Freitag, Oktober 18

Am Sonntag erhält Anne Applebaum den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Im neuen Buch warnt die amerikanische Publizistin den Westen vor den Gegnern der Demokratie.

Ende Mai 2021 war ein Flugzeug der Ryanair auf dem Weg von Athen nach Vilnius. Als es sich im Luftraum Weissrusslands befand, wurden die Piloten von der Luftverkehrskontrolle aufgefordert, den Kurs zu ändern und in Minsk zu landen. An Bord befinde sich eine Bombe. Ein Kampfjet geleitete die Maschine zum Flughafen der weissrussischen Hauptstadt.

Eine Bombe gab es nicht. Die Geschichte war erfunden. Aber sobald das Flugzeug in Minsk gelandet war, wurden zwei Passagiere verhaftet: der weissrussische Journalist Roman Protassewitsch, der einen regierungskritischen Blog betrieb, und seine Freundin Sofia Sapega. Sie lebten im Exil, der weissrussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte Protassewitsch zum Staatsfeind erklärt, und er war offensichtlich zu allem bereit, um ihn zu verhaften.

Auch zu einer Flugzeugentführung. Der Befehl, das Flugzeug umzuleiten, war von höchster Stelle gekommen. Im Westen kam es zu Kritik, die EU und die OSZE protestierten. Die staatliche weissrussische Fluggesellschaft wurde aus dem europäischen Luftraum ausgeschlossen. Mehr geschah nicht. Kein Gericht, keine internationale Institution konnte den Diktator zur Verantwortung ziehen. Roman Protassewitsch wurde verhört und gefoltert. Einen Tag nach der Verhaftung legte er ein erzwungenes Geständnis ab. Dann wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt und schliesslich begnadigt.

Ein Dienst ist den anderen wert

Anne Applebaum erzählt die Geschichte in ihrem neuen Buch «Die Achse der Autokraten». Als Beispiel dafür, dass sich Autokraten weder um Recht und Gesetz noch um internationale Vereinbarungen kümmern, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen. Und dass sie dabei kaum etwas befürchten müssen.

Den Bruch mit Europa hatte Lukaschenko bei seinem Schurkenstück einkalkuliert. Aber, und darauf läuft Applebaums Erwähnung des Falls hinaus: Er konnte ihm egal sein, solange er sich der Unterstützung der autokratischen Welt sicher war. Auch ohne Europa ist Weissrussland nicht isoliert. Chinesische Firmen investieren im grossen Stil, mit Iran werden gute Beziehungen gepflegt, und die Vertretung Kubas hat vor den Vereinten Nationen ihre Solidarität mit Lukaschenko bekundet.

Ein Dienst ist den anderen wert. Applebaum beschreibt in ihrem Buch weniger eine Achse als ein dynamisches Netzwerk von Staaten mit wechselnden Allianzen: von Russland und China über Iran, Nordkorea oder Venezuela bis hin zu Aserbaidschan, Mali oder Simbabwe. Alles Diktaturen, die ihre Kritiker überwachen und im In- und Ausland brutal verfolgen.

Ein Geflecht von Beziehungen

Was sie verbindet, sagt die amerikanische Osteuropa-Historikerin und Publizistin, ist zum einen die repressive Regierungsform. Zum anderen die Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen. Wirtschaftlich, mit technologischer Hilfe und mit brutaler Gewalt. Wenn es darum geht, einen befreundeten Autokraten an der Macht zu halten, sind sie zu allem bereit. Auch wenn sie weltanschaulich nichts miteinander zu tun haben. Putin unterstützt rechtsradikale Bewegungen in Europa genauso wie afrikanische Despoten.

Daraus ergibt sich ein weltumspannendes Geflecht von Beziehungen: ein Sicherheitsnetz von und für skrupellose Autokraten. Iran liefert Drohnen für den Krieg in der Ukraine, Nordkorea verkauft Raketen und Munition, afrikanische Staaten stellen sich in den Vereinten Nationen hinter Russland, die Türkei, Kirgistan und Kasachstan helfen Moskau, die Sanktionen zu umgehen, und liefern Güter, und Indien kauft Gas bei den Russen.

Applebaum ist nicht die Erste, die auf diese Verbindungen aufmerksam macht. Aber sie fügt die Grenzen und Gesetze überschreitende Zusammenarbeit der internationalen Schurkentruppe zu einem Gesamtbild, das auf umfangreicher Recherche und persönlicher Erfahrung beruht. Die Amerikanerin, die in den USA und in Polen lebt, für das Magazin «The Atlantic» schreibt und mit dem polnischen Aussenminister Radosław Sikorski verheiratet ist, weiss, wie autoritäre Staaten funktionieren, und kennt die meisten Regime und Schauplätze, die sie beschreibt, aus erster Hand.

Der naive Westen

Dass sich Autokraten immer mehr erlauben und sich nicht einmal mehr die Mühe machen, ihre Aktionen zu vertuschen, schade nicht nur den betreffenden Staaten und ihren Bewohnern, sagt Applebaum. Es untergrabe das Sicherheitsgefühl auch in demokratischen Staaten. Schliesslich werden auch sie zum Schauplatz von Vergeltungsaktionen, Morden und Entführungen. Immer wieder verbindet Applebaum die Darstellung mit Appellen an den Westen.

Dass sich das Netzwerk der Schurken etablieren konnte, sagt sie, dazu habe der Westen seinen Teil beigetragen. Zum einen mit seiner naiven Haltung gegenüber Russland, zum anderen, indem er überzeugt war, mit der Globalisierung werde sich auch Demokratie und Freiheit über die ganze Welt verbreiten. Beides habe sich als falsch erwiesen. Dafür habe sich die Idee der Autokratie von Ost nach West verbreitet.

Am Sonntag nimmt Anne Applebaum in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegen. Obwohl sie zurzeit nicht für Frieden eintritt, sondern dafür, einen Krieg weiterzuführen. Sie gehört zu den entschiedensten Verfechterinnen weiterer Waffenlieferungen in die Ukraine. Natürlich sei sie für den Frieden, sagte sie kürzlich in einem Interview. Aber nicht um jeden Preis. Sondern unter der Bedingung, dass die Menschen in der Ukraine frei leben können. So, wie sie es als ukrainische Nation wollten. Ohne Angst vor einer weiteren russischen Invasion.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Siedler-Verlag, München 2024. 208 S., Fr. 39.90.

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