In der Anrede heisst es neu nur noch «Guten Abend». Man kann darin eine überfällige Anpassung sehen oder die Anbiederung an den Zeitgeist.
Auch mit Traditionen ist einmal Schluss, selbst wenn sie Jahrzehnte überdauern. Seit dem 21. November wird man von der ARD-«Tagesschau» nicht mehr mit «Guten Abend, meine Damen und Herren» begrüsst. Sondern täglich um 20 Uhr heisst es jetzt: «Guten Abend, ich begrüsse Sie zur ‹Tagesschau›.»
Begründet wird der Entscheid so: Die Anrede «meine Damen und Herren» werde als altmodisch empfunden. Dies habe eine Zuschauerbefragung ergeben: Die Leute wünschten sich eine «authentische und zugängliche Ansprache». Deshalb wolle sich die «Tagesschau» mehr am gesprochenen Wort statt an formeller Schriftsprache orientieren.
So lautet die offizielle Begründung. Der Verzicht auf die binäre Adressierung löst noch ein anderes Problem. Ein schlichtes «Guten Abend» schliesst alle ein, die vor dem Fernseher sitzen. Die neue Norm entspricht dem Ideal der gendergerechten, also inklusiven Sprache. Wer sich weder als Frau noch als Mann fühlt, ist mitgemeint. Wie viele das sind, die sich für die «Tagesschau» zuschalten, sei dahingestellt.
Schon diesen Frühling gab die ARD bekannt, dass ihre Nachrichtensprecher künftig alltagsnäher reden würden. Es solle nicht mehr tönen, als würden sie «von der Kanzel predigen», kündigte der «Tagesschau»-Chef Marcus Bornheim in einem Interview an. Weiter sagte er: «Wir wollen die Nachrichten deshalb so texten, wie man sie seinen Nachbarn am Gartenzaun oder der Familie beim Abendessen erzählen würde.»
Ein «ideologischer Schwachsinn»
Es ist wohl nicht zu befürchten, dass es bei der «Tagesschau» plötzlich «Hallo» oder «Hi» heisst, wie das unter Nachbarn üblich ist. Oder die Sprecher «Was geht?» zur Begrüssung sagen, um die News-deprivierten Jungen zu erreichen. Dass es aber weh tun kann, mit Traditionen zu brechen, egal, wie aus der Zeit gefallen diese sind, zeigen die Reaktionen auf den Beschluss, «meine Damen und Herren» abzuschaffen.
Nachdem der «Tagesschau»-Sprecher Constantin Schreiber am Wochenende zum ersten Mal auf die Anrede verzichtet hatte, fragte er das Publikum auf X, wie sie das fänden. Einen «ideologischen Schwachsinn», erhielt er zur Antwort. Dies sei ein «weiterer kleiner Schritt in Richtung kulturelle Barbarei», schrieb einer. Ein anderer fragte: «Wokeness ist am Abklingen – und die Tagesschau dreht noch einmal richtig auf? Warum?»
Dass viele Leute sogenannt woke Anliegen weiterhin begrüssen, davon zeugt die andere Hälfte der Kommentare. Man macht sich lustig über «Hubert und Marianne», die «den Untergang des Abendlandes» befürchteten, bedankt sich beim Sender für den überfälligen Schritt.
Der Verzicht auf die direkte Anrede bewegt die Leute. Vielleicht geht es dabei weniger um die Worte an sich als vielmehr um den Tod eines Rituals. Viele Jahre wurden die Zuschauer zuverlässig mit den immergleichen Worten begrüsst. Höflich und distanziert, was viele als wertschätzend empfanden. Die Verkürzung auf ein «Guten Abend» klingt da nahezu salopp, wenn nicht sogar nach erzwungener Nähe.
Niemandem fiel die Neuerung auf
Die Aufregung kam mit Verspätung. Es dauerte mehrere Tage, bis die meisten merkten, dass die «Tagesschau» die kleine Neuerung eingeführt hatte. Erst die «Bild»-Zeitung machte öffentlich, dass da etwas fehlt.
Wer sich an der heimlich eingeführten Änderung empört, tut dies also vor allem, weil er dahinter ein zeitgeistig-anbiederndes Denken vermutet. Dies mag im Fall der ARD zutreffen. Dabei stört man sich nicht einmal so sehr am «Guten Abend».
Denn auf allen deutschsprachigen Sendern hat sich «Guten Abend» durchgesetzt, und es ist nichts dabei. Von ZDF bis RTL, von SRF bis ORF heisst es «Guten Abend» und «Willkommen», manchmal wird sogar «herzlich willkommen» geheissen, manchmal zu einem «schönen Abend» begrüsst. Meine Damen und Herren, so schön die Ehrerbietung war – Sie werden sich an ihr Fehlen gewöhnen.