Eine neurologische Studie hat bewiesen, dass das Original das Gehirn bis zu zehnmal stärker stimuliert als seine Kopie. Was aber macht die Magie echter Kunst aus?
Niemand bezweifelt, dass ein originales Kunstwerk weit interessanter ist als eine blosse Kopie. «Wir alle spüren den Unterschied – aber ist er messbar, ist er real?», fragte sich jüngst die Direktorin des Mauritshuis-Museums in Den Haag. Und ging der Sache mit einer neurologischen Studie auf den Grund. Sie wollte eine fundierte Bestätigung ihrer Überzeugung – und erhielt diese auch.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse zeigen, dass echte Kunstwerke das Gehirn bis zu zehnmal stärker stimulieren als das Betrachten eines Posters. Vor den Originalen im Museum werde eine starke positive Reaktion im Precuneus hervorgerufen – einem Teil des Gehirns, der mit Bewusstsein, Selbstreflexion und persönlichen Erinnerungen zu tun hat –, erklärten die Forscher, die die Studie durchführten.
Dabei wurden im Auftrag des Mauritshuis zwanzig Probanden im Alter zwischen 21 und 65 Jahren an einen Elektroenzephalogramm-Scanner und ein Eye-Tracking-Gerät angeschlossen. Sie sollten Gemälde im Museum und deren Nachdrucke im Museumsshop anschauen, darunter auch Jan Vermeers «Mädchen mit dem Perlenohrring», eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte.
Bei diesem Gemälde konnte die Untersuchung die höchste Hirnstimulation feststellen. Das hängt offenbar mit den Eigenschaften der Komposition zusammen – einem Aufmerksamkeitsdreieck, das den Blick der Betrachter regelrecht in seinen Bann schlägt. Vom Maler wohl mit Absicht so komponiert, treten drei Bereiche im Gemälde durch ihren Glanz besonders hervor. Zuerst falle der Blick auf die Augen der Dargestellten, die sich direkt auf den Betrachter richten, dann auf den Mund und schliesslich auf die leuchtende Perle am Ohr. Daraufhin wiederhole sich der Vorgang unablässig. Das konnte mit dem Augen-Tracking-Gerät festgestellt werden.
Glaubenssache
Die wissenschaftliche Feststellung, dass ein Original so viel stimulierender wirkt als eine Kopie, ist allerdings erklärungsbedürftig. Der Vorzug eines echten Kunstwerks könnte im digitalen Zeitalter mit der Einmaligkeit und Einzigartigkeit desselben zusammenhängen. Heute können wir Abbildungen von berühmten Werken jederzeit und überall aufrufen und bis ins Detail betrachten. Keineswegs aber ist es immer möglich, vor dem Original selber zu stehen.
Walter Benjamin sprach von der Aura des Kunstwerks, das eben nur einmal existiere. 1935 umschrieb er in seinem Essay «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» das Phänomen als «das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet».
Zur Aura trägt demnach auch der spezielle Ort bei, an dem sich berühmte Werke wie etwa die Mona Lisa befinden. Leonardos Meisterwerk wird prominent im Zentrum eines grossen Saals des Pariser Louvre präsentiert: an einer schwarzen Wand, vor der eine Abschrankung die Besucher auf Distanz hält. Da geht es nicht nur um die Begegnung mit dem Gemälde selber, sondern auch um die Atmosphäre des Raums, um die Lichtführung, den goldenen Rahmen des Bildes oder um die physische Erfahrung der Dichte aufgrund des Besucherandrangs.
Nicht zuletzt aber dürfte der Zauber des grossen Künstlernamens eine erhebliche Rolle spielen. Das liess sich 2017 beobachten, als das Auktionshaus Christie’s in New York zu Werbezwecken einige der 30 000 Besucher der Vorbesichtigung des «Salvator Mundi» filmte. In Andacht erstarrt, verzückt und zu Tränen gerührt standen Menschen aller Schichten und Altersgruppen vor dem Werk, das angeblich von Leonardo stammen sollte und schliesslich für 450 Millionen Dollar versteigert wurde. Heute bestehen Zweifel an der Autorschaft des Bildes, das wahrscheinlich eine relativ unbedeutende Werkstattarbeit darstellt.
Wie stimulierend das Wissen um den Künstlernamen für die Seherfahrung ist, lässt sich zurzeit in einer Ausstellung in Winterthur feststellen. Dort hängt ein «Flower Painting», das man augenblicklich als ein Werk von Andy Warhol zu erkennen glaubt. Die Wirkung des vermeintlichen Originals ändert sich allerdings schlagartig, sobald man erfährt, dass das Bild nicht von Warhol stammt. Angefertigt hat es Elaine Sturtevant, eine Vertreterin der Appropriation-Art, bei der es darum geht, mit Kopien berühmter Bilder die Vorstellung vom originalen Kunstwerk zu hinterfragen.
Wunderkinder-Kunst
Die Ausstrahlungskraft eines Werks wird eben auch durch den Glauben daran gestärkt, dass es grosse Kunst sei. Wir sehen, was wir sehen wollen. Und erblicken manchmal Kunst, wo es gar keine zu sehen gibt. Das verdeutlicht der gegenwärtige Medienrummel um ein Wunderkind aus Bayern. Die Zeitungen berichten von einem Genie, und die britische «Times» verkündete: «Der Bierkrug-grosse Picasso verkauft seine Bilder für Tausende».
Der Knabe ist drei Jahre alt, malt, kritzelt und kleckst abstrakt in knalligen Acrylfarben und «signiert» seine Schöpfungen mit einem Handabdruck. Anders als die meisten Kinder in seinem Alter malt er die Leinwände bis in die Ecken aus. Und viele sehen darin grosse Kunst, wie Kommentare zu den millionenfach betrachteten Videos des malenden Knaben auf Instagram zeigen. Ein Kunstkritiker soll sogar einen Vergleich mit Gerhard Richter gezogen haben.
Die Geschichten um Wunderkinder beginnen alle gleich: Die Eltern wollen eine aussergewöhnliche Begabung entdeckt haben. Dann kümmern sie sich um die Vermarktung. Die kreativen Klecksereien lassen sich für Zehntausende Euro verkaufen. Für eines der Bilder soll ein Interessent über 300 000 Dollar geboten haben. Eine spanische Galerie stellte sogar ein paar der Werke auf einer Kunstmesse aus und sagt dem kleinen Maler eine grosse Karriere voraus.
Gewiss, die Bilder sind Originale. Sie sind auf ihre Weise auch originell. Aber ist das Kunst? Weiss der Dreijährige auch, was er da macht? Hat er eine Botschaft oder überhaupt eine Vorstellung von Kunst?
Das scheint in dem Fall nebensächlich zu sein. Was allein zählt, ist die Begeisterung des Publikums. Und diese steigert sich simultan mit den steigenden Preisen. Nicht zuletzt dürfte sich das auch in den Hirnströmen der Wunderkind-Bewunderer messen lassen. So findet dann der schiere Glaube an genuine Kunst letztlich seine eigene Bestätigung.