Sonntag, September 29

«Die Meinungsfreiheit ist in diesem Land verschwunden.» 

«Das Einzige, worauf sich alle Mitglieder des Kongresses einigen können, ist Tiktok zu verbieten? Das wars?»

«Ich bin angewiedert.»

Fast die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung ist auf Tiktok. Noch. Jetzt will die Regierung mit einem neuen Gesetz die App in den USA verbieten. Aber warum?

«Das wird von der kommunistischen Regierung Chinas kontrolliert.»

Na ja, so gefährlich wirkt die App beim Durchscrollen jetzt nicht. Wir haben uns genauer angeschaut, wovor die USA Angst haben. Und ob diese Angst berechtigt ist.

«Hallo zusammen. Ich bin Shou.»

Das ist Shou Chew, der CEO von Tiktok. Hier sehen wir ihn 2023 vor dem amerikanischen Kongress, in einer Anhörung zu Tiktok. Damals wurde er mehrere Stunden zu Tiktok und der Verbindung zur chinesischen Regierung befragt. Die USA sehen Tiktok schon länger als Sicherheitsrisiko.

Tiktok gehört nämlich der Firma Bytedance, die ihren Sitz in Peking hat. «Fakt ist: Bytedance ist der Kommunistischen Partei Chinas verpflichtet.»  China – genauer gesagt die Kommunistische Partei Chinas, die aber den Staat ausmacht – soll also über Tiktok die USA ausspionieren und beeinflussen können. 

Im April 2024, etwa ein Jahr nach Shou Chews Anhörung, hat der Kongress gehandelt und ein neues Gesetz verabschiedet, das Tiktok verbieten soll. Laut diesem Gesetz muss Bytedance sein Tochterunternehmen Tiktok an ein amerikanisches Unternehmen verkaufen. Und das innerhalb von 9 Monaten.

Wenn Bytedance das nicht tut, wird Tiktok in den USA verboten und verschwindet aus allen amerikanischen Märkten. Zu den Spionagevorwürfen nimmt Tiktok nicht Stellung. Aber Shou Chew  an die amerikanische Community: 

«Unsere Gemeinschaft ist voller Menschen, die Akzeptanz und Mitgefühl haben.» Und er erreicht damit Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Hunderttausende Beiträge unter den Hashtags #savetiktok und #keeptiktok zeigen: Viele in den USA teilen Shou Chews Meinung.

Aber wie gefährlich ist Tiktok wirklich?

Das ist Lukas Mäder, er ist Technologie-Redaktor bei der NZZ und beschäftigt sich unter anderem mit Konzernen wie Tiktok.

Lukas Mäder: Grob gesagt, kann man von drei Risiken sprechen. Das erste Risiko ist die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, also dass man mit Inhalten versucht, die Meinungen in einem bestimmten Land bei einem bestimmten Publikum zu beeinflussen.

Tiktoks Algorithmus ist darauf trainiert, herauszufinden, welche Videos uns gefallen. Sobald er das weiss, schlägt er uns ähnliche Videos vor. Auf den ersten Blick harmlos. Aber Tiktok geht noch einen Schritt weiter und unterdrückt auch gewisse Inhalte.

Lukas Mäder: Es ist eine Plattform, die auch für politische Inhalte relevant ist. Und es ist gut vorstellbar, dass diese Inhalte gesteuert werden.

Das bestätigt auch ein Bericht zweier Forschungsgruppen aus dem Jahr 2023: Tiktok hat wenig bis keine Beiträge zu Themen, die die chinesische Regierung unterdrücken will.

Zu Ereignissen wie etwa den Protesten in Hongkong oder zur Situation der Uiguren in China gibt es auf Tiktok – im Vergleich zu Instagram – fast keine Beiträge. Aber eben auch bei laufenden Konflikten wie jenem in der Ukraine oder jenem in Gaza werden Inhalte systematisch unterdrückt.

Lukas Mäder: Das muss aber nicht unbedingt ein direkter Befehl vom chinesischen Regime sein. Man kann sich durchaus vorstellen, dass das in vorauseilendem Gehorsam passiert, weil der Mutterkonzern von Tiktok ja eine chinesische Firma ist.

Dazu kommt, dass das chinesische Regime gezielt mit Desinformation arbeitet. China macht das zwar auch auf anderen Plattformen, aber der entscheidende Unterschied ist: Tiktok geht – anders als andere Plattformen – nicht offensiv dagegen vor.

Das ist problematisch, besonders wenn man bedenkt, dass ein Drittel der unter 30-Jährigen in den USA sich hauptsächlich via Tiktok über das Weltgeschehen informiert. Vor allem im Hinblick auf die kommenden US-Wahlen.

Lukas Mäder: Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass die US-Wahlen durch die Inhalte auf Tiktok beeinflusst werden können. Nicht unbedingt gezielt für den einen oder den anderen Kandidaten, aber um die Wahlen als demokratischen Prozess insgesamt zu schwächen. Auch einer der Gründe, warum US-Präsident Biden das Gesetz im April unterzeichnet hat.

Lukas Mäder: Das zweite Sicherheitsrisiko ist, dass man die Tiktok-App auf dem Handy einer bestimmten Person dazu benutzt, diese Person auszuspionieren. 

