Mittwoch, Oktober 9


Mode-Phänomen

Ein Tiktok-Trend macht Lust auf betont mädchenhafte Kleidung. Überhaupt wird es gerade wieder gefeiert, ein «Girl» zu sein. Warum das kein Rückschritt ist.

Im vergangenen September stellte das amerikanische Lifestylemagazin «The Cut» etwas Amüsantes, aber irgendwie auch Empörendes fest: Wann immer Modemarken an ihre Accessoires und Kleidungsstücke eine Schleife hinzufügten, verlangen sie dafür höhere Preise. Das Medium lieferte dafür einige Beispiele. Ein weisses Logo-T-Shirt von Miu Miu? Kostete pur 650, mit Schleife um den Kragen 950 Dollar. Schnürsenkel von Balenciaga kosteten gerade einmal 15 Dollar – doch die exakt gleichen Schnürsenkel, zu Schleifen gebunden, mit Ohrsteckern beklebt und so als Ohrringe verkauft: 250 Dollar.

Die Schleife hat ihr Potenzial als preistreibendes Trendmotiv in der Zwischenzeit nicht verloren, ganz im Gegenteil: Sie ist populärer denn je, schliesslich ist sie ein essenzieller Bestandteil eines Trends namens «Coquette Style». Der bringt seit einiger Zeit auf Tiktok – wo sonst? – junge Frauen zusammen, die alles lieben und tragen, was feminin, verspielt, niedlich und romantisch aussieht. Schleifen, Ballettschuhe, gerüschte oder gesmokte Kleider, Spitzenstrümpfe und Blumen.

Kindliche Leichtigkeit

Auf Deutsch wird mit dem Wort «kokett» laut Duden ein «eitel-selbstgefälliges» Verhalten beschrieben, das darauf aus ist, die Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Im Englischen bezeichnet eine «coquette» eine Frau, die ohne ernste Absichten mit Männern flirtet, um sie zu bezirzen. Sehr positiv klingt das alles nicht, doch die Fans des «Coquette Style» assoziieren damit weniger mangelnde Ernsthaftigkeit oder Launenhaftigkeit, sondern eher eine kindliche Leichtigkeit, die in der passenden Kleidung zum Ausdruck gebracht wird.

Auswahl gibt es genug: Viele Marken schwelgen in Puffärmeln und Volants, Schleifen und Spitze, so wie die britische Designerin Simone Rocha oder ihre dänische Kollegin Cecilie Bahnsen. Chanel machte mit seiner aktuellen Frühlingskollektion die weisse Strumpfhose wieder populär. Die amerikanische Designerin Sandy Liang verziert so ziemlich alles mit Schleifen, druckt Erdbeeren auf Strickjacken und war eine der Ersten, die das Comeback des Ballerina-Schuhs ausrief. Überhaupt: Gibt es derzeit ein Modehaus, das keine Ballerinas im Angebot hat?

Wenig progressiv anmutendes Frauenbild

Über 120 Millionen Posts finden sich zum Thema «Coquette Style» auf Tiktok. Mehrere Trends, die den Lifestyle- und Modediskurs der vergangenen Jahre bestimmt haben, kommen hier zusammen: so wie «Balletcore» und «Cottagecore», das eine verträumte Landhaus-Ästhetik mit Korbtaschen und Kleidern mit Empire-Taille beschreibt. Auch erinnert der Look an die Subkultur der Lolita-Bewegung in Japan, die sich schon in den neunziger Jahren etablierte und junge Frauen für Petticoats und Sonnenschirme, Schleifen im Haar und Kniestrümpfe begeisterte.

Komplett neu ist der Look also nicht. Dass dieses mädchenhafte und eher wenig progressiv anmutende Frauenbild gerade jetzt so gefeiert wird, erstaunt allerdings. Frauen müssen weiterhin hart um ihre Rechte kämpfen und in manchen Fällen sogar dabei zusehen, wie Errungenschaften aus der Vergangenheit wieder rückgängig gemacht werden – wie in den USA, wo der Supreme Court 2022 das grundsätzliche Recht auf Abtreibung, das seit 1973 in fast allen Gliedstaaten eingeräumt worden ist, wieder zurücknahm.

«Girl»-Sein hat Hochkonjunktur

Auf der anderen Seite werden Frauen dazu ermuntert, das «Girl» in sich wiederzuentdecken und die Unbekümmertheit und Lebensfreude eines Mädchens auf Entdeckungsreise auszuleben. Der «Barbie»-Film im vergangenen Jahr brach Zuschauerrekorde, und Taylor Swift, die gefühlsbetont und mit entwaffnender Ehrlichkeit über Mädchenträume, -freundschaften und -enttäuschungen singt, gilt als grösster Pop-Star der Gegenwart.

Als «Girl Dinner» bezeichneten junge Frauen auf Social Media ihre einfachen Mahlzeiten aus Brot mit ein bisschen Käse und Oliven und mit «Girl Math» ihre nicht ganz ernstzunehmende Shopping-Logik, wonach ein teures Teil immer den Kauf wert ist, wenn man es nur oft genug trägt.

Erwachsene Frauen sollen nun also einfach shoppen gehen und sich Schleifen ins Haar binden – ist das nicht ein wenig befremdlich? Ganz so streng muss man das nicht sehen. «Girl»-Sein soll ein feministisches Selbstverständnis nicht ausschliessen, auch wenn man darüber diskutieren kann, ob viel Pink und Barbies mit verschiedenen Jobs wirklich Fortschritt bedeuten.

Nachvollziehen kann man aber das Bedürfnis, sich angesichts zahlreicher negativer Entwicklungen in der Gesellschaft und des wachsenden Drucks, mit den Herausforderungen klarzukommen, eine eher spielerische, verträumte Herangehensweise an manche Dinge im Leben zu erlauben.

Dazu gehört auch ein Look im «Coquette Style»: Wenn Erdbeeren auf der Strickjacke oder ein puppenhaftes Kleid gute Laune machen und dem Alltag ein wenig mehr Zauber und Leichtigkeit verleihen, ist es die individuelle Entscheidung einer Frau, sich damit zu schmücken und daran Spass zu haben. Und sie muss dafür auch nicht auf die teuren Angebote der Modemarken eingehen. So eine Schleife im Haar kostet schliesslich fast nichts.

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