Freitag, November 15

Es gibt Austern. Und es gibt die Gillardeau. Mit dem charakteristischen G in ihrer harten Schale gilt sie als besonders begehrte Delikatesse und steht für unverwechselbare Qualität.

Vor ein paar Jahren war der Begriff nur den Austern-Aficionados bekannt. Ja, ich gehöre auch zu denen. Als einzige der Welt trägt diese Auster nicht den Namen ihrer Art, sondern jenen des Entwicklers dieses einzigartigen Konzeptes, das hinter dem Wort «Gillardeau» steckt. Natürlich ist auch sie eine bekannte Spezies, es sind ausschliesslich pazifische Felsenaustern (Crassostrea gigas oder Huître Creuse, wie sie auch genannt wird), die das begehrte G auf ihre harte Schale tätowiert bekommen. Ab dann wird sie im Handel und von Liebhabern nur noch ehrfürchtig Gillardeau genannt. Und nicht Belon oder Fine de Claire, wie andere bekannte Arten.

Entdecken Kenner den Namen auf einer Speisekarte, wird der Rest des Angebots plötzlich uninteressant. Da Austern gleich am Anfang des Menus angeboten werden, ist auch mir schon die eine oder andere feine Vorspeise durch die Lappen gegangen, weil ich auf der Stelle ein halbes oder auch ein ganzes Dutzend oder noch mehr bestelle. Mein Rekord steht bei 84 Stück, das war an einem Lunch in Kapstadt, im japanischen Restaurant Willoughby. Keine Gillardeaus (die hätten mich ruiniert), sondern kleinere Westcoast-Austern, aufgewachsen in Sonoma Bay. Irgendwie ass ich mich in einen Rausch hinein. Immerhin einen ohne darauffolgenden Kater.

Sie ist immer von gleich hoher Qualität

Das Besondere an der Gillardeau ist, dass sie sich nicht mit genauen Herkunftsorten brüstet wie die meisten anderen der Schalentiere, etwa Sylter Royal, Kumamoto (Humboldt Bay), Kusshi (British Columbia), Drakes Quechan (Baja California) oder Marin Gem (Tomales Bay), um nur einige zu nennen, wie sie auf Speisekarten angeboten werden. Zurzeit wachsen die Gillardeaus in Irland, der Bretagne, der Normandie, in Südspanien und Portugal auf.

«Wir suchen uns die Aufzuchtbedingungen an verschiedenen Küsten ganz gezielt aus, Wasserqualität, Salzgehalt, Temperatur, Gezeitenunterschiede und die Philosophie der Züchter vor Ort müssen unseren Ansprüchen genau entsprechen», verrät mir Thierry Gillardeau, Eigentümer und Direktor in vierter Generation. «Passt alles, schicken wir die Austern im Larvenstadium an die Produzenten, zusammen mit genauen Direktiven zur Aufzucht. Wir unterstützen dann vor Ort, damit unsere Richtlinien penibel eingehalten werden. Nur so erreichen wir, dass jede Auster, die am Schluss das G auf ihrer Schale trägt, immer von gleich hoher Qualität ist.» Und genau das ist es, was die Liebhaber an ihr schätzen. Man weiss genau, was drin ist, steht das G drauf.

Sie ist in der Regel etwas weniger salzig als die meisten anderen Austern, sie ist ebenmässiger, grösser und fetter als die anderer Produzenten. Die Grösse wird bei Austern mit Zahlen angegeben, ausgehend von der Nr. 1 als grösste, absteigend bis 5 oder 6. Eine Gillardeau Nr. 2, mein Favorit, ist bei anderen Austern eher eine Nr. 1. Man muss sich auch etwas mehr anstrengen, um an das begehrte Innere zu kommen. Ein ausgeklügeltes System von Wechseln vom Meerwasserbassin ins Trockene und zurück trainiert den Schliessreflex der Tiere, so dass sie bis drei Wochen lebend überstehen, ohne dazwischen ins Wasser zurückzumüssen.

«Sie schmecken nach Sommerferien am Meer und ein bisschen nach ungemachtem Bett.»Richard Kägi

Wenn die zurzeit etwa vierzig Millionen Stück im Jahr das Unternehmen an der Brücke zur Île d’Oléron in der Bretagne erreichen, wird jede Charge zuerst auf ihre Qualität überprüft. Das Fleisch soll in der Farbe einen perlmuttähnlichen Schimmer aufweisen und von deliziösem, aber kräftigem Geschmack sein. Nach verschiedenen Reinigungen und Qualitäts-Checks, was Grösse, Beschaffenheit der Schale und Wassergehalt betrifft – das meiste ist Handarbeit –, erhält eine Auster erst das begehrte G.

Produziert wird, was an Bestellungen hereinkommt. Das Unternehmen kann die Nachfrage kaum bewältigen, obwohl seine Austern fast doppelt so viel kosten wie die anderen. «Unsere Familie hat schon vor hundert Jahren aufgehört, Supermärkte zu beliefern. Die wollen nur den Preis drücken, und wir haben keine Kontrolle über deren Handling», so Thierry Gillardeau. Man selektioniere pro Land einen ausgesuchten Importeur, der die Kriterien hinsichtlich Logistik und Kundschaft genau erfüllen müsse. In der Schweiz ist es die Firma Bianchi, welche die Gillardeaus an Top-Restaurants und Delikatessengeschäfte weiterliefert.

«Sie sind noch immer ein Nischenprodukt, aber mit enormem Wachstum. Qualität setzt sich immer durch, trotz oder gerade wegen des hohen Preises», erklärt mir Giulio Bianchi, der Patron. Was die Königin der Austern weiter auszeichnet? Man kann sie das ganze Jahr über in gleichbleibender Qualität geniessen. Früher entwickelten Austern in den warmen Monaten ein milchiges Inneres aufgrund ihres Reproduktionszyklus, wahrlich kein Vergnügen bei ihrem Verzehr. Diese Eigenschaft wurde ihnen mittlerweile fast ganz weggezüchtet. Von daher stammte auch der Hinweis «Austern essen nur in den Monaten mit r». Was natürlich nicht nur mit ihrer Vermehrungsphase zu tun hatte, sondern auch damit, dass es früher keine funktionierenden Kühlketten gab, die den sicheren Transport weit ins Landesinnere während der r-losen Sommermonate garantierte.

Thierry Gillardeau führt uns zu einem Bretterverschlag an der Küste, unweit seines Unternehmens. Es ist keine Restauration in eigentlichem Sinne, hierher kommen Einheimische und Touristen zur Degustation. Klar, ein Glas Sancerre gibt es auch dazu. Ich schaue über das Marschland, die Kraft des Mondes hat das Meer weit ausser Sicht gezogen. Immer wieder bringt mich die wundersame geschmackliche Kraft dieser Austern zum Staunen. Sie schmecken nach Sommerferien am Meer, ein bisschen nach ungemachtem Bett und ein bisschen nach Arznei – dekadent und anrüchig. Und trotz aller Zuchterfolge, ich mag sie am liebsten in der kalten Jahreszeit. Sich diesen Geschmack unter brennender Julisonne vorzustellen, finde ich dégoûtant. Ein kalter, nebliger Dezembervormittag auf dem Trottoir vor einer Pariser Brasserie hingegen? Mehr als convenable.

RICHARD KÄGI ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Austern gehören zu seiner Grundnahrung. Seine Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch. Instagram @richifoodscout

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