Donnerstag, Oktober 3

Sehr oft werden Aktien von Schweizer Unternehmen gegenüber den Werten von europäischen Konkurrenten mit einer Prämie gehandelt. The Market geht den Fragen nach, inwieweit diese Aufschläge gerechtfertigt sind und ob Ausnahmen von der Regel auf Kurspotenzial hinweisen.

Im internationalen Vergleich geniessen in den USA kotierte Aktien zurzeit besonders hohe Bewertungen. Peter Frech, Manager des Quantex Global Value Fund, sieht als einen Haupttreiber dahinter den Boom bei den grossen US-Technologiewerten, der viel Geld anziehe. Weil darüber hinaus immer mehr Investoren passiv investieren und zu dem Zweck dann Exchange Traded Funds (ETF) auf breit gestreute amerikanische Indizes erwerben, würden eben auch die Bewertungen von US-Unternehmen aus anderen Sektoren als dem Tech-Sektor nach oben getrieben.

Sonderfall Schweiz

Auffällig ist aber auch: Viele Schweizer Aktien geniessen an der Börse einen Bonus. Vor allem bei kleineren und mittleren Werten ist gemäss Frech deutlich zu sehen, dass sie mit einer Prämie zur ausländischen Konkurrenz, speziell zur europäischen, gehandelt werden. Als einen Grund dafür nennt der Fondsmanager den Umstand, dass in der Schweiz viel Geld zum Investieren verfügbar sei und Anleger allgemein einen Home Bias hätten, also überproportional stark in lokale Werte investieren.

Wie Paul Schibli, Senior Portfolio Manager bei Swiss Rock Asset Management, bestätigt, weisen, mit Ausnahme der Pharmawerte Novartis und Roche, die meisten Schweizer Standardwerte aus dem Leitindex SMI eine Prämie gegenüber der europäischen Konkurrenz auf.

Hervorstechen würden diesbezüglich etwa der Aromen- und Riechstoffhersteller Givaudan, dessen Aktien mit einer Prämie von 13% zu denen der deutschen Symrise handeln, Swisscom (Aufschlag von mehr als 30% zur Deutschen Telekom), Nestlé (13% zu Danone) sowie Zurich Insurance (über 20% zu Allianz). Schibli verwendet dabei als Massstab für die Bewertungsunterschiede das vorausschauende Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) basierend auf den geschätzten Gewinnen für 2024.

Ein paar gute Gründe

Eine Frage lautet, inwieweit diese Bewertungsunterschiede fundamental zu rechtfertigen sind. Schibli hält grundsätzlich fest, dass die Bewertung mit Blick auf zukünftige Anlagerenditen «ein schlechter Ratgeber» sei. Ungeachtet dessen gebe es ein paar Gründe, welche die für Schweizer Aktien zu zahlenden Prämien mindestens teilweise rechtfertigen.

Als erstes führt er die tiefen Zinsen in der Schweiz an: Je tiefer der Diskontierungssatz ausfällt, umso höher ist der Gegenwartswert der geschätzten künftigen Cashflows, was sich auf die Bewertung eines Unternehmens positiv auswirkt. Dazu ist zu berücksichtigen, dass der Schweizerfranken stark und die Nachfrage danach gross ist: Die Frankenstärke schützt vor Währungsverlusten resp. verhilft ausländischen Investoren zu Währungsgewinnen und reduziert das Anlagerisiko.

Qualitätsprämie

Drittens werden viele Schweizer Konzerne qualitativ zu den besten in ihren Sektoren gezählt: Sie sind geografisch breit diversifiziert und halten führende Marktpositionen. Zudem spricht für sie, dass sie in der Regel solide kapitalisiert sind und dadurch in einer Buchwertbetrachtung, gemessen am Kurs-Buchwert-Verhältnis, vorteilhaft abschneiden. Ein letzter Grund, der für eine gewisse Prämie von Schweizer Aktien spricht, ist die relativ hohe Dividendenrendite: Für die Gesellschaften des Swiss Performance Index (SPI) beträgt sie zurzeit im Schnitt 3,1%.

Nicht alles ist in dieser Betrachtungsweise aber eindeutig. In Bezug auf die Währungsfrage bemerkt Frech von Quantex, dass unter den grösseren Schweizer Unternehmen nicht viele zu finden seien, die ihre Erträge zu wesentlichen Teilen im Heimatland in Schweizerfranken erwirtschaften. Deshalb sei es eine Illusion zu glauben, bei Investitionen in Schweizer Aktien sei man vor Währungsrisiken gefeit.

