Mittwoch, Januar 15

In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Partner oder einem Familienmitglied getötet. Vermehrt bezeichnet man das als «Femizid». Dabei ist gar nicht so klar, was damit gemeint ist.

Der Mann steht vor der Tür zur Wohnung seiner ehemaligen Partnerin in Zürich Altstetten. Er ist mit einem Messer bewaffnet, wartet, bis die Frau nach Hause kommt. Als sie eintrifft, sticht er zehnmal auf sie ein. Sie stirbt.

Es ist der 13. Oktober 2021. Zu jenem Zeitpunkt ist bekannt: Das Paar lebte getrennt, die Frau hatte die Scheidung eingereicht. Noch am selben Abend steht auf einem Online-Portal: «Femizid im Kreis 9».

Die Uno-Organisation für Frauen definiert den Begriff «Femizid» als vorsätzliche Tötung mit einem geschlechtsspezifischen Motiv. Es geht um Männer, die Frauen töten, weil sie traditionelle Rollenbilder missachten. Es geht um ungleiche Machtverhältnisse oder soziale Normen der Männlichkeit. Und um Frauen, die getötet werden, weil sie Frauen sind.

Der Begriff «Femizid» ist weit verbreitet, doch nicht alle verstehen darunter dasselbe. Auf der Schweizer Website «Stop Femizid» wird jede Tötung einer Frau als Femizid gezählt. Eine einheitliche Definition fehlt und deshalb auch unabhängige Statistiken. In der Schweiz ist meist von häuslicher Gewalt die Rede, von einem Tötungsdelikt innerhalb der Partnerschaft. Im Schweizer Strafgesetzbuch fehlt der Begriff «Femizid», auch vom Bund wird er nicht offiziell verwendet.

Und doch fällt das Wort «Femizid» nach Tötungsdelikten an Frauen immer öfter, in feministischen Kreisen oder in Medien. Wie kommt das? Und wem hilft es, wenn die Tötung einer Frau eine eigene Bezeichnung bekommt?

Der Effekt des Frauenstreiks

Dass eine Frau von einem Mann getötet wird, nachdem sie sich von ihm getrennt hat, kommt in der Schweiz oft vor. Im Schnitt stirbt alle zwei Wochen eine Frau durch Gewalt innerhalb der Familie oder der Partnerschaft. Die Zahl ist seit Jahren unverändert hoch. Was sich hingegen verändert: wie die Öffentlichkeit mit der Tötung von Frauen umgeht – und wie die Tat bezeichnet wird. Der Fall Altstetten steht stellvertretend dafür.

Gewalt gegen Frauen, bis zum Tod: ein ungelöstes Problem

Opfer von vollendeten Tötungsdelikten im Kontext häuslicher Gewalt, nach Geschlecht

Minderjährige (Mädchen und Jungen)

Noch vor ein paar Jahren schrieben Medien von einem «Beziehungs- oder Familiendrama», wenn ein Mann seine Partnerin getötet hatte. Sie stellten Fragen wie: «Hat sie ihn etwa eifersüchtig gemacht?» Und verharmlosten damit die Tat. Noch bis vor zehn Jahren wurde der Begriff «Femizid» in keinem einzigen deutschsprachigen Medium verwendet. Später wurde das Wort vereinzelt gebraucht. Dann kam der Frauenstreik 2019.

Die Medien begannen, vermehrt – und anders – über die Gewalt an Frauen zu berichten. Der Begriff «Femizid» erschien 2019 in 167 Artikeln. Letztes Jahr wurde er von Deutschschweizer Medien über 600 Mal verwendet.

«Femizid» hat sich in der Gesellschaft etabliert – und zwar als Synonym für jede Art von Tötung einer Frau. Linke Aktivistinnen und Politikerinnen fordern nun, dass auch Behörden von Femiziden sprechen sollen. Und dass der Begriff im Strafgesetz eingeführt wird.

Ein Begriff wirkt auf die Rechtsprechung ein

Der Fall von Altstetten wird im Oktober 2023 vor dem Bezirksgericht Zürich verhandelt. Der Mann wird zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Wort «Femizid» fällt kein einziges Mal. Die Staatsanwaltschaft spricht von einer «rachsüchtigen Abrechnung und Bestrafung», weil die Frau nach der Trennung eine neue Beziehung geführt habe. Der Beschuldigte habe seine Frau getötet, weil sie sich als Ehefrau und Mutter nicht nach seinen Wertvorstellungen verhalten habe.

Der Begriff des Femizids hat in einem Fall wie Altstetten keine rechtliche Relevanz. Und doch fliesst das Rollenverständnis des Täters in das Urteil ein. Es führt dazu, dass der Mann für Mord verurteilt wird statt für vorsätzliche Tötung.

Die Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Tötungsdelikten. Sie sagt, Gerichte verurteilten die Täter bei Delikten innerhalb einer Partnerschaft in 30 Prozent der Fälle zu Mord statt vorsätzlicher Tötung. Doch: «Als juristischer Begriff ist ‹Femizid› noch unbrauchbar.» Der Begriff, wie er heute verwendet werde, sei zu schwammig.

Wenn Männer Frauen töten

Beschuldigte und Opfer von vollendeten Tötungsdelikten im Kontext häuslicher Gewalt 2009–2022, nach Geschlecht

Dennoch beeinflusst die gesellschaftliche Debatte um den Begriff die Gerichte. So hat das Schweizer Bundesgericht den Begriff zweimal in einer Urteilsbegründung verwendet, ohne ihn näher zu definieren. Das Gericht schrieb zum Motiv des Täters, dass sich der Mann in seiner Ehre verletzt gefühlt habe, weil die Frau sich nicht nach seinem Rollenverständnis verhalten habe. Dazu stand in Klammern: «Femizid».

