Ein Streifzug durch herrschaftliche Anwesen, die dem Volk gehören.
Er entstammt einer mächtigen Industriellenfamilie, er lebt in einer Villa mitten in einem prächtigen Park direkt am Ufer des Zürichsees, und als der Mann auf die achtzig zugeht, schreibt er einen bemerkenswerten Satz in sein Testament: Sein Wunsch sei es, «diesen einzigartig schönen Platz der Spekulation zu entziehen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen». Und genau so kommt es, als er stirbt.
Diese Anekdote rückt ein Zerrbild zurecht, das sich in der Debatte um den Seeuferweg in den Köpfen festgesetzt hat. Das Bild, wonach die Stadt Zürich für die erholungsbedürftige Bevölkerung ein Garten Eden ist, während es sich bei der Nachbargemeinde Kilchberg um eine Wüste am See handelt.
Es stimmt zwar: In kaum einer anderen Gemeinde werden Spaziergänger, die dem Seeufer folgen wollen, so konsequent hinter Mauern und Hecke verbannt wie in Kilchberg. In keiner anderen Gemeinde wären die Enteignungen für den Wegbau daher teurer geworden, mit geschätzten Kosten von über 100 Millionen Franken.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Nach der Abstimmung vom Sonntag kann sich die Bestandesaufnahme von der fixen Idee eines durchgehenden Uferwegs lösen, und es gerät ins Blickfeld, dass Kilchberg eine erstaunliche Dichte an öffentlichen Seezugängen aufweist. Alle paar Minuten öffnet sich ein unscheinbares Törchen von der Seestrasse zu einer Wiese oder einem Park. Für auswärtige Fernwanderer ist das uninteressant, für die lokale Bevölkerung ein Segen.
Eines der eindrücklichsten Grundstücke ist das ehemalige Anwesen von Eduard Steiner-Sulzer, jenem Mann, der sein Kilchberger Anwesen per Testament der Öffentlichkeit überlassen wollte. Als er im Herbst 1970 stirbt – laut Todesanzeige wohl kinderlos –, muss man in der Gemeinde nicht lange nachdenken. 90 Prozent der Stimmberechtigten beschliessen, das Anwesen mit der Villa im Chaletstil zum Vorzugspreis von einer Million Franken zu kaufen.
Kilchberg gelang es von Mitte der fünfziger- bis Mitte der siebziger Jahre unter dem freisinnigen Gemeindepräsidenten Bruno Herzer immer wieder, Grundstücke am See zu erstehen. Oft dank der Grosszügigkeit von Eigentümern, die sich ihrem Wohnort verbunden fühlten. Auch in anderen Ortschaften rund um den Zürichsee war dieses Muster vorab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtbar – in durch und durch bürgerlich regierten Gemeinden notabene.
Deshalb mag ein Uferweg zwar vielerorts fehlen, aber während eines Rundgangs um den See zählte die NZZ weit über hundert öffentlich zugängliche Plätze. Nicht eingerechnet jene rund zwanzig Badeanstalten, die nur gegen Bezahlung zugänglich sind. Die öffentlichen Anlagen reichen von kleinsten Plätzchen mit einer Sitzbank bis hin zu grosszügigen Parks.
Ein Blick über die Kantonsgrenze zeigt, dass dies nicht selbstverständlich ist: In Schwyz, Richtung Seedamm, lässt die Dichte an öffentlichen Anlagen merklich nach, im Sankt-Gallischen Richtung Rapperswil ebenfalls.
Ein Millionenhuber und ein Mathematikprofessor
Unangefochtenes Highlight ausserhalb der Stadt Zürich ist das Schloss Au bei Wädenswil, das heute der Pädagogischen Hochschule gehört. Auch hier war Mäzenatentum das Motiv. Die über 250 000 Quadratmeter weite Anlage, einst Sitz des Geldadels wie den Töchtern des IWC-Gründers Heinrich Moser, wurde 1989 von den letzten Eigentümern zum Vorzugspreis von 23 Millionen Franken dem Kanton überlassen. Die Erben der Familie von Schulthess Rechberg verzichteten auf einen Viertel des geschätzten Verkehrswerts, damit das Schloss der Bildung der Jugend zugutekomme.
