Mittwoch, Dezember 4

Deutschland, Dezember 1974: Die Gefangenen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) kämpfen mit einem Hungerstreik gegen angeblich unmenschliche Haftbedingungen. Mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre.

Es war Ulrike Meinhofs Idee. Im Oktober 1974 schrieb die RAF-Terroristin einen Brief an Jean-Paul Sartre und bat ihn um einen Gefallen. Der linke Philosoph und Schriftsteller war eine Ikone der revolutionären Marxisten, meldete sich in der Öffentlichkeit immer wieder mit ebenso kämpferischen wie unbedachten Statements zu Wort und galt dennoch bis in bürgerliche Kreise als etabliert. 1964 hatte ihm die Schwedische Akademie den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Er hatte abgelehnt. Weil er nicht von einer konservativen Institution vereinnahmt werden wolle, sagte er.

Der Ruhm des Nobelpreisträgers haftete ihm trotzdem an. Wenigstens bei der Linken, die die Ablehnung der Auszeichnung nicht als Akt politisch verblendeter Arroganz, sondern als Revolte gegen das Establishment verbuchte. Sartre war neunundsechzig Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen. Zunächst hatte die Führung der Rote-Armee-Fraktion (RAF) erwogen, den Regisseur Jean-Luc Godard oder den Schriftsteller Alberto Moravia als Botschafter ihrer Forderungen zu wählen. Schliesslich fiel die Wahl auf Sartre.

Er, fand Meinhof, sei der Richtige für die Aufgabe, die man für ihn habe: Ein Interview mit Andreas Baader sollte er führen. Mit Deutschlands berüchtigtstem Gefangenen, der wegen mehrfachen Mordes angeklagt war und mit der Führungsriege der Baader-Meinhof-Gruppe im Hochsicherheitstrakt der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim einsass.

«Verwesung bei lebendigem Leibe»

Baader, Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und ihre Gesinnungsgenossen warteten auf den Prozess. Sie sollten sich für die Bombenanschläge und Morde verantworten, die sie ab 1970 in ganz Deutschland verübt hatten. Sie wollten Aufmerksamkeit. Seit September befanden sich die Gefangenen im Hungerstreik, bereits zum dritten Mal. Um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Die Anwälte der RAF setzten die Schlagworte «Isolationsfolter» und «Vernichtungshaft» in die Welt. Gudrun Ensslins Verteidiger, der spätere grüne Bundesminister Otto Schily, sprach von «Verwesung bei lebendigem Leibe».

Mit den Tatsachen hatte das nicht viel zu tun. Die Gefangenen befanden sich in Untersuchungshaft, es galten strenge Sicherheitsvorschriften. Aber sie hatten Briefkontakte, hörten Radio, hatten Fernseher und Zugang zu Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Ihnen standen Schreibmaschinen zur Verfügung, sie empfingen Anwälte und Verwandte und konnten regelmässig Mitgefangene besuchen. In Stuttgart-Stammheim herrschten bessere Verhältnisse als in anderen Haftanstalten.

Im politischen Kampf war der Begriff «Isolationsfolter» allerdings eine scharfe Waffe. Und der Hungerstreik ein perfektes Propagandainstrument. In ganz Deutschland fanden Demonstrationen für die inhaftierten Terroristen statt. Knapp einen Monat vor Sartres Besuch war das RAF-Mitglied Holger Meins an den Folgen des Hungerstreiks im Gefängnis gestorben. Seine Beerdigung wurde zur Protestkundgebung. Sympathisanten skandierten «Nieder mit den Mördern von Meins» und verklärten den Toten zum Märtyrer des «repressiven Systems». Einen Tag nach Meins’ Tod wurde der Präsident des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann, von einem RAF-Kommando erschossen.

