Montag, August 11

Das Locarno Film Festival ehrt eine Legende des Action-Genres. Und wagt den Spagat zwischen Kampfkunst und Friedensappell.

Er wird doch nicht etwa auch noch diesen Sprung wagen? Schliesslich ist der Tourist, der an diesem Freitagmorgen auf der Verzasca-Staumauer steht und slapstickartig die Festigkeit des Geländers prüft, für waghalsige Stunts bekannt. Und zufällig anwesende Ausflügler aus der ganzen Schweiz, unter ihnen diverse Kinder, erkennen ihn, sie können es kaum fassen. «Are you . . . ? You are . . . Jackie Chan!»

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Der generationenübergreifende Wiedererkennungswert der inzwischen 71-jährigen Filmlegende ist nach wie vor erstaunlich hoch – das lässt sich besonders schön beobachten in diesem Umfeld, in dem ihn kaum jemand erwarten würde. Er nimmt die Begeisterung lächelnd zur Kenntnis und posiert für Selfies im Akkord, wie er es in den Tagen noch und noch tun wird.

Halsbrecherische Stunts

Vor dreissig Jahren schrieb die über zweihundert Meter hohe Staumauer Kinogeschichte: Hier wurde gefilmt, wie sich James Bond in «Golden Eye» vom Damm einer fiktiven russischen Chemiewaffenfabrik stürzt. Heute erinnert eine Bungee-Jumping-Anlage daran, die schon Tausende genutzt haben. Und Chan?

Sparen wir uns den Cliffhanger. Er wird nicht springen. Dabei pflegt dieser eher schmächtig wirkende Mann für seine Arbeit Kopf, Kragen und Knochen zu riskieren, von denen er fast jeden in seinem Körper schon mehrfach gebrochen haben soll: Chan übernimmt fast alle halsbrecherischen Stunts für seine Rollen selbst.

Die Laufbahn in seiner Heimat Hongkong begann er als Stuntman, dann wurde er zur Martial-Arts-Grösse – und stieg als Regisseur und Darsteller zu einem Superstar des internationalen Actionkinos der achtziger Jahre auf. Er trat dabei weniger in die Fussstapfen von Bruce Lee als vielmehr in jene des von ihm verehrten Buster Keaton: Chan paart Kampfkunst mit Slapstick und hinreissender Choreografie.

Nun erkundet er als Ehrengast des Locarno Film Festival, das sieben Jahre älter ist als er, ganz risikofrei dessen Umgebung. Der Besuch mit seiner Entourage im Verzascatal soll mit einem Grotto-Besuch enden. Und tags darauf nimmt er auf der Piazza Grande den Leoparden für sein Lebenswerk entgegen, das vor 2016 mit dem Oscar gekrönt worden ist.

Der erste Samstagabend des Filmfestivals ist traditionellerweise als der Höhepunkt auf der Piazza angelegt, und diesmal läuft der Kulturtransfer durch den Gotthard in beide Richtungen: Viele sind aus dem Tessin an die Street Parade gereist, vor der umgekehrt so manche aus Zürich nach Locarno geflohen sind. Nach Mitternacht wird Chans «Police Story» (1985) laufen, Hauptfilm aber ist der in Cannes dieses Jahr prämierte «Sentimental Value»: Joachim Triers Psychogramm eines alternden Filmregisseurs und seiner zwei Töchter ist gerade in seiner Unaufgeregtheit so mitreissend, dass es eindeutig zum bisherigen Höhepunkt auf der Piazza wird. Mehrere Weltpremieren der Abende zuvor hingegen, etwa der Eröffnungsfilm «Le Pays d’Arto» der Armenierin Tamara Stepanyan, haben an den Abenden zuvor nicht gerade elektrisiert.

SENTIMENTAL VALUE / VALEUR SENTIMENTALE - Trailer OV/df (2025) Joachim Trier Renate Reinsve

Zunächst aber erscheint Chan zur Preisverleihung auf der Bühne. Er lässt sich im schwarzen Gewand, das an eine priesterliche Soutane erinnert, von der Piazza-Gemeinde feiern. Wie schon bei der Oscar-Verleihung 2016 trägt er zwei Plüschpandas vor sich her. Man kann sie als Nationaltiere Chinas sehen – regelmässig wird ihm eine Nähe zu dessen Regime vorgeworfen – oder als Symbol der friedlichen Diplomatie. Chan selbst hat sich in Interviews schon zum Botschafter der Pandas erklärt, von denen er zwei echte aufgezogen habe.

