkes durch die öffentlichen Schauspiele der Exekutionen, an denen es sich berauscht, das der kreativen Elite durch die Entwicklung einer neuen Wissenschaft namens Pataphysik, die Ende des 19. Jahrhunderts vom Schriftsteller Alfred Jarry konzipiert wurde.

Die Pataphysik leugnet alle Gesetze der Physik. Sie ist die Auflösung aller Logik, die Verneinung aller Kausalität von Ursache und Wirkung und damit die Entdeckung, dass die Wirklichkeit nicht wirklich ist. An ihrem Ende steht die «Enthirnung» des Menschen, der als gewissermassen endgültiger Triumph der Guillotine selbst zur Maschine mit einer mechanischen Seele und damit zum Instrument zur Herstellung seiner eigenen Nichtigkeit wird.

Fazit: Ein kluges, lesenswertes Buch, aber mit einer Warnung zu versehen: Der Zauber des Entsetzlichen hat seinen Preis. Medizinischer formuliert: Mit Nebenwirkungen in Form von Albträumen muss gerechnet werden.

László F. Földényi, Der lange Schatten der Guillotine. Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Matthes & Seitz-Verlag, Berlin 2025. 302 S., Fr. 41.90.

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