Nestlé und die Bewertungslücke

Eine andere Frage ist, inwieweit sich Unternehmen direkt vergleichen lassen. Ein Fondsmanager gibt zu bedenken, dass kein Unternehmen «der Klon» eines anderen sei: So stehe das Portfolio von Nestlé dem von Mitstreitern nicht eins zu eins gegenüber; der Schweizer Nahrungsmittelkonzern hat speziell auch von der Wertvermehrung seiner Beteiligung am Kosmetikhersteller L’Oréal profitiert.

Fondsmanager Frech hält die Aktien von Nestlé ungeachtet dessen für zu teuer, auch in Relation etwa zum Konsumgüterhersteller Unilever. In Bezug auf das Wachstum seien diese Konzerne vergleichbar, beide würden seit mehreren Jahren im Grunde nicht mehr gross wachsen. 2023 stieg der Umsatz bei Nestlé und Unilever organisch zwar 7,2 resp. 7%, aber vor allem getrieben durch inflationsbedingte Preiserhöhungen: Das reale interne Wachstum lag bei beiden um die 0%-Schwelle.

Frech stellt für einen Bewertungsvergleich auch auf die Free-Cashflow-Renditen ab, definiert als das Verhältnis des freien Cashflows zur Börsenkapitalisierung: Danach errechnet sich für Unilever aktuell eine Rendite von 6,4% und für Nestlé von 4,3%. Das bedeutet: Gemessen an diesem Massstab wird Nestlé an der Börse, auch wenn sich die Bewertungslücke zuletzt etwas verringert hat, immer noch mit einem Aufschlag von rund der Hälfte zu Unilever gehandelt. Auch gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis oder am Unternehmenswert zum Ebitda (EV/Ebitda) geniesst Nestlé eine klare Prämie.

Vorteil Givaudan

Eine deutliche Prämie weist auch Givaudan aus Genf zum deutschen Konkurrenten Symrise auf, wofür sich Gründe finden lassen. Givaudan hat als weltweit zweitgrösster Aromen- und Riechstoffhersteller eine bessere Marktposition als Symrise, die Nummer vier. In Bezug auf die Margen haben die Genfer ebenfalls die Nase vorn: Sie erzielten letztes Jahr ein Betriebsergebnis auf Stufe Ebitda von 21,3% des Umsatzes und einen freien Cashflow von 13,3%. Die Margen von Symrise lagen mit 19,1 resp. 11,7% tiefer.

Beide haben seit mehr als zehn Jahren die Dividende immer erhöht: Aber trotz der deutlich höheren Börsenbewertung kann Givaudan mit aktuell 1,7% eine höhere Dividendenrendite bieten als Symrise mit 1,1%.

Europas Zementsektor vor Auferstehung?

Dem Baustoffkonzern Holcim wird eine sehr deutliche Bewertungsprämie gegenüber seinem deutschen Konkurrenten Heidelberg Materials zugestanden. Sie lässt sich mindestens zu einem Teil begründen: 2021 stieg Holcim in das Geschäft mit Dachsystemen und Isolierungen ein, um die Abhängigkeit von der umweltbelastenden Zementproduktion zu reduzieren. Ein Fondsmanager lobt das «enorme Momentum» im Umbau des Konzerns hin zu weniger kapitalintensivem Geschäft, womit die Rendite auf das investierte Kapital zuletzt in den zweistelligen Bereich gestiegen ist. Dieser Prozess dürfte weiterlaufen.

Einen Kursschub verschaffte den Holcim-Aktien die Ankündigung im Januar, das nordamerikanische Geschäft abzuspalten und, im Verlauf von 2025, in den USA separat zu kotieren. An der US-Börse geniessen ähnlich gelagerte Unternehmen nämlich deutlich höhere Bewertungen. Die Helvetische Bank hat kürzlich bemerkt, vielen Investoren sei dabei wohl auch bewusst geworden, «wie extrem tief» der Zementsektor in Europa immer noch bewertet sei. Die Analysten haben ihrer Erwartung Ausdruck gegeben, dass eine positive und anhaltende Neubewertung dieses Sektors auf dem Weg sei.

Sonovas schwache Phase

Im Markt für Hörgeräte hält Sonova aus Stäfa die weltweit führende Marktposition. Demant ist mit einigem Abstand die Nummer drei. Doch die Dänen holen seit einiger Zeit auf und gewinnen Marktanteile dazu. 2023 haben sich die Unterschiede in den Wachstumstempi akzentuiert: Der Bereich Hearing Healthcare von Demant wuchs organisch um 14%.

