Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev wurde vor zwanzig Jahren bei einem Bombenanschlag schwer verletzt. Seit dem 7. Oktober kann sie nicht mehr schreiben. Doch sie glaubt an die Resilienz der Israeli.
Zum ersten Mal seit dem Angriff der Hamas hat Zeruya Shalev Israel verlassen. Die Schriftstellerin ist auf Lesereise gegangen mit ihrem ersten Roman, der nun nach dreissig Jahren auch auf Deutsch erschienen ist. «Nicht ich» provozierte 1993 in Israel einen kleinen Skandal: Eine Frau verlässt Mann und Kind für ihren Geliebten, ohne Erlösung zu finden. Wie im Fieberwahn gibt sie sich ihrer Verzweiflung, Wut und Trauer hin. Erst jetzt mutet Shalev das furiose Frühwerk auch ihrer deutschen Leserschaft zu. Bei dieser hat sich die 64-Jährige mit den Romanen «Liebesleben», «Mann und Frau», «Schmerz» oder «Schicksal» längst einen Namen gemacht. Shalev sitzt in der Hotelbar in der Altstadt von Zürich. Sie spricht leise, langsam, bedacht. Manchmal zieht sie an ihrer E-Zigarette.
In Ihren Büchern geht es um Liebe und Verlust, Trauer und Begehren. So heisst es in Ihrem neuen Roman einmal: «Manchmal frage ich mich, warum die, die ich am meisten liebe, immer in Lebensgefahr sind.» Warum kennen Sie sich damit so gut aus?
Das fragte mich meine Mutter auch immer. Ich schrieb schon mit sechs Jahren traurige Gedichte. Meine Mutter fragte, als sie sie las: Warum bist du so traurig, was ist mit dir los? Seit ich denken kann, ist da eine Sensibilität, ein Wissen darum, was es heisst, jemanden zu verlieren. Die Traurigkeit hat auch mit meiner Mutter zu tun.
Inwiefern?
Sie teilte mit mir ihre Trauer. Sie war eine Kriegswitwe, die früh ihren ersten Mann verloren hat. Er war nicht mein Vater, sie heiratete danach wieder. Dieser Verlust war in unserem Alltag lebendig. Er war gegenwärtig meine ganze Kindheit hindurch.
Was war das für eine Liebe?
Meine Mutter wuchs in einem Kibbuz am See Genezareth auf, in dem auch ich geboren wurde. Meine Grosseltern hatten den Kibbuz in den 1920er Jahren gegründet. Bei der Staatsgründung Israels 1948 waren die Kibbuzim ständig bedroht. Der erste Mann meiner Mutter hat die Shoah überlebt. Er wurde getötet, als er mit anderen jungen Leuten die Kibbuzim gegen die Truppen der arabischen Legion verteidigte.
Solche existenziellen Erfahrungen werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Seit es den Staat Israel gibt, leben seine Bürger mit einem Gefühl der Bedrohung. Spielt auch das eine Rolle?
Man wächst in Israel in dieser ständigen Spannung des Krieges auf. Das Land ist umzingelt von Feinden. Junge Leute müssen Militärdienst leisten und werden im Krieg getötet. Man muss sich im Alltag der Trauer stellen, es geht nicht anders. Am 7. Oktober haben sich unsere Ängste bewahrheitet. Ein Albtraum wurde Wirklichkeit.
Wie war das vor vier Monaten, als Sie von dem Massaker hörten?
Es lag schon länger etwas in der Luft. Seit Monaten gingen wir auf die Strasse und demonstrierten gegen Benjamin Netanyahus Justizreform. Das Land war verletzlich und geschwächt, weil die Regierung mit sich selbst beschäftigt war. Viele ahnten, dass etwas passieren würde. Israel hat so viele Feinde, diese warteten nur darauf, unser verwirrtes, wütendes und gespaltenes Land anzugreifen.
Sie wurden 2004 bei einem Selbstmordanschlag eines Palästinensers auf einen Bus in Jerusalem schwer verletzt. Der Attentäter wollte sich für eine israelische Militäroperation im Gazastreifen rächen. Hat Sie das in diesem Moment wieder eingeholt?
