Mittwoch, Oktober 2

Noch vor einem Jahr haben CO2-Zertifikate Höchststände markiert, seither aber drastisch korrigiert. The Market zeigt auf, was die Preisfindung beeinflusst und den intendierten Verknappungsmechanismus aus der Balance gebracht hat.

Das Ziel ist klar: Bis 2050 will die Europäische Union CO2-neutral wirtschaften, also nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausstossen, als auf natürliche Weise in der Umwelt gebunden werden.

Mit dem Programm «Fit für 55» hat sich die EU dabei das Etappenziel gesteckt, die Emission von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55% zu reduzieren. Das wichtigste Instrument zu ihrer Minderung ist das EU-Emissionshandelssystem (European Union Emissions Trading System, EU-ETS), über das CO2-Zertifikate, sogenannte EU-Allowances (EUA), ausgegeben und gehandelt werden.

Organisiert ist das ETS nach der Cap-and-Trade-Methode. Das heisst, das Ausmass der verfügbaren CO2-Zertifikate wird vom Regulator definiert. Danach findet ein freier Handel statt, in dem ihr Preis über Angebot und Nachfrage ermittelt wird. Derzeit sind rund 40% aller in der EU ausgestossenen Treibhausgase vom System erfasst, indem die Emissionen von rund 8000 europäischen Anlagen – darunter seit 2020 auch schweizerischen – einbezogen werden.

Im Zentrum stehen CO2-intensive Branchen wie Versorger, Düngemittelproduzenten, Stahl- und Zementhersteller. Neu dazugekommen sind kürzlich die Schiff- und die Luftfahrt, zumindest teilweise. Geplant ist zudem, voraussichtlich ab 2026, ein neues eigenständiges Emissionshandelssystem für Gebäude, den Strassenverkehr sowie für Brenn- und Kraftstoffe zu schaffen.

Im Weiteren gilt es zu unterscheiden: Das europäische Handelssystem für CO2-Zertifikate hat nichts mit der freiwilligen Abgeltung zu tun, die private Anbieter organisieren. Sie offerieren, beispielsweise durch die Aufforstung von Wäldern, Treibhausgase, die etwa ein Fluggast verursacht, anderswo auf der Welt zu kompensieren.

Die vom staatlich organisierten ETS erfassten Unternehmen hingegen müssen für jede ausgestossene Tonne CO2 – genauer: jede Emission von Treibhausgasen, die dem Erwärmungspotenzial von einer Tonne CO2 entspricht – zwingend ein europäisches CO2-Zertifikat vorlegen. Sonst drohen Bussen.

Anreiz zur effektiven Dekarbonisierung

Anhand einer Benchmark wird den Unternehmen zwar ein Grossteil dieser Zertifikate gratis zugeteilt – ein Mechanismus, der ab 2026 schrittweise zurückgefahren wird und bis 2034 auf null sinken soll. Dennoch besteht schon jetzt ein Anreiz, CO2 einzusparen.

Unternehmen, die gemessen an ihrer Branche überdurchschnittlich viel Treibhausgase emittieren, müssen schon heute auf dem Markt zusätzliche Zertifikate erwerben, während sorgsam wirtschaftende Gesellschaften durch die Veräusserung überzähliger Zertifikate Gewinne einstreichen können. Die Idee dahinter ist, dass der Markt selbst entscheidet, wo CO2-Einsparungen am effizientesten sind, also wo die Kosten dafür (noch) nicht so hoch sind und es wirtschaftlich sinnvoller ist, dafür zusätzliche Zertifikate zu erwerben.

Seit der Lancierung des ETS 2005 haben die darin erfassten Unternehmen ihre Emissionen bereits um mehr als 40% reduziert. Der «Green Deal» sieht nun vor, dass sich dieser Wert bis 2030 auf mehr als 60% erhöht.

Damit der Anreiz für weitere Emissionsminderungen bestehen bleibt, wird die Höchstgrenze für CO2-Emissionen nun neu um jährlich 4,3% gesenkt. Zuvor lag der Absenkungspfad bei 2,2%. Das bedeutet, dass die Zahl jährlich neu zugeteilter und in Auktionen vergebener CO2-Zertifikate immer geringer wird.

