Sonntag, Oktober 6

Innerhalb weniger Jahre hat die französische Metropole die Transformation zu einer Top-Velostadt geschafft. Den verstopften Strassen trauert kaum jemand nach.

Es ist eine Szene, wie sie jeder Velofahrer in Zürich und anderen Schweizer Städten kennt: Auf der Rämistrasse stauen sich die Autos, von der Universität bis hinunter zum Kunsthaus. Kaum ein Autofahrer kommt auf die Idee, auf seiner rechten Seite eine Gasse für die Velofahrer zu lassen. Diese haben die Wahl zwischen zwei unbefriedigenden Varianten: gefühlt ewig warten oder ausweichen aufs Trottoir oder aufs Tramgleis – mit dem Risiko, dass irgendwo ein Polizist wartet und eine Busse verhängt.

Welch ein Kontrast dazu ist Paris! Innert weniger Jahre ist die Stadt von einer Velohölle zu einem Veloparadies geworden. Der Prachtboulevard Rue de Rivoli von der Bastille bis zur Place de la Concorde mit ihrem Obelisken gehört nun praktisch den Velofahrern; auf der Höhe der Tuilerien könnten sie auf zwei ehemaligen Autospuren auch zu zehnt nebeneinanderfahren.

Besonders attraktiv sind in Paris die Strecken auf beiden Seiten der Seine: Wo sich noch vor ein paar Jahren die Autos stauten, ist der Weg nun frei für die Velos. Selbst ein gut achthundert Meter langer einstiger Autotunnel entlang dem Louvre ist Teil dieser Route und diente auch schon als Street-Art-Galerie. Das Velonetz der Stadt umfasst mehr als tausend Kilometer. Und es wächst weiter.

Wieso bekommen die Schweizer Städte so etwas nicht hin?

Weniger Unfälle

Auf praktisch allen grösseren Pariser Strassen gibt es für die Velos eine separate, mit Mäuerchen abgegrenzte Spur. Das verstärkt das Gefühl subjektiver Sicherheit, wirkt sich aber auch objektiv aus. Die Pariser scheren sich kaum um Ampeln, niemand trägt einen Helm, und wenn normale Velos auf E-Bikes treffen, kann es zu brenzligen Situationen kommen. Dennoch gab es im Grossraum Paris mit gut zwölf Millionen Einwohnern im vergangenen Jahr lediglich zwölf tödliche Unfälle von Velofahrern. In der Schweiz mit ihren neun Millionen Einwohnern waren es doppelt so viele.

Die Geschichte der Velostadt Paris beginnt in einer Zeit, in der das moderne Fahrrad noch nicht erfunden ist. Von 1853 bis 1870 gestaltet Baron Georges-Eugène Haussmann im Auftrag von Kaiser Napoleon III. die französische Hauptstadt radikal um: Er schlägt breite Schneisen in das kleinteilige mittelalterliche Strassengeflecht und legt die Boulevards und sternförmigen Kreuzungen an, die das Stadtbild immer noch prägen.

Diese breiten Verkehrsachsen erleichterten es den Planern rund 150 Jahre später, ein grosszügiges Velonetz anzulegen. Ebenso der Umstand, dass mit der Metro ein Grossteil des öffentlichen Verkehrs unterirdisch unterwegs ist und es kaum Trams gibt, die Platz auf den Strassen beanspruchen. Doch dass Paris zur Velostadt wurde, war kein Selbstläufer. Es brauchte dazu den politischen Willen und die Energie, die ehrgeizigen Pläne durchzusetzen.

Corona brachte den Durchbruch

Das ist vor allem das Verdienst von Anne Hidalgo. Die Sozialistin trat 2014 ihren Posten als Bürgermeisterin mit dem Ziel an, aus Paris eine «15-Minuten-Stadt» zu machen: Die Bevölkerung soll alle wichtigen Einrichtungen innert einer Viertelstunde zu Fuss oder mit dem Velo erreichen. Um diese Vision umzusetzen, liess sie von 2015 bis 2020 die Länge der Velowege verdoppeln und investierte dafür 150 Millionen Euro. Autoparkplätze verschwanden im grossen Stil, auf praktisch allen Strassen gilt ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde.

Den Durchbruch brachte Corona: Die Pariserinnen und Pariser mieden die chronisch überfüllte Metro, die zur Virenschleuder verkam, und stiegen massenhaft aufs Velo um. Der Veloverkehr nahm um etwa 60 Prozent zu. Nach dem Ende der Pandemie konnten die Autos die Strassen nicht zurückerobern, die verkehrspolitische Transformation der Stadt ist breit akzeptiert.