Wie damals bin ich völlig gelähmt. Seit dem 7. Oktober kann ich nicht mehr schreiben. Ich habe seither kein einziges Wort Literatur geschrieben. Ich schreibe Essays für Zeitungen über die politische Situation oder Reden, die ich an den Demonstrationen für die Freilassung der Geiseln halte. Ich schreibe Trauerreden und Nachrufe. Meinen nächsten Roman habe ich seit dem 6. Oktober nicht mehr angerührt.
Sie haben eine Schreibblockade?
Eine Schreibblockade kommt normalerweise von innen. Doch diesmal greift mich etwas von aussen an. Schreiben ergibt zurzeit keinen Sinn. Ich habe die Leidenschaft verloren. Die Geiseln sind noch in Gaza. Der Krieg geht weiter. Ich kann mich nicht einfach hinsetzen und mir Geschichten ausdenken in dieser Situation.
War das 2004 ähnlich?
Ja. Aber diesmal ist der Auslöser weniger persönlich. Damals verging ein halbes Jahr, bis ich wieder schreiben konnte. Es ging erst wieder, als ich meine Beine wieder benutzen konnte. Doch jetzt lähmt mich das kollektive Trauma. Es geht nicht um mich und den Schmerz, den mir eine Verletzung zugefügt hätte. Das ganze Land ist verletzt.
Was muss passieren, damit Sie sich wieder an Ihren Roman setzen?
Mein grösster Wunsch ist, dass die Geiseln lebend zurückkehren. Deshalb trage ich diese Halskette (sie zeigt auf den Anhänger in Form einer kleinen Platte, auf der eingraviert auf Englisch steht: «Unser Herz ist in Gaza gefangen. Bringt sie heim»). Damit verbunden ist die Hoffnung auf ein Ende des Krieges und einen politischen Wandel. Ich fürchte, dass die Inspiration nicht vorher zurückkommt.
Weiss man, wie es den Geiseln geht?
Es wird vermutet, dass 50 der 136 Geiseln tot sind. Einige sind alt und schwach, andere schwer verletzt. Man weiss von Geiseln, denen Körperglieder abgetrennt wurden. Ich denke an die jungen Frauen, die von den Terroristen vergewaltigt werden. Vielleicht sind manche jetzt schwanger.
Man mag es sich nicht vorstellen. Auch in Ihrem Roman «Nicht ich», der gerade auf Deutsch erschienen ist, wird ein Kind entführt und über die Grenze gebracht. Hat Sie die Aktualität überrascht?
Das Szenario schien damals surreal. Der wütende Monolog der Ich-Erzählerin, die mit ihrem kleinbürgerlichen, langweiligen Leben abrechnet, ist voller Bilder und Geschichten, welche die Ängste und Albträume des israelischen Lebens beschreiben. Dies alles spielt sich aber im Kopf der Heldin ab.
Die Heldin vermutet, dass ihr Kind durch einen Tunnel verschwunden sei. Sie sagt: «Zu viele unterirdische Gänge führen zu diesem Kindergarten. Da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind.» Das klingt geradezu hellsichtig.
Aber das ist nun wirklich komplett meiner Phantasie entsprungen. Vor dreissig Jahren gab es noch keine so weitverzweigten Tunnels im Gazastreifen. Die Hamas hat das System ausgebaut, als sie 2006 an die Macht kam.
Viele Ihrer Romane prägt ein erotischer Furor. In «Nicht ich» beschreiben Sie wilde Sexabenteuer. Der Roman wurde in Israel verrissen. Die Israeli sind doch nicht so prüde. Oder was war das Problem?
Das Problem waren nicht die sexuellen Darstellungen. Sondern Israel hat ein sehr strenges Konzept von Familie, das gilt vor allem für die damalige Zeit. Auch Mutterschaft ist mit mehr Erwartungen verbunden als in Europa. Das hat mit der jüdischen Tradition zu tun. Die Leute halten zu ihren Familien. Wir hatten lange kein eigenes Land. Wir leben bis heute nicht in Sicherheit. Deshalb ist die Familie seit vielen Generationen das Zentrum des Lebens. Die Heldin in meinem Roman greift diese Werte radikal an.
Hat sich daran etwas geändert?
