Tage in Paris, wo die jüdische Bevölkerung unter extremem Druck leben muss.
Im Winter in der französischen Hauptstadt zu sein, heisst, in einem Paralleluniversum zu existieren. Lichtdurchflutete Schaufenster, viele Menschen auf der Strasse. Doch mein Herz ist gebrochen, es ist bei den Ermordeten, den Entführten, den Evakuierten, den Soldaten in den heftigen Kämpfen, in einem Land, dessen Leben zerbrochen ist von Schock, Trauer, Verlust. Zehntausende Tote im Gazastreifen.
Ich kam für ein paar Tage mit El Al. Der Pilot wünschte sich eine baldige Freilassung der Geiseln, aber vom Moment der Landung an öffnete sich dieser andere Ort mit einer anderen Geschichte, einem anderen Schicksal. «Sprich in Paris kein Hebräisch», riet man mir. Aber ich sagte überall, dass ich aus Israel komme. Exponiert, die Ohren offen, nahm ich auf.
Juden haben Angst, eine Kippa zu tragen
An einem Samstagabend halte ich einen Vortrag vor einem vollen Saal. Ein aufgewühltes Publikum hat sich in der Halle der liberalen Gemeinde Adat Shalom versammelt, um zuzuhören und zu erzählen. Intellektuelle, Wissenschafter, Beamte. «Meine schlimmsten Albträume sind Wirklichkeit geworden», sagt ein international bekannter Mathematiker, «ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich die Existenzangst meiner Eltern erleben würde.»
«Die Schrecken des Holocaust verfolgen mich», sagt ein Komponist, Kind von Shoah-Überlebenden. «Ich stehe an vorderster Front, gehe von einem Medium zum anderen und versuche, mich zu wehren», sagt ein bekannter Autor. «In den Klassenzimmern der Oberstufe ist die Spannung enorm», erzählt eine Geschichtslehrerin. «Wir sind Zeugen einer neuen, anderen Ära», sagt ein hochrangiger Jurist.
Seit dem 7. Oktober befindet sich das Leben von Frankreichs jüdischer Gemeinde, der drittgrössten der Welt, in Aufruhr. Juden verzichten auf das Tragen einer Kippa auf der Strasse, nehmen die Mesusot (jüdische Schriftkapsel am Türpfosten, Red.) ins Haus; die Zahl der Menschen, die in die Synagoge kommen, hat sich verdreifacht. Sie leben in enormer Solidarität. Spendensammlungen, Paketsendungen, Kleben von Plakaten mit den Bildern der Geiseln, Gegendemonstrationen angesichts der vielen Demonstrationen für Palästina.
Bewunderung für die «Helden» der Hamas
Frauen, die vor den Büros der Unesco gegen das Schicksal der Frauen protestieren und von der Polizei abgefangen werden, weil diese Zusammenstösse mit Pro-Palästina-Demonstranten befürchtet. Eine riesige Demonstration von hunderttausend Menschen gegen Antisemitismus, mit Juden und Nichtjuden.
Der Brand in Israel und Gaza macht die Konflikte im Herzen der französischen Gesellschaft und die Krise in Europa deutlich. Die islamische Gemeinschaft in Frankreich zählt fünf bis zehn Millionen Bürger. Der Rektor der grössten Moschee in Paris veröffentlichte einen mutigen Artikel in «Le Monde». «Dies ist eine Zeit der Entscheidung», schrieb er, «nicht zwischen Muslimen und Juden, nicht zwischen Israel und Palästina, sondern zwischen der Menschlichkeit und dem Bösen.» Aber er bleibt eine einsame Stimme.
In den Aussenbezirken von Paris, Lyon oder Marseille lebt eine unterprivilegierte muslimische Bevölkerung. Die Polizei hat Angst, diese Gegenden zu betreten. Minderwertigkeitsgefühle und Wut nähren Hoffnungen auf die Übernahme des Westens durch den Islam. Sie brechen in Jubel aus, wenn das schreckliche Massaker und die sadistischen Vergewaltigungen live und prahlerisch in den sozialen Netzwerken gezeigt werden, bewundern das «Heldentum des Hamas-Volkes», die «Freiheitskämpfer», die «Befreier Palästinas».