«Der Schutz Deines Namens»

Die RAF wollte, dass sich Jean-Paul Sartre öffentlichkeitswirksam mit ihr solidarisiert. Er sollte als Kronzeuge bestätigen, dass die Gefangenen unter Bedingungen lebten, die nicht zumutbar waren. Die Voraussetzungen dafür waren gut. Nach den ersten Anschlägen hatte Sartre die Baader-Meinhof-Gruppe als «interessante Kraft» bezeichnet und sich gewundert, weshalb man sich in Deutschland so gegen Leute empöre, die sie unterstützten. Bei der RAF ortete Sartre «die Energie, den Geist der Initiative und den Sinn für die Revolution».

Eine lange Stunde

Am 4. Dezember, morgens um halb zehn, landete Sartre auf dem Stuttgarter Flughafen. Er wurde von einem Tross von Journalisten aus ganz Europa empfangen und nach Stammheim gefahren. Begleitet von Fotografen und Kamerateams. Die Anwälte hatten gute Arbeit geleistet und die Medien mobilisiert. Die Inszenierung sollte perfekt werden.

Sartre konnte als Verbündeter gelten. Er müsse ihnen jetzt im Kampf gegen die «Vernichtung» beistehen, schrieb Ulrike Meinhof nach Paris: als Marxist, Philosoph, Journalist und Moralist. Denn die «Bullen» planten, Baader zu ermorden: «Was wir von Dir wollen, ist, dass Du uns den Schutz Deines Namens gibst.» Die RAF erwarte auch, schrieb Meinhof weiter, dass Sartre verwertbares Material «für die Praxis des antiimperialistischen Kampfs» der RAF liefere. Dazu war er gern bereit und bemühte sich mit Vermittlung von Baaders Anwalt Klaus Croissant um eine Besuchsbewilligung.

Das war nicht ganz einfach. Sartre war weder Anwalt noch mit den Häftlingen verwandt. Laut Strafprozessordnung war sein Gesuch gar nicht genehmigungsfähig. Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der später selbst Opfer eines Mordanschlags der RAF wurde, sperrte sich gegen eine Erlaubnis. Schliesslich werde Sartre für die kriminellen Ziele der Baader-Meinhof-Gruppe eingespannt. Das erfülle den Tatbestand der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Zudem, fügte Buback hinzu, bestehe die Gefahr, dass der Philosoph als Geisel genommen werden könnte. Das Oberlandesgericht Stuttgart wischte die Einwände vom Tisch, Sicherheitsbedenken hatte es keine. Die Erlaubnis wurde erteilt.

Was sich hinter den Mauern von Stuttgart-Stammheim abspielte, war lange geheim. Erst vierzig Jahre später gab das Bundesamt für Verfassungsschutz das Protokoll frei, in dem das Landeskriminalamt Baden-Württemberg das Treffen festgehalten hatte. Ein zehnseitiges Papier, das ergänzt wird durch vier maschinengeschriebene A-4-Seiten, auf denen sich Andreas Baader vor dem Besuch Notizen gemacht hatte: gestanzte Formeln im kruden klassenkämpferischen Jargon der RAF: Da war vom Krieg gegen den Imperialismus die Rede, von der Aufgabe der Stadtguerilla, der historischen Bedeutung des bewaffneten Kampfs und davon, wie sich die reaktionäre Mobilisierung der Massen in eine revolutionäre Mobilisierung verwandeln lasse.

Das Gespräch fand in einer Besuchszelle der Vollzugsanstalt statt, dauerte eine Stunde und verlief zäh. Baader sprach kein Französisch, Sartre kein Deutsch. Allein die Übersetzung durch den amtlichen Dolmetscher nahm viel Zeit in Anspruch. Aber anscheinend hatte man sich auch nicht viel zu sagen. Die Atmosphäre war kühl. Wenige Tage vorher hatte Sartre in einem Interview die Ermordung von Günter von Drenkmann als Verbrechen bezeichnet. Das war zu viel für Baader. Er habe erwartet, dass ein Freund komme, begrüsste er Sartre. Doch nun komme ein Richter.

«Er soll Fragen stellen!»