Heute ist es einer Mutter eher erlaubt, ambivalente Gefühle zu zeigen. Es ist normal, dass sie ihr Kind auch einmal hasst und sich wünscht, dass es verschwindet. Manchmal will sie ja sogar selber verschwinden. Ich hielt den Leuten einen Spiegel vor, und was sie sahen, gefiel ihnen nicht. Es verärgerte sie. Sie fällten ein moralisches Urteil über das Buch und über mich als Autorin.
Um viel Moral geht es momentan auch bei der westlichen Verurteilung von Israel. Man ist so empört über den Krieg in Gaza, dass das Massaker der Hamas in Vergessenheit gerät. Die Soziologin Eva Illouz schrieb deshalb kürzlich, die Linke hätte ihre Leitwerte verraten. Geht es Ihnen ähnlich?
Wie kann man sich links nennen und eine Terrororganisation verharmlosen, die schlimmste Kriegsverbrechen begeht, die homosexuelle Leute hängen lässt und Frauen keine Rechte gibt? Die Hamas schert sich nicht um Menschenrechte. Die eigene Bevölkerung ist ihr egal, sie benutzt diese als Schutzschilde. Die Linke legt gerade eine grosse Heuchelei an den Tag. Diese beruht auf Missverständnissen, Fehlinformationen und, ja, leider auch auf Antisemitismus.
Künstler fordern, dass Israel vom Eurovision Song Contest im Mai in Schweden ausgeschlossen wird. Erreicht man damit irgendetwas?
Mir kommt es vor, als stehe die Welt auf dem Kopf. Was denken sich diese Leute? Sie leben in Sicherheit und Frieden. Niemand attackiert sie, niemand entführt ihre Kinder, niemand vergewaltigt ihre Frauen, niemand schiesst mit Raketen auf sie. Israelische Künstler und Musiker setzen sich für ein friedliches Zusammenleben zwischen Arabern und Israeli ein. Unter ihnen sind viele Friedensaktivisten. Und diese will man nun so bestrafen?
Sie engagieren sich seit langem für Frieden zwischen Israel und den Palästinensern. Sind Sie nicht langsam desillusioniert?
Die Israeli sehnen sich nach Frieden. Aber die Extremisten haben im Moment das Sagen, auf beiden Seiten, während moderate Stimmen kaum gehört werden. Das macht wenig optimistisch. Die Palästinenser werden schon im Kindergarten indoktriniert, dass sie Israelis hassen und bekämpfen sollen. Es braucht eine Umschulung, eine Entradikalisierung. Der Friedensprozess hängt also von einer Frage ab: Wollen die Palästinenser einen Staat, in dem sie friedlich Seite an Seite mit Israel leben? Oder wollen sie einen Terrorstaat?
Andererseits sind auch die Israeli voller Hass und Misstrauen. Junge Überlebende des Massakers vom 7. Oktober sagen, für sie sei heute jeder Palästinenser ein Terrorist. Wie kann es da je Versöhnung geben?
Als Überlebende haben diese Menschen das Recht, so zu fühlen. Das Trauma liegt noch nicht lange zurück. Ich glaube aber, dass die meisten Leute in Israel bereit sind, etwas zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen. Ich lebe in Haifa, der Hafenstadt im Norden Israels. Haifa ist eine gemischte Stadt, hier leben Juden und Araber Seite an Seite. Man spürt viel Solidarität.
Israeli machen einen selbstbewussten und robusten Eindruck, gerade auch die Frauen. Das wird oft darauf zurückgeführt, dass sie Militärdienst leisten und mit der permanenten Bedrohung leben. Wird die israelische Bevölkerung eines Tages noch resilienter aus dem allem hervorgehen?
In den vergangenen vier Monaten hat sich gezeigt, was für einen starken Geist die Israeli haben. Unmittelbar nach dem 7. Oktober wollten viele helfen und etwas Sinnvolles tun. Männer und Frauen melden sich freiwillig zum Dienst, Frauen kochen für die Armee. Ich backe jede Woche zwei Kuchen für die Soldaten. In Israel gibt es eine starke Zivilgesellschaft. Das ist das Gute am Schrecklichen. Ich hoffe, dass dieser positive und mutige Geist siegen wird.
Zeruya Shalev: Nicht ich. Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer. Berlin Verlag, Berlin 2024. 208 S., Fr. 33.90