Samstag, September 28

Wenn Firmen ihre lokale Produktionsstätte schliessen, vergessen auch freisinnige Politiker ihre Grundsätze aus der Sonntagsschule. Eine Episode von dieser Woche aus dem Ständerat zur Kontroverse über die Industriepolitik lässt tief blicken.

In der Sonntagsschule predigt man hehre Grundsätze, doch an den Werktagen gibt man sich «flexibel». Das ist ein gängiges Phänomen im Leben und damit auch in der Politik. So muss man sich nicht wundern, wenn angeblich umweltbewusste Politiker plötzlich ihre Liebe für energieintensive Stahlwerke entdecken und angeblich liberale Geister plötzlich Industriesubventionen fordern.

Die Schweizer Stahlindustrie hat in den letzten Jahren gelitten. Dies etwa wegen stark gestiegener Energiepreise, wettbewerbsverzerrender Subventionen im Ausland und Importbeschränkungen in der EU. Die Probleme des Stahlwerks Gerlafingen inspirierten Solothurner Politiker zu Vorstössen im Bundesparlament für staatliche Hilfsmassnahmen. Eine Motion der Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth fordert Notmassnahmen zur Rettung des Stahlwerks Gerlafingen – «gegebenenfalls mit Notrecht».

Laut Roth ist Stahl Gerlafingen «für die Schweiz systemrelevant». Bei einer Schliessung gingen über 500 Arbeitsplätze verloren, und die Schweiz verlöre ihr «einziges Werk, welches die entsprechenden metallischen Kreisläufe schliesst, Baustahl herstellt und die Rohstoffe im Inland sichert». Mitunterzeichner der Motion ist der andere Solothurner im Ständerat, der Mitte-Vertreter Pirmin Bischof. Der Vorstoss war für diese Woche im Ständerat traktandiert.

Sorgen auch in Luzern

Noch ein weiterer Vorstoss zum gleichen Thema war diese Woche auf der Traktandenliste: eine Motion des Luzerner FDP-Ständerats Damian Müller, die ebenfalls Hilfe für die Stahlindustrie verlangt – «um den Produktionsstandort Schweiz zu sichern und die Kreislaufwirtschaft zu erhalten». Der Kanton Luzern ist die Heimat des anderen Stahlwerks in der Schweiz (Steeltec in Emmenbrücke).

Der Text von Müllers Motion nennt drei denkbare Hilfsformen: Unterstützung für Infrastrukturinvestitionen, Förderung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu Dekarbonisierung und Effizienzsteigerung sowie «kurzfristige Unterstützungsmassnahmen, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen». Der Bundesrat hatte in seiner Antwort daran erinnert, dass ab 2025 kraft des Klimagesetzes und des CO2-Gesetzes neue Subventionstöpfe im Namen der Klimapolitik verfügbar seien. Davon könne auch die Stahlindustrie profitieren. Zudem seien die energieintensiven Industrien in der Schweiz in einer günstigen Ausgangsposition, da sie pro Franken Wertschöpfung deutlich weniger Energie benötigten als europäische Konkurrenten.

Was müsste der Bundesrat zusätzlich tun? Die Antwort von Damian Müller: «Der Bundesrat müsste vorausdenken und Lösungen für das Szenario des schlimmstmöglichen Falles – nämlich Werkschliessungen – aufzeigen, da wir uns in der Transformationsphase der Dekarbonisierung befinden.»

Unbehagen im Waadtland

Der Begriff «Systemrelevanz» war bisher auf Grossbanken und Stromkonzerne oder deren Kraftwerke beschränkt. Der Begriff meinte, dass ein Ausfall aufgrund einer enormen Breitenwirkung extrem hohe volkswirtschaftliche Kosten verursachen würde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft hatte in einem Papier vom Mai die Systemrelevanz der Schweizer Stahlwerke verneint, da man bei einem Ausfall auf andere Lieferanten ausweichen könne; im Stahlsektor gebe es zudem globale Überkapazitäten. Das Papier verwies auch auf den lebhaften internationalen Handel der Schweiz in beide Richtungen. So hat die Schweiz 2023 etwa 350 000 Tonnen Stahlschrott importiert und rund 800 000 Tonnen exportiert.

Der Ständerat hat diese Woche die erwähnten Motionen zur Prüfung in seine zuständige Kommission geschickt. Doch eine Intervention des Waadtländer FDP-Ständerats Pascal Broulis liess aufhorchen. Die im Frühjahr verkündete Schliessung der letzten Schweizer Glasfabrik durch Vetropack im Kanton Waadt hatte die Lokalpolitiker aufgeschreckt und im Bundesparlament eine weitere Motion ausgelöst. Diese fordert eine «Industriestrategie» (lies: Subventionen). Natürlich mit besonderer Berücksichtigung des Glassektors.

Freches aus der Universität

Broulis regte sich diese Woche im Ständerat über einen Handelsökonomen der Universität St. Gallen auf. Der Ökonom hatte die Frechheit, öffentlich Folgendes zu sagen: Die Auswirkungen der Schliessung von Vetropack aus Sicht der Gesamtschweiz seien gering, und wenn das Ausland seine Industrie subventioniere, könnten die Schweizer von günstigeren Preisen profitieren. Broulis fand diese Äusserung «unglaublich». Die Botschaft des freisinnigen Politikers frei übersetzt: Der besagte Ökonom hat keine Ahnung vom Leben, inländische Industrieproduktion ist wichtig, und jeder Abbau ist ein Verlust.