Die deutlich kleinere, aber nicht weniger mondäne Parkanlage rund um die Fabrikantenvilla Seerose gleich hinter dem Bahnhof Horgen kam bereits Mitte der fünfziger Jahre in den Besitz der Öffentlichkeit. Gebaut worden war sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Jacques Huber, einem in den USA reich gewordenen Seidenhändler, der in seiner Heimatgemeinde als «Millionenhuber» bekannt war.
Horgen zahlte dafür 1954 aber keine Millionen, sondern nur 450 000 Franken – oder knapp 39 Franken pro Quadratmeter. Ein höheres Angebot hatte die Gemeinde acht Jahre zuvor noch ausgeschlagen. Es schien ihr überrissen.
Doppelt so viel wie die Horgner zahlten fast zeitgleich auf der gegenüberliegenden Seeseite die Küsnachter und Erlenbacher für ein ähnlich grosses Grundstück: das an der Gemeindegrenze liegende Kienastgut. Der betagte Mathematikprofessor Walter Kienast hatte den beiden Gemeinden den Vorzug vor anderen Interessenten gegeben – auch hier fehlten womöglich die direkten Erben, in der Todesanzeige steht später nichts von Kindern.
Die Behörden waren der Überzeugung, dass man diese Gelegenheit unbedingt nutzen solle, um die «prächtige Seeliegenschaft» für die Öffentlichkeit zu sichern. Sie täuschten sich nicht: Das Kienastgut, auch als Rösslipark bekannt, ist heute ein beliebter Spielplatz samt Badewiese.
Männedorf sicherte sich in den siebziger Jahren auf ähnlichem Weg von der lokalen Textilfabrikantenfamilie Staub die neugotische Villa Alma samt einem verwunschenen Park am See.
Stäfa gelangte kurz danach in den Besitz der Jugendstilvilla Sunneschy, auf deren ausladender Liegewiese die lokale Bevölkerung heute in lauen Sommernächten bis tief in die Nacht Grillfeste feiert. Hier hatte eine lokale Genossenschaft 25 Jahre zuvor Weitsicht bewiesen und das Anwesen gekauft, damit es nicht an Auswärtige ging.
Es fällt allerdings auf, dass seit den siebziger Jahren keine derart prominenten Grundstücke mehr hinzugekommen sind, während die Immobilienpreise explodierten. Sind Schenkungen und Landverkäufe an die Allgemeinheit ausser Mode gekommen?
Keineswegs, sagt Sascha Ullmann, der als GLP-Gemeindepräsident von Zollikon gegen den Seeuferweg gekämpft hat. Er verweist auf eine Wiese am Seeufer an der Grenze zur Stadt Zürich, die in der Erholungszone liegt. Die Gemeinde Zollikon konnte diese vor wenigen Jahren den SBB abkaufen, zu einem «fairen Preis», wie Ullmann sagt.
Zurzeit ist das Grundstück eine Grossbaustelle, weil im Untergrund eine Seewasserzentrale gebaut wird, die künftig die Zürcher Spitäler im Gesundheitscluster Lengg mit Wärme versorgt. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, soll es zu einer einladenden Badewiese aufgewertet werden.
Erbschaften und Angebote von privaten Grundeigentümern am Seeufer gab es zuletzt zwar nicht, aber passieren könne so etwas jederzeit, glaubt Ullmann.
Schliesslich macht sich unsterblich, wer der Öffentlichkeit ein Grundstück am Zürichsee hinterlässt. Eduard Steiner-Sulzer aus Kilchberg etwa wäre längst in Vergessenheit geraten, hätte er sein Anwesen 1970 nicht der Allgemeinheit vermacht. So aber lebt sein Name weiter. Denn noch heute ist im Ort jedem klar, wo er sich befindet, wenn er sich auf die zum See abfallende Wiese setzt und den Blick übers Wasser schweifen lässt: im Sulzergut.