Einfluss aus Südamerika

Das Wort «Femizid» wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in England gebraucht. Damals wurde es in einem Rechtslexikon pauschal als «die Tötung einer Frau» definiert.

Erst in den 1970er Jahren wurde der Begriff von Feministinnen neu gedeutet, darunter von der Soziologin Diana E. H. Russell. Ein Femizid, so Russell, ist die Tötung einer Frau durch einen Mann, der Frauen hasst.

Lange beschäftigte sich jedoch nur die Forschung mit dem Femizid. Doch dann fällte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 ein wegweisendes Urteil. Drei Frauen waren in Mexiko von Männern entführt, vergewaltigt und getötet worden. Im Urteil erwähnt der Gerichtshof erstmals, dass die Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem darstelle. Das Wort «Femizid» fiel nicht. Ein Wendepunkt war das Urteil trotzdem.

Vierzehn lateinamerikanische Staaten führten danach Gesetzesartikel zur Kriminalisierung von Femiziden ein. Doch sie unterscheiden sich. Die einen Staaten verstehen darunter die Tötung von Partnerinnen, andere die Tötung irgendeiner Frau aufgrund ihres Geschlechts. Lateinamerika war damals ein Sonderfall. Später kamen Länder wie Spanien, Belgien oder Kanada mit vergleichbaren Strafnormen dazu.

2015 wird in Argentinien ein 14-jähriges, schwangeres Mädchen von seinem Freund zu Tode geprügelt. Es kommt zum Aufstand der Frauen, Zehntausende gehen auf die Strasse und fordern wirkungsvollere Massnahmen gegen Femizide. Die Bewegung nennt sich «Ni una menos» – «Nicht eine weniger». Sie wächst und wächst und schwappt nach Europa über.

Auch in der Schweiz wollen Aktivistinnen das Phänomen der Tötungen von Frauen durch Männer sichtbarer machen. Unter ihnen ist Sim Eggler. Eggler befasst sich seit 15 Jahren mit Gewalt an Frauen und arbeitete unter anderem für die feministische Organisation Brava. Töte ein Mann eine Frau, gehe das zwar als Tötungsdelikt in die Kriminalstatistik ein, sagt Eggler. Aber Femizide von anderen Tötungen zu differenzieren, sei wichtig. Nur wenn das geschlechtsbezogene Motiv hinter der Tat beachtet werde, sei es möglich, wirkungsvolle präventive Massnahmen zu beschliessen.

Doch die Sache ist kompliziert. Der Begriff «Femizid» ist längst politisch aufgeladen und aktivistisch geprägt.

Deshalb scheuten sich viele Regierungsmitglieder davor, von Femiziden zu sprechen, sagt Sim Eggler. «Dabei wäre das für die Sichtbarkeit der Gewalt an Frauen wichtig.» Es gebe keinen alternativen Begriff, der dasselbe Phänomen benennen könne. Sim Eggler spricht von einem Femizid, wenn das vom Täter angenommene Geschlecht des Opfers bei der Tat eine Rolle spielt. Das sei bei Taten im familiären Kontext so, aber auch im Falle von Gewalt an Sexarbeiterinnen oder bei Stalking. Anders sei das, wenn eine Frau bei einem Raub an einer Tankstelle getötet werde.

Vielleicht gibt es doch bald eine Definition

Aber wer soll beurteilen, ob bei einem Tötungsdelikt geschlechtsbezogene Gewalt eine Rolle spielt? Und aufgrund welcher Kriterien?

Im Fall Altstetten schrieb die Website «Stop Femizid» einen Tag nach der Tat auf der Plattform X: «Zweiundzwanzigster Femizid in der Schweiz 2021. Gestern Abend, am 13. Oktober, ermordet ein 46-jähriger Mann in Altstetten ZH mutmasslich seine Ehefrau. Sie wurde 30 Jahre alt.» Doch: Über das Motiv des Täters konnte zu diesem Zeitpunkt nur spekuliert werden.

Auch die Medien gehen mit dem Begriff «Femizid» unterschiedlich um. SRF sendete im Oktober 2023 einen Beitrag über «unbeachtete Femizide an Frauen über 70». Die meisten von diesen Frauen, so heisst es im Bericht, würden von ihren Partnern getötet, weil sie an unheilbaren Krankheiten litten. Unter einer Grafik steht bei SRF hingegen: «Ein Femizid ist die Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts.»

Das Nachrichtenportal «20 Minuten» hat im Juli 2021 einen Artikel dazu veröffentlicht, wie die Redaktion den Begriff verwendet. Bei der NZZ und anderen Medien gibt es keine einheitliche Regelung, wann der Begriff verwendet wird – und wann nicht.

Der Fall von Altstetten zeigt, dass der Begriff in der Schweizer Öffentlichkeit angekommen ist. Die Medien schreiben von einem Femizid, ebenso Gerichte in Urteilsbegründungen, Aktivistinnen zählen die Fälle. Eine einheitliche Definition fehlt zwar, auch offizielle Statistiken gibt es nicht. Doch der Begriff beschreibt ein strukturelles Problem, für das es vorher keinen Namen gab.

Und nun tut sich auch bei den Behörden etwas. Das Bundesamt für Statistik hat ein Projekt initiiert, um die Tathintergründe von versuchten und vollendeten Tötungsdelikten zwischen 2019 und 2023 besser zu verstehen. Die Erkenntnis könnte helfen, bessere Massnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu ermitteln. Und vielleicht lassen sich dann auch Kriterien finden, um den Begriff «Femizid» für die Schweiz zu definieren.

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