Israels Einheitsregierung ist Geschichte, trotzdem kann Netanyahu weitermachen. Der Ministerpräsident steht unter Druck – wegen eines politischen Streits, der nur bedingt mit dem Krieg zu tun hat.
242 Tage: So lange hat die nach Kriegsbeginn gebildete Einheitsregierung zwischen Benny Gantz und Benjamin Netanyahu gehalten. Seit Sonntag ist sie Geschichte. Der Ex-Verteidigungsminister Gantz hatte am Abend in einem Vorort von Tel Aviv «schweren Herzens, aber aus ganzem Herzen» seinen Austritt erklärt. Der Schritt kam nicht überraschend. Drei Wochen zuvor hatte der ehemalige General angekündigt, die Regierung zu verlassen, falls Netanyahu keinen Nachkriegsplan für den Gazastreifen vorlege.
Aus Gantz sprach der Frust. Im Kriegskabinett wurden laut dem Oppositionspolitiker «schicksalhafte strategische Entscheidungen mit Zögern und Prokrastination angegangen, wegen engstirniger politischer Überlegungen». Wie geht es nach dem Ende der Einheitsregierung in Israel und im Gazastreifen weiter? Die wichtigsten Antworten im Überblick.
Wird es Neuwahlen geben?
Gantz’ Austritt führt nicht automatisch zu Neuwahlen. Die rechte Regierungskoalition von Benjamin Netanyahu verfügt weiterhin über eine Mehrheit von 64 von 120 Sitzen in der Knesset, dem israelischen Parlament. Gantz forderte zwar, Netanyahu solle ein Datum für Neuwahlen ansetzen. Der Ministerpräsident wird sich damit allerdings so viel Zeit lassen wie möglich.
Doch Netanyahus Regierung könnte bald durch ein Thema unter Druck geraten, das nur bedingt mit dem Gaza-Krieg zu tun hat. «Für Netanyahu ist die Frage des Militärdiensts für Ultraorthodoxe sehr viel problematischer», sagt der israelische Politikwissenschafter Gideon Rahat von der Hebräischen Universität Jerusalem. Israels oberstes Gericht hatte im März entschieden, dass die Ausnahmeregelung für ultraorthodoxe Juden nicht mehr gelte – auch sie müssten bald in der Armee dienen. Sollte Netanyahu ein Gesetz auf den Weg bringen, das dem Rechnung trägt, könnten die ultraorthodoxen Parteien seine Koalition verlassen – und Israel müsste erneut wählen.
Ein Bruch in der Regierung zeichnet sich bereits in der Nacht auf Dienstag ab. Laut israelischen Medien soll die Knesset nach Mitternacht über einen Gesetzesvorschlag Netanyahus abstimmen, der die Einberufung von Ultraorthodoxen «sehr langsam» voranbringen würde. Gemäss diesen Berichten soll Verteidigungsminister Yoav Gallant gegen den Entwurf stimmen, obwohl die meisten Parteimitglieder der Likud-Partei von Netanyahu dafür votieren werden.
Das Abstimmungsverhalten Gallants könnte Netanyahu dazu bringen, den Verteidigungsminister zu entlassen. Mutmasslich hat Gantz seinen Austritt auch wegen dieser Kontroverse gerade jetzt verkündet.
Was bedeutet der Schritt für den Fortgang des Kriegs?
Gantz war neben Netanyahu und Gallant einer der drei Männer, die im israelischen Kriegskabinett alle kriegswichtigen Entscheidungen getroffen haben. In dem Regierungsgremium war Gantz vor allem eine Stimme der Mässigung.
Laut der israelischen Zeitung «Haaretz» hat sich der ehemalige General zu Beginn des Krieges gemeinsam mit Netanyahu gegen Gallant und die israelischen Generäle gestellt, die einen Präventivschlag gegen den Hizbullah in Libanon befürworteten. Zwei Monate darauf schlug sich Gantz auf die Seite von Gallant und überzeugte Netanyahu, einem temporären Waffenstillstand im Gazastreifen zuzustimmen, während dessen 105 israelische Geiseln freikamen. Es ist davon auszugehen, dass mit Gantz’ Austritt die Chancen auf ein zweites Geiselabkommen und einen permanenten Waffenstillstand schwinden.
Die Zukunft des Kriegskabinetts ist ungeklärt. Israelische Medien berichten, Netanyahu erwäge nun, das nach Kriegsbeginn gebildete Regierungsgremium aufzulösen. Der Politikwissenschafter Gideon Rahat hält das für wahrscheinlich. Eine Auflösung habe den Vorteil, dass dies die Position von Verteidigungsminister Gallant schwäche. Zwischen den beiden Likud-Politikern herrscht schon lange Uneinigkeit, Gallant hatte Netanyahu in der Vergangenheit öffentlich kritisiert.
