Donnerstag, Februar 13

Vor der Bundesratswahl geht es in Bern um alles, nur nicht um die Sicherheitslage. Eine Systemanalyse Europas zeigt, was auf den neuen Chef im Verteidigungsdepartement zukommt.

Die Herkunft, der Stallgeruch und neuerdings auch der «Gmögigkeitsfaktor»: Die Kriterien, um in der Schweiz Bundesrat zu werden, sind gegenwärtig ziemlich überschaubar, nicht einmal die sprachlichen Fähigkeiten fallen ins Gewicht. Trotzdem freut sich die Berner Bundesblase auf ein bisschen politische Telenovela.

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Der neue Bundesrat dürfte das Verteidigungsdepartement (VBS) übernehmen, dessen Bedeutung seit dem russischen Angriff auf die Ukraine zugenommen hat. Die Nachrüstung der Armee hat allerdings einen heftigen finanzpolitischen Verteilkampf ausgelöst, der mit dem neuen Budgetprozess in die nächste Runde geht.

«NZZ Pro» – geopolitische Einordnung im Überblick

Kurzgefasst: Die Schweiz führt trotz sicherheitspolitischer Unsicherheit eine Debatte über eine Miniarmee.

Geopolitische Einschätzung: Europa spaltet sich gleichzeitig sicherheitspolitisch in eine resiliente Ostsee-Koalition und eine opportunistische Schaukelpolitik.

Blick voraus: Eine fortschreitende Erosion Europas könnte die Schweiz dazu zwingen, wesentlich mehr in die Armee zu investieren als bisher.

Deshalb werden auch Optionen in den Umlauf gebracht, welche die Landesverteidigung auf ein Minimum zurückstutzen wollen: Die Armee soll sich in Zukunft auf die Luftverteidigung konzentrieren, dazu käme noch etwas Cyberabwehr, obschon dafür vor allem die Privatwirtschaft zuständig sein soll.

Eine Miniarmee folgt der Logik der Finanzpolitik

Die Idee lancierte Serge Gaillard, der ehemalige Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, bereits im vergangenen Sommer: in einem Expertenbericht, der Sparpotenzial beim Bund aufzeigen sollte. Er kritisiert die Ausrichtung der Armee auf «die gesamte Breite ihres Aufgabenspektrums» und scheint das Szenario «militärische Bedrohung aus der Distanz» zu favorisieren. Dafür braucht es mehr Patriot-Lenkwaffen, aber weniger Bodentruppen.

Gaillard bezieht sich in seinem Bericht auf verschiedene Varianten, die das VBS in der Armeebotschaft 2024 aufgezeigt hatte. Bundesrat und Parlament genehmigten eine Mischvariante mit der Etikette «eskalierender Konflikt». Ein zu einseitiges Profil würde zum Abbau von Fähigkeiten führen. Zudem soll zuerst die bestehende Armee wieder vollständig ausgerüstet und modernisiert werden.

Die Idee einer Miniarmee basiert auf dem Glauben an einen Schutzgürtel, den die Nato und die EU auf ewige Zeit um die Schweiz herum bilden. Russische Panzer an der Landesgrenze werden in Bern als Bedrohung praktisch ausgeschlossen. Allerdings glaubte auch kaum jemand an einen konventionellen Krieg in Europa, bis Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte.

Zwei divergierende Tendenzen

Zu einer realistischen Beurteilung der Lage gehört deshalb auch, das Undenkbare zu denken. Der hehre Vorsatz scheitert aber regelmässig an einer kurzfristigen Budgetlogik. Weil Gaillards Spar-Armee weniger kostet, würde sie die Politik kurzfristig weniger schmerzen als eine konsequente Aufrüstung für die gefährlichste Lageentwicklung: den Zerfall der geltenden Ordnung, der Nato und der EU.

