Rebellen haben die wichtigste Stadt in Ostkongo eingenommen. Droht nun ein grosser Krieg?
Was ist in Kongo-Kinshasa passiert?
Die Rebellengruppe M23 hat am 26. Januar die Millionenstadt Goma angegriffen. Goma liegt an der Grenze zu Rwanda, zwischen Hügeln und Vulkanen und am Ufer des Kivusees, eines der grossen Seen Afrikas. Die Stadt ist eine wichtige Wirtschaftsdrehscheibe in Zentralafrika. Sie bot auch Hunderttausenden von Binnenvertriebenen in Ostkongo Zuflucht.
Die M23 kontrolliert inzwischen Goma. Ihre Invasion hat für die grösste Eskalation des Kongo-Konflikts seit über einem Jahrzehnt gesorgt. Seit Anfang Jahr sind laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mehr als 400 000 Menschen in Ostkongo neu vertrieben worden. Sie kommen zu den mehr als fünf Millionen bereits Vertriebenen hinzu. Beobachter befürchten, dass der Konflikt in der Region nach der Einnahme von Goma sich ausbreitet und zu einem regionalen Krieg wird.
Was ist die M23?
Die M23 ist 2012 entstanden, sie besetzte schon damals für kurze Zeit Goma. Sie wurde von Mitgliedern einer früheren Rebellenarmee gegründet, die in die kongolesischen Streitkräfte hätten integriert werden sollen. M23 steht für Mouvement du 23 Mars (Bewegung des 23. März) – dem Datum des entsprechenden Friedensabkommens (23. März 2009). Die M23-Kämpfer werfen der Armee vor, sich nicht an das Abkommen gehalten zu haben.
Die M23 zählt laut der Uno etwa 8000 Kämpfer. Sie gibt an, sich für die Rechte der Ethnie der Tutsi einzusetzen, die in Ostkongo diskriminiert würden. Die M23 ist weit schlagkräftiger als die vielen anderen Rebellengruppen in Ostkongo. Sie verfügt zum Beispiel über schwere Artillerie. Ihre Stärke verdankt die M23 wesentlich der finanziellen, logistischen und personellen Unterstützung durch Rwanda. Die Regierung des kleinen Nachbarlands nutzt die M23 als eine Stellvertreterarmee in Kongo-Kinshasa. Rwanda wirft der kongolesischen Regierung vor, gemeinsame Sache zu machen mit anderen Rebellen, die danach trachteten, die rwandische Regierung zu stürzen.
Worum geht es im Konflikt in Ostkongo?
Der Krieg im Osten des riesigen Landes nahm seinen Anfang nach dem Genozid in Rwanda 1994, bei dem fast eine Million Menschen ermordet wurden, die allermeisten aus der Volksgruppe der Tutsi. Hunderttausende Rwanderinnen und Rwander flohen damals über die Grenze nach Kongo-Kinshasa. Unter ihnen befanden sich auch viele Täter des Genozids, zumeist aus der Ethnie der Hutu.
Sie gruppierten sich auf kongolesischem Boden neu, mit dem Ziel, die rwandische Regierung zu stürzen. Rwanda unterstützte darauf Rebellen in Kongo, die ihrerseits die Hutu-Milizen bekämpften. Die Wirren führten zum Sturz des kongolesischen Diktators Mobutu Sese Seko und zu zwei Kriegen, die laut Schätzungen zwischen 1996 und 2003 sechs Millionen Menschen das Leben kosteten.
Frieden ist in Ostkongo seither nie eingekehrt. Über hundert Rebellengruppen treiben ihr Unwesen. Den meisten dienen politische Ziele nur als Vorwand. Krieg ist in Ostkongo zum Geschäft geworden – Geld lässt sich zum Beispiel mit dem Eintreiben von Wegzoll oder mit den Minen verdienen, in denen Gold und seltene Erden abgebaut werden.
