Freitag, Oktober 18

Mit einer Zustimmung zu der Übereinkunft würde Israel ein grosses Risiko eingehen. Trotzdem könnten die Alternativen noch schlimmer sein. Eine Analyse.

Es war ein ausgeklügeltes Manöver von Joe Biden: Als er am Freitagabend israelischer Zeit in Washington vor die Kameras trat, begann in Israel der Schabbat. Der amerikanische Präsident konnte sich sicher sein, dass mindestens 24 Stunden vergehen würden, bis die nationalreligiösen Minister in der Regierung von Benjamin Netanyahu den von ihm präsentierten Plan ablehnten.

So wie von Biden befürchtet, kam es auch. Die rechtsextremen Regierungsmitglieder Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir drohten am Samstagabend mit dem Bruch der Koalition, falls Netanyahu dem Waffenstillstandsvorschlag zustimme. Doch bis sie sich nach dem Ende des Schabbats äussern konnten, nahm der innere und äussere Druck auf Netanyahu zu, die Waffenruhe zu akzeptieren.

Laut Medienberichten handelt es sich bei dem Vorschlag um einen israelischen Plan, dem das Kriegskabinett zugestimmt hat. Netanyahu wollte die Übereinkunft für einen Waffenstillstand aber unter der Decke halten. Mit nur wenigen Stunden Vorwarnung machte Biden den Vorschlag am Freitag öffentlich, um beide Seiten – Israel und die Hamas – zur Zustimmung zu bewegen. Am Montag räumte Netanyahu implizit ein, dass es sich um einen israelischen Plan handle. Doch Biden habe einige Details in seiner Rede unterschlagen.

Grob zusammengefasst, sieht der Plan einen sechswöchigen Waffenstillstand vor, während dessen Geiseln gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht würden. In einer zweiten Phase zöge sich Israel komplett aus dem Gazastreifen zurück, und in einer dritten würde der Wiederaufbau beginnen. Doch Biden erwähnte nicht, wer nach dem Abzug der Israeli die Kontrolle übernehmen sollte. Diese Unklarheit erklärt die zögerliche Haltung Netanyahus und auch einiger israelischer Sicherheitsexperten.

Keine Alternative zur Hamas

«Ich glaube nicht, dass Israel dem Abkommen zustimmen sollte. Es widerspricht den israelischen Interessen, da es keinerlei Alternativen zu einer Hamas-Regierung in Gaza enthält», sagt Eitan Shamir, der Chef des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien. «Aber ich glaube auch, dass Israel leider keine Wahl haben wird.» Der Druck aus den USA sei zu gross, Biden habe in seiner Rede am Freitag ein endgültiges «Genug ist genug» formuliert.

Laut Shamir gehen grosse Teile der amerikanischen Regierung davon aus, dass der Gaza-Krieg einen Kulminationspunkt erreicht hat: Israel könne weniger gewinnen als verlieren – etwa das Leben der Geiseln. «Ich glaube, das ist nicht zutreffend», sagt der Sicherheitsexperte. «Die Hamas ist noch stark genug, um sich neu zu gruppieren und wieder eine Gefahr für Israel zu werden.» Sollte die Hamas diesen Krieg überleben, bliebe ein zentrales israelisches Ziel unerreicht.

Auch Nimrod Goren, Leiter der israelischen Denkfabrik Mitvim, ist der Ansicht, dass der von Biden präsentierte Plan eine erneute Machtübernahme der Hamas nicht verhindert. «Es ist eines der grossen Defizite seit Beginn des Kriegs, dass die israelische Regierung keine Alternative zur Hamas gestärkt hat und sich weigert, mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zusammenzuarbeiten», sagt er.

Schon früh hat sich Joe Biden für einen Prozess ausgesprochen, in dem eine «revitalisierte» Autonomiebehörde die Regierungsverantwortung im Gazastreifen übernehmen sollte – ein Prozess, an dessen Ende zwei Staaten im Heiligen Land entstehen, ein palästinensischer und ein israelischer. Das ist jedoch das Albtraumszenario von Netanyahu und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern. Das erkläre zu einem gewissen Grad, warum die Zukunft der Hamas in dem von Biden vorgestellten Vorschlag so vage bleibt, sagt Goren. «Der Plan enthält so viel Ambiguität, damit beide Seiten zustimmen können.»

Das am wenigsten schlechte Szenario

Wie Israel dennoch versucht, die Hamas zu ersetzen, deutete Verteidigungsminister Yoav Gallant am Sonntag an. Israel arbeite daran, eine Alternative zur Hamas-Regierung aufzubauen. «Dies passiert in einem Rahmen, in dem wir Gebiete isolieren, Hamas-Mitglieder entfernen und andere Kräfte hineinbringen, die eine alternative Regierung ermöglichen», sagte Gallant. Laut israelischen Medienberichten wird dieser Ansatz bereits in einigen Gebieten im Norden des Gazastreifens getestet, wo nicht näher spezifizierte Palästinenser unter israelischem Schutz die Verteilung von Hilfsgütern übernehmen.

«Dieser Plan ist vollkommen illusorisch», sagt Michael Milshtein, ehemaliger Leiter der Palästinenserabteilung im israelischen Militärgeheimdienst. «Wer sollen diese mutigen Palästinenser sein, die eine Alternative zur Hamas darstellen? Die gibt es nicht, und falls es sie gäbe, würde die Hamas sie mit aller Brutalität bekämpfen und die Bevölkerung sähe sie als Kollaborateure an», sagt Milshtein. «Momentan gibt es keine Alternative zur Hamas in Gaza, und daran wird sich erst einmal nichts ändern – wenn Israel nicht gewillt ist, den gesamten Gazastreifen permanent zu besetzen.»

Israelische Sicherheitsexperten sind sich einig, dass der Hamas das Überleben geschenkt werden würde, falls die Biden-Initiative umgesetzt würde. Die Terrororganisation mag zwar nicht mehr in der Lage sein, ein Massaker wie jenes vom 7. Oktober zu verüben. Doch der Gazastreifen bliebe unter ihrer Kontrolle. Milshtein plädiert trotzdem für eine Übereinkunft mit den palästinensischen Islamisten.

«Dieses Abkommen ist das am wenigsten schlechte Szenario für Israel», sagt der einstige Geheimdienstler. «Denn wenn wir so weitermachen wie jetzt, führt das zu nichts – weder zur Befreiung der Geiseln noch zur Zerstörung der Hamas.» Mit einer Übereinkunft würde Israel wenigstens die verbleibenden Geiseln zurückholen. «Meiner Ansicht nach ist das ein wahrhaft zionistisches Ziel, das nicht weniger wert ist als die militärischen oder strategischen Kriegsziele.»

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