Tatsächlich hat das europäische System in den vergangenen Jahren Risse bekommen. Die Spaltung der Gesellschaft schreitet voran, die nationalistischen Parteien schüren eine grundsätzliche EU-Skepsis, der hybride Krieg Russlands gegen die liberalen Demokratien hat das Vertrauen in die Institutionen erheblich beschädigt. Doch die Unsicherheit in den USA unter Trump erschwert die Prognosen.

Ein Koordinatensystem, das die Staatsform gegen die aussenpolitische Ausrichtung abbildet, vermag die politischen Beobachtungen zu ordnen – und bestätigt den Eindruck einer Erosion Europas:

  • Staatsform: Demokratische Rechtsstaaten mit einem kooperativen Ansatz stehen autoritären Staatswesen mit imperialer Ausrichtung gegenüber. Bisher ging die Nato von einem Konflikt zwischen dem Westen und den eurasischen Autokratien aus: China mit dem Juniorpartner Russland, dazu Iran und Nordkorea. Doch zum jetzigen Zeitpunkt stellt sich die Frage, in welche Richtung sich die westliche Schutzmacht USA entwickelt. Trump regiert mit seinen Executive Orders autoritär, seine Rhetorik wirkt zuweilen imperial – etwa mit seinen Aussagen zu Panama, Kanada oder Grönland.
  • Sicherheitspolitische Stossrichtung: Unter Resilienz wird die Entschlossenheit verstanden, die eigene Freiheit und Souveränität mit allen Mitteln zu behaupten. Alternativ könnte auch der Begriff «Wehrwille» verwendet werden. Als Gegensatz zu einer resilienten Sicherheitspolitik steht der Weg des Appeasements. Bei genauer Betrachtung geht es dabei aber in den meisten Fällen nicht um einen gerechten Frieden unter Einbezug der Ukraine, sondern um ein Arrangement mit der Machtpolitik, zuweilen kombiniert mit eigenen machtpolitischen Ambitionen.

Gemessen an diesen Kriterien sind in Europa zwei divergierende Tendenzen zu erkennen. Zum einen kristallisiert sich rund um die Ostsee eine liberale Koalition der Resilienz heraus, die energisch aufrüstet und auch gegenüber dem russischen Neoimperialismus keine Kompromisse machen will. So wären Polen, die skandinavischen Länder, die baltischen Staaten und auch Grossbritannien unter Umständen bereit, die Ukraine ohne die USA zu unterstützen.

Zum andern scheint sich in Mittel- und Südosteuropa die Schaukelpolitik zwischen den eurasischen Autokratien und den westlichen Bündnissen durchzusetzen. Damit versuchen sich die illiberalen Demokratien in der multipolaren Weltordnung günstig zu positionieren: Ungarn ist zwar EU- und Nato-Mitglied, pflegt aber beste Beziehungen nach Moskau und China, Serbien nennt sich neutral, liefert aber Waffen an die Ukraine, und die Türkei sperrt als Nato-Land den Bosporus für russische Kriegsschiffe, beteiligt sich aber nicht an den Sanktionen gegen Russland.

Szenarien nach Gefährlichkeit für die Schweiz

Die grossen Nachbarstaaten der Schweiz halten äusserlich an ihren aussen- und sicherheitspolitischen Konzepten fest. Im Innern sind drei von vier Nachbarn allerdings zutiefst gespalten. Eine stabile Regierung hat nur Italien. Frankreich hangelt sich von Krise zu Krise und ist hoch verschuldet. Deutschland fürchtet sich kurz vor den Wahlen vor sich selbst und vor dem Aufstieg der AfD.

Am kritischsten ist die Lage in Österreich, insbesondere nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche: Herbert Kickl spricht offen von einer Orbanisierung des Landes, falls er irgendwann an die Macht kommt. Zudem flirtet er je nach Publikum mehr oder weniger heftig mit dem Öxit, einem österreichischen Austritt aus der EU.

Falls sich in den nächsten Jahren auch in Paris und Berlin ein nationalistischer Kurs durchsetzt, ist die Einheit der EU und der Nato in Gefahr. Einen wesentlichen Einfluss hat auch der Ausgang des Ukraine-Kriegs. Ein fauler Friede ohne Sicherheitsgarantie könnte Russland bestärken, auch ein Nato-Land anzugreifen.