Das Bauchgefühl mancher Politiker in Handelsfragen geht etwa so: Exporte sind gut, Importe sind schlecht und je mehr inländische Produktion, desto besser. Viele Handelsökonomen leben auf einem anderen Planeten. Aus ökonomischer Sicht sind Exporte kein Selbstzweck, sondern das Mittel zur Finanzierung von Importen zwecks Konsum und Weiterverarbeitung. Die Lehre der Handelsökonomie erinnert zunächst an die enormen Wohlstandsgewinne, die dank dem Handel entstehen. Man stelle sich vor, jeder Haushalt müsste alle benutzten Güter selber produzieren. Die hohen Wohlstandsgewinne entstehen vor allem kraft Spezialisierung und Massenproduktion. Das Gleiche gilt auch für den internationalen Handel. Die Schweiz wäre ohne diesen weit ärmer.

Ökonomisch kaum strittig

Doch wie schlimm ist es, wenn andere Staaten gewisse Sektoren subventionieren und so den Wettbewerb verfälschen – soll die Schweiz dann im Subventionswettlauf mitrennen? Der von Broulis kritisierte St. Galler Ökonom hat sich zwar politisch inkorrekt geäussert, doch er ist eben kein Politiker. Aus ökonomischer Sicht erscheinen die Äusserungen wenig strittig: Ausländische Industriesubventionen können der Schweiz in Form günstigerer Importe zugutekommen. Ob aus Schweizer Sicht die Vor- oder Nachteile ausländischer Subventionsprogramme überwiegen, ist oft nicht auf den ersten Blick klar.

Auch aus ökonomischer Sicht gibt es mindestens theoretisch valable Argumente für branchenspezifische Staatskrücken. Zum Beispiel die Überbrückung von Koordinations- und Informationsproblemen im Markt durch einen staatlichen Anstoss für junge Branchen, bis ein tragfähiges Ökosystem entstanden ist. Doch ob in der Praxis der Staat die Subventionen in die volkswirtschaftlich «besten» Sektoren leiten und diese im Voraus überhaupt erkennen kann, ist zweifelhaft. Die internationale Forschungsliteratur zu den praktischen Erfahrungen mit staatlicher Industriepolitik liefert kein einheitliches Bild. Klar ist für eine relativ kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz, dass Autarkie immer eine Illusion oder sündhaft teuer bleiben wird und ein Mitrennen im Subventionswettlauf der Grossen meist ohnehin wenig erfolgversprechend ist. Und wenn alle Staaten die gleichen Branchen subventionieren, sind Überkapazitäten programmiert.

Der Bundesrat bleibt generell skeptisch gegenüber branchenspezifischen Subventionen, wie er im Mai in einem Bericht zum globalen Subventionswettlauf betont hatte. Zwei Kernbegründungen: Die ausländischen Erfahrungen seien wenig berauschend, und bei der Verteilung staatlicher Gelder sei der politische Einfluss oft wichtiger als die volkswirtschaftliche Effizienz. Auch die Schweiz liefert Anschauungsbeispiele – mit ihren Staatshilfen für Landwirtschaft und Tourismussektor. Doch im internationalen Vergleich hält sich die Schweiz jenseits der zwei genannten Sektoren eher zurück. Der Waadtländer Broulis könnte über die Grenze schauen und sich fragen, ob Frankreich mit seiner jahrzehntelangen Industriepolitik bessere Resultate erzielt hat als die Schweiz mit ihrer Zurückhaltung.

Kecker Gewerbeverband

Der Branchenverband Swissmem, der die Maschinen- und Metallindustrie vertritt, spricht sich gegen spezifische Subventionen für den Stahlsektor aus. Sogar der Gewerbeverband lehnte in der jüngsten Ausgabe seiner Verbandszeitung im Kontext der Stahldiskussionen sektorspezifische Subventionen ab. Das Argument «Die anderen subventionieren, also sollten wir es auch tun» überzeugt den Gewerbeverband nicht: «Sollen doch die anderen Länder ihre Industrien subventionieren – so können wir günstiger importieren.» Das sind eher neue Töne für den Gewerbeverband. Personelle Wechsel mögen eine Erklärung dafür sein.

Der Bundesrat stellte im Mai aufgrund einer bestellten externen Studie zu jüngeren Subventionsprogrammen der EU und der USA fest, dass sich Schaden und Nutzen dieser Programme für die Schweizer Wirtschaft etwa aufheben. Doch der Schaden mag in Form von (möglichen) Produktionsverlagerungen eher kurzfristig sichtbar und konkret sein. Der Nutzen des Verzichts auf ein Schweizer Mitrennen im Subventionswettlauf ist derweil diffus und breit verteilt und damit wenig sichtbar. Politiker interessiert vor allem das kurzfristig Sichtbare – und sie wollen dabei gesehen werden, wie sie etwas tun, um Schäden zu vermeiden. Ökonomen können es sich am Schreibtisch eher leisten, politisch inkorrekt zu sein.

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