Zwar hinkt Paris bei der Velonutzung noch weit hinter Kopenhagen oder Amsterdam her, und der Grossteil der Pendler nutzt weiterhin den öV. Dennoch ist schon fast vergessen, dass Hidalgos Plan ursprünglich auf viel Widerstand stiess. Bei den Autofahrern, aber auch bei Geschäftsbesitzern. Sie hatten Angst vor Umsatzeinbussen, die nie kamen. Einzig vom Gewerbe gibt es noch vereinzelt Klagen, weil der Zugang für Lieferfahrzeuge schwieriger geworden ist.

Enge mittelalterliche Strassen

Es sind Befürchtungen, wie man sie auch in der Schweiz hört. Bei unseren Städten kommt hinzu, dass sie nie einen Baron Haussmann hatten: In den meisten Zentren dominieren jahrhundertealte Strukturen. Die Strassen in Zürich, Bern oder Basel sind so eng, dass es nicht einfach noch Platz gibt für einen Velostreifen neben den Autospuren und den Tramgleisen. Doch einer der am besten vernetzten Velolobbyisten findet, das dürfe keine Ausrede sein für einen allzu langsamen Ausbau des Netzes: Jürg Buri, Geschäftsleiter von Pro Velo Schweiz.

«Die Stadt- und Verkehrsplaner müssen den Mut zu radikalen Lösungen haben, so wie Anne Hidalgo in Paris. Oder wie der Bürgermeister von Gent in Belgien, einer Stadt mit sehr ähnlichen Bedingungen wie Zürich», sagt Buri. «Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Städte für das Auto umgebaut. Das müssen wir jetzt rückgängig machen.» Er will einen wesentlichen Teil der Autospuren zugunsten der Velofahrer aufheben, bis es fast nur noch Einbahnstrassen gibt.

Laut ETH-Forschern würde eine solche Transformation dazu führen, dass auf 37 Prozent der Zürcher Strassen Platz für Velos, E-Bikes, Lastenräder oder E-Scooter entstünde, aber auch für Gehwege, Grünflächen, Spielplätze. Heute sind nur rund 12 Prozent des Strassenraums für das Velo reserviert. «Das Auto gehört zum städtischen Verkehr, allein schon wegen der Ambulanzfahrzeuge, der Polizei oder des Gewerbes», sagt Buri. «Aber dafür muss nicht jede Strasse in zwei Richtungen befahrbar sein.»

Linke Regierungen scheitern

In praktisch allen Schweizer Städten gibt es seit Jahren solide rot-grüne Mehrheiten. Es ist deshalb auf den ersten Blick erstaunlich, wie verkorkst die Velopolitik ist. Jürg Buri hat den Verdacht, dass dieser Zustand auch etwas damit zu tun habe, dass der Tiefbau immer noch eine Männerdomäne sei. «Frauen wagen es eher, autofreie Kernstädte zu denken.»

Eigentlich ist es klar, dass das Velo das schnellste Verkehrsmittel für die kurzen Distanzen in den Städten ist. Das bestätigte jüngst eine Studie des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse. Doch das Velo ist mehr als ein simples Mittel der Fortbewegung, es polarisiert. Viele Velofahrer halten sich für die moralisch überlegenen Weltenretter und sehen Autofahrer als Klimaverbrecher. Und für manche Autofahrer sind Velofahrer grundsätzlich linke Chaoten, die sich an keine Regeln halten.

Gerade in Zürich werden Versuche der städtischen Politik, dem Velo mehr Platz zu geben, immer wieder vom bürgerlich dominierten Kanton gestoppt. Das passierte etwa im Fall eines Spurabbaus an der Bellerivestrasse. Und das blüht auch aktuellen Plänen, die vorsehen, den Autoverkehr auf zwei Hauptverkehrsachsen in der Innenstadt massiv zu reduzieren.

Etwas bessere Noten als an Zürich vergibt Jürg Buri an Basel, Bern und Winterthur. Auch Lausanne und Genf hätten Fortschritte gemacht und die Corona-Krise genutzt, um neue Velowege zu bauen. In Basel plant die Regierung sogenannte Superblocks: Das sind Häuserblocks und Quartierstrassen, die für den motorisierten Durchgangsverkehr praktisch ausnahmslos gesperrt werden. Doch all das reicht aus Buris Sicht nicht.

Fahrfehler verzeihen

80 Zentimeter breite Radstreifen auf die Strasse malen, das nütze den geübten Fahrern. «Aber wenn wir mehr Leute aufs Velo bringen wollen, braucht es Spuren, die vom Autoverkehr abgetrennt sind und die auch einmal einen Fahrfehler verzeihen – gerade für Kinder und Jugendliche.» Buri berichtet von Bekannten, die ein Jahr lang in Amsterdam lebten und dort täglich mit dem Velo unterwegs waren. «Jetzt sind sie zurück in Bern und getrauen sich nicht mehr mit den Bikes auf die Strassen, weil sie sich unsicher fühlen.»