Welchen Einfluss haben Israels Rechtsextreme jetzt?
Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, forderte prompt nach Gantz’ Ankündigung ein grösseres Mitspracherecht sowie einen Sitz im Kriegskabinett. Er und Finanzminister Bezalel Smotrich lehnen ein Ende der Kämpfe im Gazastreifen vehement ab und hatten damit gedroht, die Regierung zu verlassen, falls Netanyahu einem Waffenstillstand zustimme.
«Ben-Gvir und Smotrich werden nun versuchen, Netanyahu noch stärker unter Druck zu setzen», sagt Gideon Rahat. Man dürfe ihre Macht in der Koalition allerdings nicht überschätzen, sagt der Politikwissenschafter. So habe Smotrich beispielsweise kein Interesse an Neuwahlen, da seine Partei in den Umfragen momentan schlecht abschneide. Zudem hätten beide rechtsextremen Koalitionspartner keine Alternative zu Netanyahu als Regierungschef, da niemand sonst mit ihnen zusammenarbeiten würde.
Netanyahu wird den Druck der Rechtsextremen laut Rahat allerdings als grösser darstellen, als er eigentlich ist. «Für Netanyahu ist es sogar besser, wenn der gefühlte Einfluss der Rechtsextremen steigt. So kann er sich als die moderate Kraft in der Regierung präsentieren.»
Wie wird Israel jetzt international wahrgenommen?
Bis zu seinem Austritt war Benny Gantz die moderate Kraft in der Regierung. «Gegenüber der Welt hat Netanyahu massiv an Kapital eingebüsst», sagt Rahat. «Denn international wurden Gantz und seine Partei als sehr viel realistischer und moderater eingeschätzt, was die Kriegsführung angeht.»
Ähnlich äusserte sich kurz nach Gantz’ Austritt auch «Haaretz». Die israelische Tageszeitung schrieb am Sonntagabend unter Berufung auf einen anonymen amerikanischen Regierungsbeamten, der moderatere Gantz sei seit seinem Eintritt in die Einheitsregierung der bevorzugte Gesprächspartner der USA gewesen. Der Druck der USA auf Netanyahus Regierung werde nun zunehmen.
Netanyahu dürfte das nicht gefährlich werden. Ähnlich wie nach der Beantragung der Haftbefehle durch den ICC-Chefankläger kann der Ministerpräsident vom internationalen Druck innenpolitisch profitieren. Netanyahu könnte noch stärker als zuvor für sich reklamieren, er verteidige legitime israelische Interessen gegen eine Welt, die sich immer mehr gegen den jüdischen Staat wende.
Welche Strategie verfolgt Benny Gantz?
Gantz versucht, so bald wie möglich Neuwahlen herbeizuführen, um Netanyahu als Ministerpräsidenten abzulösen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden mehr Menschen in Israel auf die Strasse gehen und einen Rücktritt der Regierung fordern. Laut dem Politologen Rahat haben die Demonstrationen allerdings nur eine begrenzte Wirkung: «Die Protestierenden sind Netanyahu egal, denn sie stimmen sowieso nicht für ihn.»
Viel wichtiger sei es für Gantz, Koalitionsmitglieder auf seine Seite zu ziehen. Sobald mindestens fünf Parlamentsabgeordnete Netanyahu das Misstrauen aussprechen, stürzt die Regierung. Israelische Medien berichteten in den vergangenen Tagen, dass Gantz und der Oppositionsführer Yair Lapid hinter den Kulissen versuchten, Unzufriedene für sich zu gewinnen.
Sollten Neuwahlen ausgelöst werden – entweder wegen der Meinungsverschiedenheiten zum Militärdienst für Ultraorthodoxe oder wegen eines Geiselabkommens –, ist jedoch fraglich, wie Gantz abschneidet. Netanyahu wird versuchen, Gantz als jemanden darzustellen, der Israel in einer Stunde der Not im Stich gelassen hat. Die linke Opposition wird ihn dafür kritisieren, Netanyahus Regierung nicht schon früher verlassen zu haben.
Doch laut Rahat hat Gantz die Wähler der Mitte auf seiner Seite. «Gantz’ Wählerschaft schätzt es, dass er keine politischen Spielchen spielt. Viele seiner Wähler würdigen seine Versuche, die Regierungspolitik zu ändern.» Obwohl Gantz in den vergangenen Wochen in den Umfragen Einbussen hinnehmen musste, ist der ehemalige General immer noch der aussichtsreichste Kandidat, wenn es darum geht, Netanyahu zu beerben.