Montag, September 30

Der Verteilkampf um das Armeebudget zeigt, dass die Sicherheitspolitik zu isoliert diskutiert wird. Drei internationale Trends zwingen die Schweiz zu einer umfassenden Strategie.

Felsen, Geröll und Schnee liegen drohend über den Tälern. Lawinen, Felsstürze und Murgänge sind in den Bergen eine ständige Gefahr. Die Schutzwälder alleine reichen nicht, erst Verbauungen aus Beton und Stahl sichern die Existenz der Bergdörfer und Verkehrsverbindungen in den Alpen.

Die Schweiz investiert jährlich 2,9 Milliarden Franken in den Schutz vor Naturgefahren, rund die Hälfte davon übernehmen der Bund und die Kantone. Niemand stellt diese Ausgaben ernsthaft infrage, selbst wenn sie in den nächsten Jahren ansteigen sollten. Es geht um das Leben der Bergbevölkerung, die Sicherheit der Alpentransversalen und den Tourismus.

Ganz anders sieht es bei der Landesverteidigung aus: Die Erhöhung des Militärbudgets hat einen Verteilkampf um die Bundesfinanzen ausgelöst. Die Entwicklungshilfe wird gegen die Armee ausgespielt, die Pensionen gegen die Panzer, die Cyberkriminalität gegen die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts.

Eingemitteter Expertenbericht wird zur Extremposition

Eine moderne Sicherheitspolitik umfasst tatsächlich weit mehr als die Armee. So hat Grossbritannien in der «integrated review», einem umfassenden, 2023 überarbeiteten Strategiepapier, die Verteidigungs-, Aussen-, Entwicklungs- und Handelspolitik zusammengebracht. London will agieren statt reagieren.

Natürlich ist die Schweiz keine globale Macht, dafür aber ein globalisierter Kleinstaat mit strategischer Bedeutung als Drehscheibe im Alpenraum. Verkehr, Energie, Daten: Einige für Europa kritische Achsen, Knoten und Infrastrukturen liegen in der Schweiz, was die Verantwortung für deren Schutz zusätzlich erhöht – über die Landesgrenzen hinaus.

Ein Alleingang ist deshalb kaum eine adäquate Antwort auf die verschlechterte Sicherheitslage in Europa. Zu diesem Schluss kommt auch die Mehrheit einer Expertenkommission, die im Auftrag des Verteidigungsdepartements (VBS) Impulse für eine zukünftige Sicherheitspolitik erarbeitet hat.

Die Kommission empfiehlt unter anderem, die schweizerische Neutralität nach der Uno-Charta auszurichten: Die Schweiz soll – anders als im Ukraine-Krieg – auch militärisch zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger unterscheiden. Die Wiederausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial an Kiew wäre also möglich. Ausserdem schlägt die Kommission vor, die Kooperation mit der Nato stark auszubauen.

Doch dieses Resultat ist höchst umstritten: Der völlig eingemittete Expertenbericht, den die politische Philosophin Katja Gentinetta verfasst hatte, wurde von den Polparteien zur Extremposition erklärt. Rechts und links bleiben lieber bei ihren Konzepten der Vergangenheit, als die Schweizer Sicherheitspolitik über den Zeithorizont der nächsten Wahlen hinauszudenken.

Schlüsselrolle für das neue Staatssekretariat

Einzelne Kommissionsmitglieder bekundeten auch Mühe, sich hinter ein gemeinsames Bedrohungsbild zu stellen – ähnlich wie vergangene Woche das Parlament in seiner hitzigen Debatte über die Armeebotschaft. Ist mit russischen Panzern am Bodensee zu rechnen oder doch viel eher mit einem Cyberangriff? Oder gleich beides zusammen?

Noch im sicherheitspolitischen Zusatzbericht von 2022 schreibt der Bundesrat: «Ein direkter bewaffneter Angriff Russlands auf die Schweiz, insbesondere mit Bodentruppen, ist auch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.» In der Armeebotschaft 2024 will die Landesregierung das militärische Fähigkeitsprofil nun doch auf einen eskalierenden bewaffneten Konflikt ausrichten.

Der Hinweis auf diese semantische Diskrepanz ist vor allem polemisch: Die Sicherheitslage verschlechtert sich laufend, zudem geht es nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern bloss um die Modernisierung und Vollausrüstung der bestehenden Armee. Trotzdem braucht es eine stringente und vor allem einfache Antwort.

Denn am Ende entscheidet voraussichtlich das Volk über die Zukunft der Landesverteidigung. Die höheren Ausgaben für die Armee müssen wohl mit einer temporären Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden. Darüber braucht es in der halbdirekten Demokratie zwingend eine Abstimmung. Damit eine Mehrheit höhere Steuern annimmt, braucht es einen breiten Konsens und nicht bloss einen Kompromiss.

Eine Schlüsselrolle erhält nun das neue Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (Sepos). Bis 2025 soll es eine sicherheitspolitische Strategie entwickeln, welche der Bundesrat möglicherweise noch gerade rechtzeitig vor der grossen Armee- und Finanzabstimmung verabschieden kann. Die Empfehlungen der Expertenkommission und die Bedenken aus der Ratsdebatte liefern die Impulse für ein neues Fundament der konzeptuellen Ordnung.