Christian Wasserfallen hält solche Klagen für massiv übertrieben. «Ich fahre in der Stadt Bern Velo, seit ich ein Kind bin – und hatte noch nie Probleme», sagt der FDP-Nationalrat und Verkehrspolitiker. Die Massnahmen der links-grünen Stadtregierungen zur Förderung des Velos hält er für hochgradig kontraproduktiv: «Sie verengen die Strassen und stellen irgendwelche Blumenkübel hin. So gibt es kaum mehr Platz, damit sich Velos und Autos kreuzen können. Und das ist dann vor allem für die Velofahrer gefährlich, die oft aufs Trottoir ausweichen.»

In den Schweizer Städten vermisst Wasserfallen auch die Klarheit und die Homogenität der Velostrassen, wie sie die Pariser nun haben. «Dort gibt es durchgängige Wege, bei uns wechseln sich einzelne brauchbare Etappen mit Zonen mit Mischverkehr ab, in die alle Verkehrsteilnehmer hineindrängen.» Das sei ein selbstgewähltes Leiden der rot-grünen Veloromantik, sagt Wasserfallen. Und plädiert für Veloschnellstrassen auf den Hauptverkehrsachsen, wo Autos und Velos beide genügend Platz erhalten müssten. «Entflechtung statt Flickwerk.»

Der Nutzen des Autobahnausbaus

Unverständlich ist für Wasserfallen, dass sich die Linke vehement gegen einen Ausbau der Autobahnen wehrt, wie er am 24. November zur Abstimmung kommt. Um London oder Paris herum gebe es, anders als bei vielen Schweizer Städten, grosse Strassenringe, die viel Autoverkehr aufnehmen könnten.

«Je mehr Autos flüssig über die Autobahn die Zentren umfahren können, desto weniger Verkehr gibt es in den Quartieren – und umso angenehmer ist es für die Velofahrer, das ist doch logisch.» Auch der öV würde laut Wasserfallen profitieren. Genau solche Fortschritte bringe beispielsweise der neue Anschluss beim Berner Wankdorf.

Ein Verkehrsregime mit praktisch nur noch Einbahnstrassen, wie es die Velolobby fordert, kommt für Wasserfallen hingegen nicht infrage. «Das verwirrt nur die Autofahrer, die dann irgendeinen Umweg durch die Quartierstrassen suchen.» Ohnehin findet er es verfehlt, die Autos noch mehr aus den Zentren zu verdrängen, etwa durch eine weitere Reduktion der Parkplätze. «In den Innenstädten gibt es doch schon fast keine Autos mehr. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht zu begehbaren Museen werden.»

Ausgestorbene Innenstädte

Der städtische Raum werde nicht automatisch aufgewertet, nur weil Velos und Fussgänger statt Autos unterwegs seien, sagt Wasserfallen. «Abgeriegelte Innenstädte wie Burgdorf, Lenzburg oder auch Bern unterhalb des Zytgloggeturms wirken oft wie ausgestorben und müssen künstlich wiederbelebt werden. Man kann es eben auch übertreiben.»

Für den Velolobbyisten Buri hingegen kann es gar nicht zu viel Veloförderung geben. Der Bund investiere 10 Milliarden Franken pro Jahr in den Verkehr, aber nur ein Prozent davon sei für den Langsamverkehr reserviert. «Solange nicht mehr Geld in die Veloinfrastruktur fliesst und die Kantone und Gemeinden den Ausbau der Netze zu einer Priorität machen, wird es keine substanzielle Verbesserung der Situation geben», sagt Buri.

Wie sollen zehn Millionen vorankommen?

Er geht davon aus, dass in der Schweiz in absehbarer Zeit zehn Millionen Menschen leben, ein Grossteil von ihnen in urbanen Gebieten. «Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf den öV und das Velo als flächeneffiziente Mobilitätsträger zu setzen. Sonst kommen all die Leute gar nicht mehr vorwärts.»

Die Zürcher Rämistrasse ist Sinnbild des bisherigen Politikversagens. Eine separate Velospur gibt es an dieser engen Stelle nicht, nicht einmal einen eher symbolischen farbigen Ministreifen wie an der Langstrasse. Der FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger wollte hier einst als Tiefbau-Verantwortlicher für die Fussgänger einen Höhenweg anlegen, so dass unten Platz entstanden wäre für die Velos. Eine Schnapsidee, meinten manche. Doch immerhin war es eine Vision. Mehr als sechs Jahre sind vergangen, passiert ist: nichts.

Das ist der Unterschied: In der Schweiz hören Velofahrer grosse Versprechen. In Paris fahren sie auf breiten Velostrassen.

Simon Hehli war für mehrere Monate NZZ-Korrespondent in Paris und ist in dieser Zeit Hunderte von Kilometern mit den Velos des städtischen Verleihsystems Vélib gefahren.

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