Vor zwanzig Jahren, mitten in der zweiten Intifada, gab es in Frankreich viele propalästinensische Demonstrationen, die sich mit der Zunahme der Terrorakte intensivierten, und ich selbst erlebte, wie Demonstranten versuchten, mich und israelische Vertreter daran zu hindern, bei kulturellen Veranstaltungen zu sprechen. Doch jetzt haben die Reaktionen einen Siedepunkt erreicht.
«Frankreich befindet sich in einer Realität extremer sozialer Spannungen.» Das sagt mein französischer Verleger, der kein Jude ist. «Der Diskurs ist völlig abgeflacht, es gibt keine Nuancen mehr, kein historisches Verständnis, keine Zwischentöne, nur noch dogmatische Überzeugungen und Slogans.» Die französische Regierung hat sich noch nicht von Israel abgewandt, aber die Unruhe in der Gesellschaft ist gross.
Humanitäre Katastrophe ohne Kontext
Die extreme Rechte ist in einem Land nach dem anderen auf dem Vormarsch. Die Schwächung der sozialistischen Parteien hat ein Vakuum hinterlassen. «Sie haben die Bedürftigen verraten», erklärte mir ein Historiker, «bei den nächsten Wahlen könnte das Marine Le Pen die Präsidentschaft einbringen».
Während wir in Israel immer noch traumatisiert sind, der Kampf um das Leben der Entführten weitergeht und die Zeugnisse der befreiten Geiseln publik wurden, die Seelen erschüttern, verfolgen die Medien in Paris die fortschreitende Zerstörung und das massenhafte Sterben der Bewohner des Gazastreifens. Über die Schockreaktion hinaus rufen sie ein tiefes Echo hervor. Die Concierge, die weiss, dass ich aus Israel komme, schüttelt traurig den Kopf. «Warum Kinder?», fragt sie, «warum töten sie Kinder?» «Ja», sage ich solidarisch. Aber als sie weiterspricht, beschleichen mich Zweifel, welche Kinder sie meint. Ich sage: «Es gibt entführte Babys, schon seit über zwei Monaten.» «Oh», erwidert sie, als würde sie sich an eine prähistorische Information erinnern, die irrelevant ist.
Die humanitäre Katastrophe der Bewohner des Gazastreifens füllt das Bewusstsein aus, ohne jeglichen Kontext – als hätte es den 7. Oktober nie gegeben. Es wird nicht erwähnt, dass die Bewohner der Stadt Gaza als menschliche Schutzschilde für die unterirdische Tunnelstadt des Terrors dienen oder dass der Tod von Zivilisten dem zynischen Interesse der Hamas dient, die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren. Die Radionachrichten beginnen mit Tränen von Frühgeborenen, die im Gazastreifen geboren und vor dem Beschuss durch die israelische Armee in ein Krankenhaus in Ägypten geschmuggelt wurden.
Aus dem gelben Judenstern ist ein blau-weisser geworden
Die jüdische Gemeinde Frankreichs, die knapp eine halbe Million Menschen zählt, steht schon lange unter Druck. Der grösste Teil sind Einwanderer aus Nordafrika, von denen heute viele wichtige Positionen in Bereichen des öffentlichen Lebens, der Forschung und der Kunstwelt innehaben. Dazu kommen die Israélites, ältere französische Juden, und Flüchtlinge aus Osteuropa vor oder nach der Shoah.
Antisemitismus war in Frankreich immer präsent. In den letzten Jahren haben die Terroranschläge gegen Juden zugenommen, und die Justiz tat sich schwer damit, die Morde als Ausdruck von antisemitischem Hass zu werten. Im Hintergrund stand der historische Antisemitismus, von rechts, aber auch von links. Angesichts des Dreyfus-Prozesses wurde Theodor Herzl die Dringlichkeit eines jüdischen Staates bewusst.
