Donnerstag, November 13

Nur vordergründig richten sich die Unruhen in nordenglischen Städten gegen Asylbewerber und Muslime. Dahinter steht auch das Gefühl, von der Politik nicht ernst genommen zu werden.

Aus Grossbritannien flimmern wieder einmal schockierende Bilder von Gewalt und Chaos über die Bildschirme. In aller Öffentlichkeit ziehen seit Tagen gewalttätige Mobs durch die Strassen englischer Städte, prügelnd, skandierend, plündernd und brandschatzend. Trauriger «Höhepunkt» der Unruhen war am Sonntagabend der Versuch, ein als Asylunterkunft genutztes Hotel in Brand zu stecken – mit Dutzenden verängstigten Asylbewerbern in ihren Zimmern. Die örtlichen Polizeikräfte sind überfordert, die Politik abgesehen von scharfen Drohungen mit Recht und Ordnung hilflos. Doch das wird nicht lange so bleiben.

Es gehört zur Geschichte des Vereinigten Königreichs, dass solche Krawalle immer wieder ausbrechen – zuletzt hatte London 2011 mehr als eine Woche drastischer Unruhen erlebt, in deren Folge Dutzende Gebäude abbrannten und über 3000 Personen zu Haftstrafen verurteilt wurden. Es war wie ein Rausch der Rechtlosigkeit und der Gewalt, der über die Hauptstadt hinwegfegte. Aber die britische Gesellschaft duldet dies nicht. In allen etablierten politischen Parteien herrscht Konsens, dass solche Unruhen mit allen Mitteln des Staates bekämpft und die Täter hart bestraft werden müssen. Das wird auch diesmal der Fall sein.

Der Staat wird mit aller Härte zurückschlagen

Premierminister Keir Starmer hat bereits Überstunden von Staatsanwälten und Richtern angekündigt, um festgenommene Chaoten rasch ins Gefängnis zu stecken. Noch scheinen die Polizeikräfte nicht in der Lage, die vielen Brandherde unter Kontrolle zu bringen, auch weil im Unterschied zu 2011 viele verschiedene Städte betroffen sind. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei genügend Kräfte zusammenhat, um die Krawalle zu ersticken und einen Grossteil der Chaoten und Mitläufer festzunehmen. Dann wird wieder Ruhe herrschen, und die Politik wird rasch zu ihrem Tagesgeschäft zurückkehren.

Warum plötzlich dieser Ausbruch von Gewalt auf britischen Strassen? Vordergründig war der Auslöser die unerklärliche Gewalttat eines 17-jährigen, in Wales geborenen Jugendlichen mit rwandischem Migrationshintergrund. Er hat in einem Jugendzentrum in der nordenglischen Küstenstadt Southport eine Tanzgruppe mit einem Küchenmesser angegriffen und drei Mädchen getötet. Über das Motiv ist nichts bekannt, die Behörden schliessen einen politischen Hintergrund aus. Doch gezielt in den sozialen Netzwerken gestreute Gerüchte stellten den Täter fälschlicherweise als illegalen muslimischen Einwanderer dar – und mobilisierten Proteste aus dem rechtsradikalen Milieu gegen illegale Einwanderung, Muslime, Asylunterkünfte und Moscheen.

Trostlosigkeit, Armut und das Gefühl von Machtlosigkeit

Das ist allerdings nicht die ganze Geschichte. Wer es wissen will, kann es überall lesen: Der jugendliche Täter von Southport hat nichts mit der Welle von illegalen Bootsflüchtlingen zu tun; er ist wahrscheinlich auch kein Muslim. Die Hintergründe dieses Gewaltausbruchs sind viel breiter und haben viel mit Grossbritanniens Gesellschaft und Politik zu tun.