Tiktok weiss viel über dich. Sehr viel. Zum Beispiel kennt es deinen Standort.

Lukas Mäder: Es wird bei jedem Aufstarten der Tiktok-App der genaue Standort übermittelt. Wenn sie im Hintergrund läuft, also nicht aktiv ist, verbindet sie sich trotzdem einmal in der Stunde mit einem weiteren Keyserver. Bei dieser Verbindung erfährt Bytedance die IP-Adresse des Handys. Und die lässt sich natürlich geolokalisieren. So entsteht ein Bewegungsmuster aller Nutzer.

2022 deckt «Forbes» auf, dass Bytedance Standortdaten von Privatpersonen weitergegeben hat. Anhand der IP-Daten hat das Unternehmen den physischen Standort von «Forbes»-Journalisten überwacht. Bytedance hat den Vorfall bestätigt. Die USA befürchten, dass es nicht nur bei der Spionage gegen Einzelpersonen bleibt.

Lukas Mäder: Das dritte Sicherheitsrisiko ist die Massenüberwachung. Wenn man die Nutzerdaten der Milliarde von Tiktok-Nutzern weltweit nimmt, dann ist das ein ungeheurer Datenschatz von Namen, E-Mail-Adressen, Kontaktdaten und eben auch Standortdaten.

Eine Datenbank, die den chinesischen Geheimdienst interessieren könnte. Denn diese Daten lassen sich mit anderen Datensätzen aus anderen Quellen kombinieren. Dadurch entsteht ein Gesamtbild von jedem Nutzer – ein sogenannter Schattenlebenslauf.

Lukas Mäder: Wenn dann zum Beispiel jemand bei einer chinesischen Botschaft ein Visum beantragt, kann man schauen: Welche Informationen haben wir über diese Person? Hat sie möglicherweise einmal bei einer Sicherheitsbehörde gearbeitet? Muss man davon ausgehen, dass diese Person nach China reist, um etwas auszuspionieren? Oder man kann auch potenzielle Spione anwerben.

Es gibt zwar keine konkreten Beweise dafür, dass das tatsächlich so geschieht, aber es gibt in China ein Gesetz, das misstrauisch macht. Chinas nationales Geheimdienstgesetz verpflichtet alle Organisationen und Bürger dazu, die chinesischen Geheimdienste auf deren Anfrage hin zu unterstützen.

Der Staat sitzt dank sogenannten goldenen Aktien auch in den Aufsichtsräten vieler chinesischer Firmen. Private Firmen in China sind quasi die verlängerten Arme des Staates.

Lukas Mäder: Es wäre sicher ein sehr verlockender Datensatz, den die Geheimdienste gerne nutzen würden. Gleichzeitig muss man sagen, dass für Tiktok selbst auch sehr viel auf dem Spiel steht. Wenn es einigermassen glaubwürdige Hinweise gäbe, dann würde das Vertrauen in diese App rapide sinken.

Und dieses Vertrauen versucht Tiktok um jeden Preis aufrechtzuerhalten. «Wir haben Sicherheitsvorkehrungen getroffen, die kein anderes Konkurrenzunternehmen getroffen hat. Wir haben Milliarden von Dollar investiert, um Ihre Daten zu schützen und unsere Plattform vor Manipulationen von aussen zu schützen.»

Na ja, das stimmt teilweise. Tiktok speichert zwar seit 2022 die Daten seiner amerikanischen Nutzer auf einem Server in den USA. Aber:

Lukas Mäder: Das ist in erster Linie eine PR-Massnahme. Es geht darum, Vertrauen zu schaffen. Ich glaube, es ist illusorisch, anzunehmen, dass man wirklich völlig ausschliessen kann, dass diese Daten deswegen vor dem Zugriff geschützt sind.

Und bei uns in Europa? Das Bewusstsein, dass Tiktok ein Risiko sein kann, ist auch in Europa vorhanden. In einem ersten Schritt müssen Mitarbeitende der EU-Kommission Tiktok auf ihren Diensthandys löschen. Und: Tiktok hat bis vor kurzem noch eine Geldstrafe gedroht. Die EU hatte das Unternehmen aufgefordert, die psychische Gesundheit von Minderjährigen besser zu schützen. Tiktok ist dem nicht nachgekommen.

Laut der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen ist ein Tiktok-Verbot auch in der EU nicht ausgeschlossen.

Die Sicherheitsbedenken gegenüber Tiktok sind also berechtigt. Aber deswegen gleich die ganze App verbieten?

Lukas Mäder: Ich finde es problematisch, weil man damit eigentlich eine Methode anwendet, wie sie autokratische Staaten anwenden. Es wird eine App verboten, obwohl es keine konkreten Hinweise darauf gibt, dass China damit Spionage oder eine Massenüberwachung betreibt.

«Es ist ein trauriger Moment. Aber es muss kein definierender sein.»

Tiktok und der Mutterkonzern Bytedance haben gegen das drohende Verbot eine Klage eingereicht.

Die 170 Millionen Nutzerinnen und Nutzer in den USA können also noch hoffen, dass das Tiktok-Verbot vielleicht doch nicht in Kraft tritt.

Exit mobile version