Sonova schrumpfte dagegen in der ersten Hälfte ihres Geschäftsjahres 2023/24, bis Ende September, organisch um 0,4%. Auch unter Ausklammerung der Nichtverlängerung eines Grossauftrags hätte ein unterdurchschnittliches Plus von 3% resultiert. Sonova dürfte insbesondere für eine zu aggressive Preispolitik gebüsst haben. Unter den gegebenen Umständen würde es Demant durchaus verdienen, von der Börse höher bewertet zu werden als Sonova. Das ist aber zurzeit nicht der Fall.

Zurich teuer, Abschlag für Swiss Re

Im Versicherungsbereich sticht Zurich Insurance mit einer überdurchschnittlich hohen Bewertung hervor. Morgan Stanley hält den Aufschlag der Zurich-Aktien aufgrund eines gedämpften Gewinnwachstums gegenüber der Konkurrenz nicht für gerechtfertigt und stufte sie Anfang Jahr auf «Untergewichten» herab. Die französische Axa und die deutsche Allianz sind dagegen auf «Übergewichten» gesetzt.

Ein anderes Bild präsentiert sich bei den Rückversicherern. Die Aktien von Swiss Re sind verglichen zu denen der deutschen Konkurrenz billiger zu haben – was seinen guten Grund hat. Swiss Re hinkt punkto Wachstum und Kursentwicklung hinterher und hat den Anschluss an die globale Nummer eins, die Münchener Rück, verloren und gegenüber der Nummer drei, Hannover Rück, an Vorsprung eingebüsst.

Jüngst hat der Schweizer Konzern überraschend einen CEO-Wechsel angekündigt. Christian Mumenthaler tritt zurück und wird auf Anfang Juli durch einen internen Nachfolger ersetzt: Andreas Berger wird die Aufgabe zufallen, das Geschäft dynamischer und rentabler zu gestalten. Damit wird die Erwartung verknüpft sein, dass die Aktien von Swiss Re ihren Bewertungsabschlag sukzessive aufholen.

Pharma: Himmelsstürmer und Lahme

Unter den grossen Pharmaunternehmen fallen sofort die exorbitanten Bewertungen der dänischen Novo Nordisk und, noch mehr, der amerikanischen Eli Lilly auf. Sie profitieren vom Hype um die sogenannten Abnehmspritzen: Die beiden Konzerne dominieren zusammen den Markt für eine neuartige Klasse von Diabetes- und Fettleibigkeitsmedikamenten, und das dürfte nach Meinungen von Analysten bis mindestens zum Ende dieses Jahrzehnts noch so bleiben.

Novo Nordisk und Eli Lilly erzielten mit den neuen Medikamenten im letzten Jahr bereits 29 Mrd. $ Umsatz, bis 2030 soll er gemäss Analystenschätzungen auf annähernd das Fünffache steigen. Solche Wachstumsfantasien treiben die Kurse: Seit Anfang 2023 legten die Aktien von Novo Nordisk rund 80% zu, und die von Eli Lilly haben sich mehr als verdoppelt.

Pharmawerte

Den beiden Basler Pharmakonzernen fehlt ein ähnlicher Wachstumstreiber, sodass der Kurs von Novartis im gleichen Zeitraum nur 4% stieg. Die Titel von Roche, die in einer Selbstfindungsphase zu stecken scheint, verloren gar mehr als 20%.

Gemessen am vorausschauenden Kurs-Gewinn-Verhältnis sind die beiden Basler Konzerne denn auch nur etwa einen Drittel so hoch bewertet wie Novo Nordisk und einen Fünftel so hoch wie Eli Lilly. Fondsmanager Frech von Quantex hält aber fest, dass Novartis und Roche gegenüber ähnlich wachstumsschwachen Pharmamultis von der Bewertung her «in der gleichen Liga» zu finden seien. In der Tat sind ihre Titel gar eher etwas teurer als diejenigen der britischen GSK, vormals GlaxoSmithKline, und der amerikanischen Pfizer.

Die Übersicht zeigt – gerade im Versicherungs- und im Pharmabereich –, dass jede Branche und jedes Einzelunternehmen separat zu prüfen ist: Wenn ein Titel auf den ersten Blick unterbewertet erscheint, kann ein passender Vergleich das relativieren. Umgekehrt können hohe Bewertungen auch darauf zurückzuführen sein, dass die Anleger einem Herdentrieb folgen – aber Trends und Moden sind in der Regel vergänglich: Dazu können auch länderbasierte Präferenzen gehören.

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