Seit Ende 2021 hat sich der Konflikt wieder intensiviert, weil die lange fast verschwundene M23 eine neue Offensive begonnen hat. Diese gipfelt nun in der Einnahme von Goma. Analysten glauben, dass die M23 diesmal versuchen könnte, ein grosses Gebiet in Ostkongo längerfristig zu kontrollieren – und so faktisch mit Unterstützung Rwandas einen eigenen Staat zu betreiben.
Welche Interessen hat Rwanda?
Die Regierung von Präsident Paul Kagame, der seit dem Ende des Genozids der starke Mann in Rwanda ist, sagt, die Sicherheit Rwandas sei bedroht, weil die kongolesische Regierung Milizen in Ostkongo gewähren lasse, die seine Regierung stürzen wollten. Rwanda hat lange bestritten, die M23 zu unterstützen.
Doch weil die Beweislage eindeutig ist, unter anderem dank detaillierten Berichten einer Expertengruppe der Uno, hat Rwanda seine Rhetorik angepasst. Gegenüber der NZZ sagte eine Regierungssprecherin im Juli 2024: «Solange Kongo nicht deeskaliert, verteidigen wir uns auf jede Art, die die Sicherheit unserer Bürger garantiert.» Laut der Uno-Expertengruppe sollen bis zu 4000 rwandische Soldaten die M23 in Kongo unterstützen.
Tatsächlich geht es Rwanda um mehr als um Selbstverteidigung. Die Bedrohung durch die Rebellen ist weit geringer als früher. Rwanda hat eine der stärksten Armeen auf dem afrikanischen Kontinent. Viele Experten glauben, Rwanda gehe es in Ostkongo darum, seinen Einfluss auszuweiten und Geld mit dem Abbau von Mineralien zu verdienen. Ostkongo ist reich an Coltan, das für Smartphones benötigt wird, und Gold. Die M23 kontrolliert seit April letzten Jahres die weltgrösste Coltan-Mine. Die Ausfuhr von Coltan und Gold via Rwanda ist gut dokumentiert. Laut der Uno wurden im vergangenen Jahr mindestens 150 Tonnen Coltan via Rwanda auf den Weltmarkt geschmuggelt.
Weshalb sind die Vorgänge in Kongo-Kinshasa wichtig?
Die Einnahme von Goma könnte aus dem Konflikt in Kongo einen regionalen Krieg machen. In die ersten Kongo-Kriege ab 1996 waren fast ein Dutzend afrikanische Staaten verwickelt.
Der Angriff der M23 hat denn auch Regierungen aufgeschreckt, die die Vorgänge in Kongo-Kinshasa sonst höchstens als Hintergrundrauschen behandeln. Grossbritannien, Frankreich und die USA haben Rwandas Einmischung verurteilt. Deutschland hat Gespräche mit Rwanda über Entwicklungshilfe sistiert. Der Uno-Sicherheitsrat hat mehrere Sondersitzungen abgehalten und die Invasion Gomas in seltener Einmütigkeit verurteilt.
Als westliche Länder bei der ersten Einnahme von Goma durch die M23 2012 Druck auf Rwanda ausübten, knickten die Rebellen rasch ein und zogen sich nach weniger als zwei Wochen zurück. Ob dies diesmal wieder so sein wird, ist unsicher. Rwandas Regierung fühlt sich weit stärker als noch vor einem Jahrzehnt.
Das Land ist zu einem wichtigen Partner des Westens geworden: Rwanda stellt das zweitgrösste Kontingent für die Friedensmissionen der Uno. Es bekämpft islamistische Rebellen im Norden Moçambiques, wo der französische Energiekonzern Total ein milliardenschweres Gasprojekt verfolgt. Schliesslich bietet Rwanda europäischen Ländern an, im Rahmen sogenannter «Drittstaatenlösungen» Asylbewerber aufzunehmen und die Verfahren durchzuführen. Die Regierung könnte deshalb darauf spekulieren, dass der westliche Druck nicht lange anhalten wird.