Zu dieser gehört das Entstehen von wirtschaftlich und sozial vernachlässigten Regionen und Vierteln, in denen Trostlosigkeit, Armut und das Gefühl herrschen, von der Politik im fernen Westminster ignoriert zu werden und keine Perspektiven des sozialen Aufstiegs zu haben. Vor diesem Hintergrund brechen immer wieder Unruhen aus, in denen sich Personen selbst ermächtigen, in einem Rausch der Rechtlosigkeit die Dinge in die eigene Hand nehmen – in vielen Fällen auch ganz profan dadurch, dass sie im Schutz der Krawalle Geschäfte aufbrechen und Konsumgüter plündern. Politische Forderungen geraten dabei in den Hintergrund – und werden auch nichts bewirken, wenn der Rausch einmal vorbei ist und die harte Realität der Strafen einsetzt.

2011 waren der Auslöser Proteste gegen Polizeigewalt gegenüber Schwarzen, nachdem ein junger schwarzer Kleinkrimineller im ärmlichen Londoner Viertel Tottenham bei einer Polizeikontrolle erschossen worden war. Eine kleine Gruppe von Freunden und Verwandten beklagte anfänglich, dass ihre Anliegen von Polizei und Behörden ignoriert wurden. Nun ist es der Protest gegen muslimische Einwanderer, der die Massen anscheinend mobilisiert. Dafür gibt es zwar keinen wirklichen Auslöser, aber das Problem liegt in der Luft und lässt sich jederzeit zum Aufruf zu Protesten nutzen.

Masseneinwanderung und gebrochene Versprechen

Grossbritannien ist seit drei Jahrzehnten ein riesiger Magnet für Masseneinwanderung. Diese erfolgt nicht, wie von den Protestierenden suggeriert, primär durch unkontrolliert einreisende Asylsuchende. Deren Anteil an der Nettoeinwanderung beträgt nicht einmal einen Zehntel. Die Masseneinwanderung ist vielmehr offizielle Politik aller seit den neunziger Jahren herrschenden Regierungen, weil sie dem Staat und wichtigen Interessengruppen wirtschaftliche Vorteile bringt.

Wenn nun in englischen Städten wütende Mobs randalieren und ausländer- und islamkritische Parolen skandieren, drücken sie das gleiche Gefühl aus wie schwarze Einwohner von Tottenham vor dreizehn Jahren: Sie sind machtlos. Ihre Anliegen werden von den Behörden und Politikern ignoriert. Und in beiden Fällen hat dieses Gefühl eine reale Grundlage.

Als die Tories 2011 an die Macht kamen, hatten sie versprochen, die unter den vorhergehenden Labour-Regierungen stark gestiegene Einwanderung auf wenige Zehntausend zu reduzieren. Passiert ist das Gegenteil, sie stieg weiter auf eine Grössenordnung von jährlich rund 300 000. Als 2016 über den Brexit abgestimmt wurde, hatten die Tories wieder eine drastische Reduktion der Einwanderung versprochen, und wieder geschah das Gegenteil: Sie legte zuletzt auf über 600 000 pro Jahr zu. Personen, die mit der Masseneinwanderung nicht einverstanden sind und unter ihren Folgen leiden, fühlen sich von der Politik betrogen und machtlos. Auf diesem Boden gedeihen Frustration, Protest und am Ende Gewalt. Diese ist durch nichts zu rechtfertigen, aber sie ist eine regelmässige Erscheinung der britischen Politik.

Wie immer ist die Antwort des Staates und der Gesellschaft der machtvolle Einsatz von Polizei und Justiz, die das Gewaltmonopol des Staates zurückerobern. Das ist richtig und notwendig, niemand möchte ein Gewaltregime von Mobs auf den Strassen dulden. Doch es ist nicht schwer vorauszusagen, dass auch in diesem Fall die politischen und gesellschaftlichen Ursachen der Krawalle rasch vergessen werden und sich in der Politik wenig ändern wird. Profitieren dürfte die Reform-Partei des Brexit-Pioniers Nigel Farage, welche sich klar gegen die Einwanderung positioniert und sich zum Ziel gesetzt hat, die Tories als führende konservative Kraft abzulösen.

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