Drei internationale Trends zwingen das Sepos zu einem erweiterten Verständnis der Sicherheitspolitik:

  1. Folgen des Klimawandels: Die Alpen sind ein höchst fragiles Ökosystem. Auch nur leicht erhöhte Durchschnittstemperaturen haben direkte Auswirkungen. Die Gletscherschmelze verkleinert die Wasserspeicher, die Erosion nimmt zu, Starkregen und Dürrephasen verändern die Dynamik der Flüsse. Gleichzeitig dürften die Alpen zu einem Zufluchtsort für Menschen werden, denen der Klimawandel die Lebensgrundlagen entzieht. Russland und China haben in den besonders betroffenen Regionen wie dem Sahel eine starke Präsenz aufgebaut. Das zynische Spiel mit Flüchtlingen gehört zum Repertoire der russischen Kriegsführung.
  2. Spaltung der westlichen Demokratien: Die Migration dient den populistischen Parteien ganz rechts und ganz links bereits jetzt dazu, den demokratischen Diskurs aufzuheizen. Darauf setzen auch die autoritären Regime in ihrem hybriden Krieg gegen den Westen. Das Mittel ist die Beeinflussung der Menschen mittels Desinformation. Das Ziel sind eine Fragmentierung Europas und ein Bruch der transatlantischen Verbindung, um eine «multipolare Weltordnung» zu etablieren. Bereits im Februar 2007 hat der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz genau mit diesem Begriff den Generalbass seiner imperialen Politik gelegt.
  3. Gewalt als Mittel der Machtpolitik: Europa erlebte nach 1945 eine überdurchschnittlich lange Periode des relativen Friedens. Die verdrängte Ausnahme sind die jugoslawischen Zerfallskriege zwischen 1991 und 1999, die vorausnahmen, was heute im grösseren Massstab geschieht – inklusive Desinformation. Der Graubereich zwischen bewaffneten Gruppen, der organisierten Kriminalität und staatlichen Akteuren hat sich als Mittel durchgesetzt, um Konflikte möglichst lange uneindeutig zu führen – ob als Sabotageakte gegen kritische Infrastrukturen oder als Cyberangriffe. Die russische Invasion in der Ukraine ist als Ausschlag über die Kriegsschwelle zu verstehen, aber auch als Warnung davor, was in einer «multipolaren Weltordnung» nach russischer Lesart die Regel werden könnte.

Eine umfassende Sicherheitsstrategie für die Schweiz könnte aufzeigen, dass die Naturgefahren, die als Folgen des Klimawandels auftreten, nicht in einer politischen Konkurrenz zur militärischen Bedrohung stehen. Vielmehr geht es in der Analyse darum, die einzelnen Themen miteinander zu verbinden – und dabei immer auch die gefährlichste Entwicklungsmöglichkeit mitzudenken. Daraus ergeben sich die Konsequenzen für die Ressourcen: finanziell, aber auch personell.

Von der Nato-Option bis zu einer souveränen Dissuasion

Die Armee und der Bevölkerungsschutz kämpfen seit Jahren mit Bestandesproblemen. Nehmen die Murgänge und Überschwemmungen als direkte Folge des Klimawandels weiter zu, spitzt sich der Mangel an dienstpflichtigen Schweizern weiter zu.

Ähnlich verhält es sich mit den Finanzen: Auf die Kantone dürften weitere Investitionen in die Schutzbauten zukommen, der Bund braucht einen gesunden Haushalt, um die Schockwellen der Krisen abzuwehren, die der hybride Krieg auslöst: von möglichen Strommangellagen bis zu bewusst herbeigeführten Migrationskrisen.

Oder noch umfassender gedacht: Die Entwicklungshilfe in Ländern, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, könnte zur Prävention gegen unkontrollierte Fluchtbewegungen genutzt werden. Weichere Massnahmen dieser Art dienen dazu, hybride Angriffe abzufedern und zu verzögern. Eine Fragmentierung Europas könnte aber nicht verhindert werden.

Zu einer umfassenden Strategie gehört aber auch, zeitlich weiter nach vorne zu schauen. Was geschieht, wenn sich militärische Gewalt tatsächlich als Mittel der Politik durchsetzt? Was, wenn Deutschland die Westbindung aufgibt, wie die AfD und Sahra Wagenknecht propagieren? Was, wenn die Schutzwirkung von EU und Nato wegfällt? Was, wenn ein bewaffneter Konflikt doch näher an die Schweiz heranrückt?

Der harte Kern der Kriegsverhinderung ist eine verteidigungsfähige Armee. Sie muss sowohl mit den militärischen Nachbarn kooperieren können als auch einen ernstzunehmenden, militärischen Faktor darstellen. Es braucht den Mut, die echten Varianten mindestens durchzudenken: Strategisch reicht das Spektrum von der Nato-Option – ein möglicher Beitritt je nach Lage – bis zum Wiederaufbau einer souveränen Dissuasion. Einem Gegner soll «abgeraten» (lat. dissuadere) werden, überhaupt einen Angriff zu wagen.

Ob ein Felssturz oder eine Lenkwaffe auf die kritische Infrastruktur: Die Gefahren und Bedrohungen, mit denen die Schweiz konfrontiert ist, gelten für den gesamten Alpenraum. Eine enge Zusammenarbeit bei der Luftverteidigung oder ein gemeinsames Korps für den Bevölkerungsschutz drängen sich geradezu auf. Das neue Staatssekretariat könnte mit seiner sicherheitspolitischen Strategie Impulse über die Landesgrenzen hinaussenden.

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