Ein wesentlicher Faktor ist auch die geopolitische und wirtschaftliche Rivalität zwischen den USA und China. Die Amerikaner wollen spätestens ab 2027 einen Grossteil ihrer Streitkräfte im Pazifik konzentrieren, um dem wachsenden Machtanspruch Pekings zu begegnen. Europa fehlt das militärische Potenzial zur konventionellen Abschreckung gegen Russland noch, was die Bedrohung erhöht.

Denkbar sind drei grundsätzlich unterschiedliche Szenarien:

  1. Stagnation: Der Handelskrieg der Trump-Administration könnte das Interesse Chinas an einem prosperierenden EU-Binnenmarkt erhöhen. Deshalb geht der günstigste Fall davon aus, dass die chinesische Führung den Kreml von einer Fortsetzung seiner Offensive gegen die europäischen Demokratien abhält. Europa liefe aber Gefahr, in die Abhängigkeit Pekings zu geraten. Die Idee des Westens verschwände wohl endgültig.
  2. Konfrontation: Der Kreml provoziert in der Ostsee bereits heute Sabotageakte auf kritische Infrastrukturen. Daraus könnte sich ein direkter Konflikt zwischen der Nato und Russland entwickeln. Eine andere Möglichkeit ist die Eskalation eines hybriden Angriffs russischer Gruppen auf einen baltischen Staat. Falls es zu einem Nato-Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags kommt, befinden sich drei Nachbarländer der Schweiz – Deutschland, Frankreich und Italien – im Krieg.
  3. Fragmentierung: Dieses Szenario geht davon aus, dass die Sicherheitsordnung in Europa so weit erodiert, dass sie keine Schutzwirkung für die Schweiz mehr hat. Eine solche Entwicklung wäre lange kaum von einer Stagnation der Lage zu unterscheiden, könnte aber zu einer raschen Eskalation führen. Besonders gefährlich wären ein schwaches Deutschland ohne Westbindung und ein Frankreich, das im politischen Chaos versinkt. Der schlimmste Fall wäre ein zwischenstaatlicher Konflikt zweier extremer Regierungen in den Nachbarländern der Schweiz.

Besonders unangenehm wäre auch eine Mischform der Fragmentierung und der Konfrontation: Während der Konflikt Russlands mit der Ostsee-Koalition schleichend eskaliert, könnten die Schaukelstaaten Ungarn und Österreich die EU weitgehend blockieren. Möglich wären gemeinsame Manöver mit Russland. Plötzlich wären die russischen Panzer in unmittelbarer Nähe der Schweizer Grenze.

Strategisches Pflichtprogramm für den künftigen VBS-Chef

Die Erosion Europas kristallisiert sich in der Analyse als das bestimmende Szenario heraus. Die Konsequenzen wären einschneidend: Verschwindet der Schutzgürtel der Nato und der EU, wäre die Schweiz auf sich allein gestellt, um die Bevölkerung zu schützen und die Souveränität zu verteidigen.

Die Auseinandersetzung mit der Bedrohung und den sicherheitspolitischen Möglichkeiten wäre deshalb auch Pflichtstoff für die Hearings der Parteien vor den Bundesratswahlen. Wie steht der neue VBS-Chef zum Risiko von Gaillards Miniarmee, die dieser in seinem Bericht skizziert hat? Wie würde er den verschiedenen Szenarien begegnen? Wie viel kostet die bewaffnete Neutralität tatsächlich?

Eine fortschreitende Erosion Europas könnte die Schweiz dazu zwingen, wesentlich mehr zu investieren als bisher: in eine Armee, die einem Gegner von einem Angriff auf die Schweiz auch ohne fremde Hilfe «abraten» kann («souveräne Dissuasion»). Die wirkliche Herausforderung im VBS geht vor lauter Wahl-Telenovela unter: die Sicherheitspolitik in rauen Zeiten.

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