Heute paaren sich christliche und muslimische Sehnsüchte nach der Auslöschung des Staates Israel. Aus dem gelben Stern ist ein blau-weisser Stern geworden. Ignoranz, Vergesslichkeit, postkoloniale Ideologien, Identitätskulturkampf verbinden sich mit dem uralten christlichen Antisemitismus und einem neueren muslimischen Hass. Dieser alt-neue Glaube lähmt internationale Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen, die es nicht wagen, den Terror der Hamas klar zu verurteilen. Er manifestiert sich in Sprechchören an Demonstrationen und auf Universitätsgeländen: «Free, Free Palestine, from the river to the sea.»
In Paris habe ich vor einem aufmerksamen Publikum Zeugnis abgelegt, wie ein Bote in einer griechischen Tragödie. Ich konnte den Schock teilen, der mich beim Besuch des zerstörten Kibbuz Beeri und des Geländes der Supernova-Party ergriff, die Sprachlosigkeit, die ungewisse Zukunft. Wir rätselten, ob der Staat Israel weiterhin ein Zufluchtsort für das jüdische Volk ist, wie er es war: für die Flüchtlinge der Pogrome in Osteuropa, vor der Ausrottung im Holocaust und für die halbe Million jüdischer Flüchtlinge aus arabischen Ländern, die mittellos vertrieben wurden.
Weinen um Juden, die schon lange gestorben sind
Das Schicksal der jüdischen Diaspora leitet sich vom Schicksal des Staates Israel ab. In Paris wurde mir klar, dass der 7. Oktober neben dem Zusammenbruch unseres Vertrauens in ein «Es wird schon gut gehen» auch die Desillusionierung des zionistischen Traums bedeutet. Das Versprechen, die jüdische Geschichte radikal zu verändern, den Antisemitismus zu beseitigen und einen neuen Juden zu schaffen, hat sich nicht erfüllt. Trotz allen Bemühungen ist das jüdische Volk nicht zu einer Nation wie alle anderen Völker geworden. Mein Kollege, der Schriftsteller Aaron Appelfeld, sagte einmal traurig: «Wir sind ein verwundetes Volk.»
Das Gedenken an den Holocaust ist in Frankreich institutionalisiert, wozu die Kranzniederlegung und die Nationalhymne gehören, seit den 1990er Jahren anerkennt das Land offiziell seine Schuld, aber, wie Rabbiner Rivon Krigel sagte: «Bei Holocaust-Gedenkkundgebungen wird das Weinen um Juden, die vor langer Zeit gestorben sind, von der Gegenwart losgelöst und zu einer Rechtfertigung für die Verurteilung Israels in der Gegenwart, schliesslich sind sie keine Judenhasser . . .»
Wie kann man einer Menschenmenge Hoffnung machen? Ich erzähle von der riesigen Welle freiwilligen Engagements der israelischen Zivilgesellschaft, von Organisationen, die gestern noch von der Regierung als «Verräter» bezeichnet wurden, die reagierten, während die Regierung gelähmt war. Ich erinnere an das erstaunliche bürgerliche Engagement, das jenseits aller Spannungen und Aufwiegelungen aus ungeahnten Tiefen hervorbricht und einen Geist beschwört, der den niedergeschlagenen, zerrütteten Staat zusammenhält, und erzähle von den spontanen Organisationen seit dem 7. Oktober, der Solidarität zwischen Juden und Arabern oder auch Beduinen und zitiere den bewegenden Aufruf der Demonstrierenden gegen die sogenannte Justizreform, als junge Menschen skandierten: «Ihr habt die falsche Generation erwischt.» Diese Generation ist erstaunlich kraftvoll geworden.
Nach meiner Rückkehr aus Paris besuchte ich mit meinem kleinen Enkel das Israel-Museum in Jerusalem. Ich ging durch die rekonstruierten Synagogen aus Aleppo und Cochin, aus Italien, Deutschland oder Surinam mit ihren klangvollen Melodien und fragilen sakralen Gegenständen. Stimmen, welche die Zeit überdauert haben, aus der Diaspora zusammengetragen. Das zu sehen war tröstlich.
Die Autorin und Regisseurin Michal Govrin lebt in Jerusalem und unterrichtet an der Jerusalem School for Visual Theater. Zuletzt: Strandliebe, Zürich 2023. Sie ist Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres. – Übersetzung aus dem Hebräischen von Bettina Spoerri.