Ob er just in diesem Jahr der ideale Botschafter für dieses Festival ist? In dieser Ausgabe preisen Rednerinnen und Redner ganz besonders die friedensstiftende Kraft der Filmkunst, und Chan vermöbelt seine Gegner auf der Leinwand im Dutzend. Aber immerhin ist er dabei fast nie der Aggressor, er verteidigt nur sich und das sogenannt Gute. Und seine Kampfkunst wirkt eher tänzerisch als kriegerisch , da mag noch so viel unechtes Blut fliessen. Vor allem aber gehören Spagate zwischen der Tragik des Lebens und der Leichtigkeit der Fiktion zu einem Filmfest.

Der künstlerische Direktor Giona Nazzaro hatte im Vorfeld betont, diese Festival-Ausgabe werde die Weltlage nicht ausblenden. Am Mittwochabend verlas er zur Eröffnung auf der Piazza ein flammendes Votum wider Kriege, die Millionen unschuldiger Menschen beträfen. Im Speziellen prangerte er «die unerträgliche Zerstörung Gazas» an und erwähnte das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das Leid auf der anderen Seite stand auch am folgenden Abend nicht im Zentrum, als im Publikum in einer Schweigeminute Tausende Flugblätter hochgehalten wurden. Eine private Gruppierung hatte sie beim Eingang verteilt, die Vorderseite zeigte eine blutrot eingefärbte Gaze, auf der Rückseite stand: «Entscheiden wir uns für den Frieden, Schluss mit dem Völkermord.»

Von Khan zu Chan

In düsteren Zeiten an die Kraft des Humors zu appellieren, ist eine schwierige und gerade darum wichtige Mission. Nazzaro hatte im Vorfeld versprochen, gerade an der diesjährigen Ausgabe könne man richtig lachen, etwa beim Wettbewerbsbeitrag «Dracula» von Radu Jude. Nun, das rumänische Enfant terrible bietet nebst Blödelei ein paar brillante Einfälle rund um den Einsatz von KI. Über fast drei Filmstunden hinweg, über die das Ganze gedehnt wird, trägt es auf keinen Fall.

Aber über Humor lässt sich streiten. Jedenfalls verloren ihn vorübergehend so manche der zahlenden Gäste, die von einer der raren Pannen dieses bestens organisierten Filmfests betroffen waren: Bei der Vorführung vom Freitag samt Auftritt von Emma Thompson wurden Hunderte Ticketinhaber abgewiesen. Die Piazza sei voll. Statt ihnen an der Kasse ihr Geld zurückzuerstatten, verwies man sie auf die Übertragung in der Fevi-Halle. Das ist, als würde ein Wochenende im Hallenbad als vollwertiger Ersatz für gestrichene Inselferien bezeichnet. Dennoch sollen 750 Personen das Angebot genutzt haben.

Die Festivalleitung sieht den Vorfall nicht als Panne, sondern verweist in einer Stellungnahme darauf, dass die Sicherheit des Publikums oberste Priorität habe. Deshalb sei in den letzten Jahren die offizielle Sitzplatzkapazität der Piazza schrittweise von 8000 auf 6500 reduziert worden. Das erklärt allerdings nicht die massive Überbuchung, die Betroffene mit Buhrufen quittierten. Sie blieben allerdings im Vergleich zu 2019, als vor der Projektion von Quentin Tarantinos «Once upon a Time in . . . Hollywood» einige der paar Dutzend Abgewiesenen fast handgreiflich geworden waren, erstaunlich gelassen.

Jackie Chans Besuch hat also vielleicht sogar eine besänftigende Wirkung. Am Sonntag hat er sich in einem öffentlichen Gespräch vom Publikum verabschiedet, mit Witz und vollem Körpereinsatz. Er wurde nicht so bestürmt wie der Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan vor einem Jahr, aber ob Khan oder Chan: Locarno landet Coups mit asiatischen Legenden.

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