Wer damit nicht mithält, muss künftig vermehrt zusätzliche Zertifikate am Markt erwerben – und das bei einem abnehmenden Angebot. Die damit verbundene Erwartung ist, dass die CO2-Preise steigen – und so der ökonomische Anreiz wächst, immer weitere Bereiche zu dekarbonisieren.

Lange Historie – kurze heisse Phase

Der Blick zurück auf die fast zwanzigjährige Entwicklung der europäischen CO2-Preise zeigt allerdings: Es hat sehr lange gedauert, bis der Ausstoss von Treibhausgasen ökonomisch relevant wurde.

Zu Beginn des ETS kostete der Ausstoss einer Tonne CO2 20 bis 30 €. Dann fiel der Wert fast auf null und blieb danach lange um die 5 €. Erst ab 2018 begann er sich zu erholen und ab 2020 in Richtung 100 € abzuheben. Doch 2023 halbierte sich der Preis für CO2-Zertifikate erneut nahezu auf gegen 50 €.

Gestartet war der Handel mit CO2-Zertifikaten 2005 in einer Art Versuchsphase. Erst zwischen 2013 und 2020 wurden die EUA direkt von der Europäischen Kommission vergeben, und das Reduktionsziel wurde verschärft.

Trotz der Verringerung des jährlich neu zur Verfügung gestellten Angebots an Gratiszertifikaten hat sich während dieser Phase aus mehreren Gründen trotzdem ein grosser Überschuss an Zertifikaten aufgebaut, was den Preis tief hielt.

Erst nach einer Revision des ETS begann ab 2021 eine ganze Reihe neuer Massnahmen zu greifen, um diesen preisdrückenden Überhang an Zertifikaten zu eliminieren.

Einerseits werden seither nicht mehr alle Zertifikate über Auktionen ausgegeben, sondern teilweise in eine sogenannte Marktstabilisierungsreserve überführt und damit zurückgehalten. Mit der so geschaffenen Angebotsverknappung sollte der aus früheren Jahren bestehende Überschuss aus dem System entfernt werden. Diese Perspektive war es, die den Preis für CO2-Zertifikate ab 2021 rasant auf ein neues Niveau hob.

Doch dann kam es dennoch anders.

Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem Wegfall russischen Erdgases wurden zwar Kohlekraftwerke wieder neu angeworfen, was die Nachfrage nach CO2-Zertifikaten zusätzlich zur erwarteten Angebotsverknappung anschwellen liess.

Doch bereits 2023 sank die Nachfrage nach CO2-Zertifikaten wieder, ausgelöst durch einen rekordhohen Rückgang der im ETS erfassten CO2-Emissionen von im Jahresvergleich 15,5%. Dies teilweise wegen des milden Winters, aber auch wegen des Aufschwungs von erneuerbaren Energiequellen, der die Treibhausgasemission aus der Stromproduktion um 24% zurückgleiten liess.

Störung im System

Zusätzlich zu diesem nachfragebedingten Rückgang der Preise für CO2-Zertifikate untergräbt ein neuer angebotsseitiger Aspekt die Preisfindung im europäischen Handelssystem.

Zur Finanzierung von REPowerEU, womit die EU sich sowohl von russischen Gaslieferungen lösen als auch eine saubere, bezahlbare und sichere Energieversorgung aufbauen will, hat Brüssel zur Jahreswende 2002/2023 beschlossen, mehr CO2-Zertifikate auf den Markt zu bringen, als der Pfad ursprünglich vorsah. Insgesamt 20 Mrd. € sollen so dem Haushalt zusätzlich zufliessen.

Einfach neu geschaffen werden diese Zertifikate zwar nicht. Der politische Kompromiss sieht vor, sie aus dem Vorrat zu nehmen, der bis 2030 ohnehin zur Ausgabe geplant war. Hingegen wird das Emissionsdatum für diesen Teil der Zertifikate vorgezogen.

Das bedeutet, dass der ursprünglich geplante Verknappungsmechanismus, der die CO2-Preise eigentlich hätte in die Höhe treiben sollen, aufgeweicht wird – zumindest vorübergehend. Wie viele Zertifikate tatsächlich auf den Markt gelangen werden, ist allerdings noch unklar. Denn festgelegt ist lediglich, dass sie 20 Mrd. € einbringen sollen – je stärker der Preis fällt, desto mehr Zertifikate werden damit frühzeitig auf den Markt kommen und den Preis womöglich noch weiter drücken.