Dann verlas er die vorbereitete Verlautbarung. Wortwörtlich. Wenn Sartre einen Satz nicht verstand, wiederholte er ihn. «Als er Satzteile erläutern sollte, hatte er sichtlich Schwierigkeiten», hält das Protokoll fest. Sartre brachte Einwände vor. In aller Zurückhaltung. Die RAF habe «Aktionen» unternommen, «mit denen das Volk nicht einverstanden war», sagte er. Anschläge seien zwar richtig. In Ländern wie Guatemala, aber nicht in der Bundesrepublik. Baader ging nicht darauf ein. «Fragen», sagte er mehrmals: «Er soll Fragen stellen!» Die Fragen, die sich Baader wünschte, stellte Sartre nicht.

Nach dem Gespräch gab Sartre eine Pressekonferenz. Standesgemäss im Hotel «Graf Zeppelin» beim Stuttgarter Bahnhof. Über hundertfünfzig Journalisten waren da, Daniel Cohn-Bendit, damals ein führender Kopf der linksautonomen Szene, übersetzte die Statements des Philosophen. Inhaltlich distanzierte sich Sartre von der RAF. Ein bisschen wenigstens, halbherzig. Natürlich verfolge sie die richtigen Ziele, sagte er. Aber so, wie sie es tue, schade sie der Linken. Dass Gewalt notwendig war, wenn es darum ging, die Menschen zu befreien, stand für Sartre freilich ausser Frage. Die Frage war nur, ob die Zeit dafür schon reif sei.

Schwere Vorwürfe erhob Sartre gegen die deutsche Justiz: «Baader und die anderen», sagte er, «leben in einer weissen Zelle. In dieser Zelle hören sie nichts ausser dreimal am Tag die Schritte der Wächter, die das Essen bringen.» Tag und Nacht brenne das Licht. Es sei keine Folter wie bei den Nazis, resümierte er, aber es sei Folter. Eine Folter, die psychische Störungen hervorrufen solle.

«Der Eindruck von Alter»

Ein Journalist fragte nach: Ob er die Zellen gesehen habe? Nein, musste Sartre einräumen. Weder die angebliche Isolation noch die schalldichten Räume hatte er gesehen. Über den Besucherraum war er nicht hinausgekommen. Was er schilderte, hatte Sartre gelesen. In einem Artikel der Zeitschrift «Les Temps Modernes», den Baaders Anwalt Klaus Croissant verfasst hatte.

Zwei Tage lang waren die Medien voll von Berichten über Sartres Besuch. Für die RAF war das Ganze allerdings ein Fiasko. Von «Schmierentheater» war in den Zeitungen die Rede, der Auftritt wurde als verfehlte Propagandatour eines altersschwachen Mannes kommentiert, der mit haltlosen Behauptungen um sich geworfen habe. Eine Farce. «Sein messerscharfer Verstand ist schartig geworden», kommentierte die «Welt» den peinlichen Auftritt und resümierte: «Das Alter ist gemein, besonders zu denen, die sich in die blutigen Träume der Jugend vergaffen.»

Andreas Baader war enttäuscht. In einem Bericht an die Mitgefangenen schrieb er, das Gespräch sei misslungen. Über die Haftbedingungen habe man gar nicht gesprochen, der Dolmetscher sei ein Idiot gewesen. Er wisse nicht, was Sartre verstanden habe. Und ob er überhaupt etwas verstanden habe. An ihm habe es allerdings nicht gelegen: «Was mich betrifft», schrieb er, «war das Ganze so präzise und gezielt und bewusst wie möglich – was ihn angeht, hatte ich den Eindruck von Alter . . .»

Die Enttäuschung war gegenseitig. «Was für ein Arschloch, dieser Baader», soll Sartre gesagt haben, als er das Gefängnis verliess. So erzählte es Daniel Cohn-Bendit später. Immerhin, nach der Rückkehr nach Frankreich publizierte er in der «Libération» einen anklagenden Text mit dem Titel «Der langsame Tod des Andreas Baader». Zwei Monate später entführte ein RAF-Kommando den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz, um die Freilassung von Gefangenen zu erpressen. Die grosse Offensive der RAF begann.

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