REPowerEU weicht ursprünglichen Verknappungsplan auf

Die Analysten von Berenberg schätzen, dass zur Erreichung des Einnahmenziels für REPowerEU in den Jahren 2024 und 2025 für mehr als 30 Mio. Tonnen CO2 zusätzliche Zertifikate in den Markt gelangen. Das führt in den beiden Jahren zu einem Angebotsüberhang, und zwar selbst wenn die Wirtschaft anzieht: Die Analysten rechnen vor, dass ein Wachstum der Industrie um 1% lediglich 5 Mio. Tonnen CO2 zusätzlich produziert. In diesem Szenario würde sich die Nachfrage nach Zertifikaten entsprechend nur um ein Sechstel der zusätzlich zur Verfügung gestellten Menge erhöhen.

Erst 2026 dürfte der Angebotstrend drehen und der Überhang an Zertifikaten erneut abnehmen. Es wird indes bis 2027 dauern, bis wieder die erwünschte Knappheit erreicht wird, die den CO2-Preis anziehen lässt.

Neuer Überschuss wird aufgebaut – Knappheit ist auf 2027 verschoben

Der Markt hat auf diese Entwicklungen reagiert: Mit dem Nachlassen der hohen Energiepreise und dem Abnehmen der Emissionen durch die Verstromung von Kohle ist zuerst das Interesse der Investoren an Anlageprodukten gesunken, die die Entwicklung des CO2-Preises abbilden – ablesbar beispielsweise am KRBN-ETF von KraneShares. Die Zahl seiner ausstehenden Titel ist seither von in der Spitze rund 35 Mio. auf zuletzt weniger als 10 Mio. Anteilsscheine gesunken.

Die Analysten von Bank of America stellen zudem fest, dass Investment Funds seit Anfang 2023 – zu diesem Zeitpunkt war klar geworden, dass in den nächsten Jahren mehr CO2-Zertifikate ausgegeben werden sollen als geplant – netto sogar short auf den CO2-Preis sind, seither also auf weiter sinkende Notierungen spekulieren.

Dass die EU den Entscheid, zur Finanzierung der Energieversorgung zusätzliche CO2-Zertifikate auf den Markt zu bringen, just zu dem Zeitpunkt fällte, als die Preise tatsächlich zu schmerzen begannen, interpretieren die Analysten von Bank of America so, dass auch die EU nicht bereit ist, die Dekarbonisierung um jeden Preis voranzutreiben.

Im Markt kam das Vorgehen jedenfalls als höchst verunsicherndes Zeichen an, nachdem die EU kurz davor noch alles dafür getan hatte, endlich ein glaubwürdiges und robustes Regime für CO2-Zertifikate zu etablieren.

Längere Preisdelle befürchtet

Gemäss den Schätzungen von Berenberg dürfte der Preis für europäische CO2-Zertifikate aufgrund dieser neuen Ausgangslage bis 2026 im Schnitt kaum aus der diesjährigen Bandbreite von 60 bis 70 € ausbrechen. Erst ab 2027 sehen die Analysten neues Potenzial für Preissteigerungen, die die Notierung für CO2-Zertifikate gemäss ihren Schätzungen bis 2030 auf 130 € führen könnten.

Ein Treiber dafür liegt darin, dass durch die nun vorverlegte Emission von CO2-Zertifikaten der Stock, der künftig neu auf den Markt gebracht wird, geringer als ursprünglich geplant ausfallen wird.

Gleichzeitig soll bis dann der Anteil an Zertifikaten, die den Unternehmen gratis zugeteilt werden, sinken. Den Überschuss an Zertifikaten, den sie allenfalls aus Vorjahren noch halten, werden sie voraussichtlich selbst brauchen und nicht auf dem Markt verkaufen.

Wer in dieser erwarteten Knappheit zusätzliche Zertifikate kaufen muss, wird deutlich mehr dafür bezahlen müssen als heute. So lautet zumindest heute die Perspektive mit Blick auf das Ende der Dekade.

Voraussetzung für einen zumindest dann wieder anziehenden CO2-Preis ist allerdings, dass nicht neue politische Eingriffe ins ETS diese Erwartungen erneut aufweichen.

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